Wer hat sich nicht auch schon gefragt, ob an dem Spruch "Früher war alles besser" wirklich etwas dran ist? Oder, ob „der Wille des Volkes“ wirklich die Meinung Aller repräsentiert? Diese und weitere Fragen behandelt das philosophische Themendossier "Individualität versus Gemeinschaft".
"Individualität versus Gemeinschaft"
Es dreht sich um die Debatte des Kommunitarismus: Die Hauptsorge der Kommunitaristen (wozu unter anderem die Star-Philosophen Charles Taylor, Michael Sandel oder Amatai Etzioni zählen) ist, dass die meisten Menschen nur noch auf Ihre eigenen Interessen fokussiert sind. Die Kommunitaristen fürchten, dass sich durch diesen sehr populär gewordenen liberalen Individualismus unser Gemeinschaftssinn langsam auflöst. Dies hat zum Beispiel Folgen für unser Verständnis von Demokratie. Anstatt in ihr eine grosse Errungenschaft zu sehen, die ständig neu verteidigt werden muss, wird die Demokratie in der Schweiz oft als selbstverständlich betrachtet. Viele begreifen dabei Politik als Berufsfeld für Spezialisten und nicht als Etwas, das alle Bürgerinnen und Bürger mitgestalten können. Die Kommunitaristen bieten einen Gegenentwurf zu unserer individualisierten Gemeinschaft und zeigen, wie aus einem „Ich“ ein „Wir“ entstehen kann. Ihre Ideen stossen in verschiedenen Lagern auf offene Ohren: So wurden zum Beispiel im angelsächsischen Raum Ende der Neunziger Jahre in der Regierung Tony Blairs oder Bill Clintons Argumente der Kommunitarismusdebatte verwendet. Aber auch die Occupy-Bewegung hat die Ideen von Michael Sandel und Charles Taylor zitiert.
Wer mehr über die Hintergründe und die Entwicklung der Debatte des Kommunitarismus erfahren möchte und verstehen will, wie kommunitaristische Fragen und Ideen unsere Politik und unsere Gesellschaft prägen, dem sei die Lektüre des philosophischen Themendossiers ans warme Herz gelegt.
Links
- Youtube-Video "You don't need to buy this" von Amitai Etzioni
- Youtube-Video "Etzioni on The Spirit of Community"
- Über die Repair-Cafés in Deutschland
- 27.11.12 Michael J. Sandels moralphilosophisches Exerzium. NZZ
- 18.04.12 Ichling im Abschwung. NZZ
Literaturtipps
- Walter Reese-Schäfer
„Kommunitarismus“
Campus Verlag, Frankfurt a. Main 2001. EAN 9783593368320
- Gerhard Gamm
„Philosophie im Zeitalter der Extreme“
Primus Verlag, Darmstadt 2009. ISBN: 978-3-89678-399-8
- Charles Taylor
„Das Unbehagen an der Moderne“
Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt 1995, ISBN: 978-3-518-28778-1
- Micheal Sandel
„Liberalism and the Limits of Justice“
Cambridge University Press, Cambridge 1982. ISBN: 9780521567411
- Will Kymlicka
„Politische Philosophie heute. Eine Einführung“
Campus Verlag, Frankfurt a. Main 1997. EAN: 9783593355092
- Joseph Stiglitz
- "Der Preis der Ungerechtigkeit"
- Siedler Verlag, 2012. ISBN: 978-3-8275-0019-9
ZEIT online schrieb zum Buch: Wir kennen die USA als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und glauben, dass es dort jeder vom Tellerwäscher bis zum Millionär schaffen kann. Doch diese Zeiten sind lange vorbei, sagt der linke Ökonom Joseph Stiglitz. Denn ein Prozent an der Spitze der USA besitzt fast die Hälfte des gesamten privaten Vermögens – und die restlichen 99 Prozent müssen den Rest unter sich aufteilen. Dadurch häufen immer weniger Menschen immer größeren Reichtum an, die Zahl der Armen steigt und die Mittelschicht rutscht ab. Den amerikanischen Traum gibt es längst nicht mehr, und die kapitalismuskritische Occupy-Bewegung bringt das Dilemma auf den Punkt mit dem Kampfruf: „Wir sind die 99 Prozent“. Abgesehen von der großen Ungerechtigkeit, die Stiglitz bekämpfen will, erklärt er in seinem Buch die Ursachen, denn: „Die Ungleichheit in den USA ist nicht vom Himmel gefallen. Sie wurde gemacht.“ Der Wirtschaftsprofessor belegt, wie das oberste Prozent seine Macht mithilfe von Lobbyismus, den Ausbau von Monopolen und Beeinflussung von Politik und Justiz nutzt, um immer mehr Geld, Macht und Einfluss zu erlangen. Die Gewinner in diesem System sind die Konzerne, Banken und Versicherungen, die das Geld unter sich aufteilen. Wenn sie spenden, dann für den Wahlkampf, um Einfluss auf die Politik zu nehmen: „Wenn eine Interessengruppe zu viel Macht in den Händen hält, dann schafft sie es, eine Politik zu erreichen, die ihr selbst dient und nicht der Gesellschaft als Ganzes.“