Konträre Freiheitsversprechen und der freie Raum dazwischen

Donnerstag
7. November 2024
20.00 – 21.30 Uhr

Restaurant Weisser Wind, Oberdorfstrasse 20, 8001 Zürich

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    Lic. phil. Franz Derendinger, Germanist und Philosoph, Olten
    In seinem Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" von 2019 zieht Andreas Reckwitz eine Achse, über die sich der kulturelle Paradigmenwechsel der letzten 50 Jahre auf den Punkt bringen lässt. Reckwitz zufolge hat eine "Logik des Singulären" eine "Logik des Allgemeinen" in der Herrschaft über die westlichen Gesellschaften abgelöst. Diese beiden "sozialen Logiken" bilden ein idealtypisches Raster, das den Blick auf die wesentlichen Aspekte des Wandels zu fokussieren erlaubt.
    Mit seiner Hilfe lassen sich im Kern auch die Freiheitsversprechen erfassen, mit denen die je herrschende Logik lockt: Freiheit ist unter beiden Paradigmen nur zu gewinnen durch eine Abwehr gegenüber Impulsen, die für die Befolgung der jeweils unterlegenen Logik sprechen. Wer heute frei sein soll, hat zum Rahmen des Allgemeinen – also gegenüber Tradition, Institutionen oder Konventionen  – auf Distanz zu gehen; Bedürfnisse, die einen dorthin ziehen, finden sich abgewertet, ja stehen quasi unter Tabu. Im bürgerlichen Zeitalter dagegen war die Vorstellung von souveräner Selbstbestimmung an strikte Impulskontrolle gebunden; es galt gerade jene Antriebe abzuwehren, die den Rahmen des Allgemeinen sprengen konnten.
    So muten die Freiheitsversprechen im Zeichen beider Logiken den Menschen eine Spaltung zu, die letztlich ihr Selbstverhältnis genauso vergiftet wie das gesellschaftliche Klima. Hinzu kommt der aktuelle Kulturkampf, in dem konträre Freiheitsversprechen frontal gegeneinander stehen, was zu einer politischen Blockade in den westlichen Demokratien führt. Ein möglicher Ausweg findet sich in der grundsätzlichen Abkehr von idealistisch zugespitzten Freiheitskonzepten und der Rückbesinnung auf die condition humaine: Menschen sind nun mal ebenso Einzel- wie Kulturwesen, befinden sich faktisch immer in einem Dazwischen. Warum sollten wir uns nicht die Freiheit nehmen, auf Selbststeigerung zu verzichten und uns bewusst und ausdrücklich in dieser Grauzone einzurichten?