Susanne Schmetkamp von der Universität Basel beantwortete die Frage:
Warum gehen wir ins Kino? (Artikel online)
Zugegeben, das ist eine Frage, die einem Aufsatz eines der ersten Filmtheoretiker entlehnt ist: Hugo Münsterberg schrieb bereits 1916 einen Essay mit dem Titel «Why we go to the Movies». Zwei seiner Antworten lauten, dass wir, erstens, unterhalten werden wollen und, zweitens, über Kamera und Kadrierung etwas über psychologische Mechanismen des menschlichen Geistes erfahren. Inzwischen aber gibt es wohl so viele Antworten wie Jahre seitdem vergangen sind.
Zugegeben sei auch, dass es sich dabei auf den ersten Blick nicht um eine «ganz grosse Frage» handeln mag. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber doch zweierlei: Erstens: Auch diese Frage kann – wie so beinahe alle grossen philosophischen Fragen – bis in die Antike zurückverfolgt werden. Sie wurde im Grunde also nicht erst gestellt, als die Bilder laufen lernten, sondern in anderer Weise auch schon zuvor (man denke an Platons Höhlengleichnis oder Aristoteles‘ Tragödientheorie). Zweitens berührt die Frage einige andere grossen Fragen wie etwa: Was ist Erkenntnis? Was ist Fiktion? Was sind Gefühle?
Erkenntnis und Gefühl
An zweien dieser Eckpunkte – nämlich Erkenntnis und Gefühl – möchte ich den folgenden Text aufspannen. Vorab sei bemerkt, dass es sich, bei aller Möglichkeit der Rückendeckung bis Platon und Aristoteles, um ein sehr junges, man könnte fast sagen: trendiges Themengebiet innerhalb der Philosophie handelt. Zusammen mit dem Thema Literatur (sowie Musik, Tanz, Theater und Kunst im Allgemeinen) erlebt der Film, der bislang vor allem in den Filmwissenschaften und dort vor dem Hintergrund der französischen, insbesondere psychoanalytischen Philosophie behandelt wurde, in den vergangenen zehn bis 15 Jahren eine enorme Konjunktur auch in der angloamerikanischen, analytisch geprägten Philosophie.
Warum also gehen wir ins Kino? Wir gehen vielleicht ins Kino, weil wir die Leinwandästhetik schätzen. Oder weil wir es geniessen, mit anderen einen Film gemeinsam zu schauen. Oder weil wir in andere Welten eintauchen wollen. Man könnte die Frage modifizieren und danach fragen, warum wir überhaupt Film schauen (nicht bloss im Kino) oder warum wir uns mit Fiktionen befassen, wenn wir den Film für einmal auf den fiktionalen Bereich beschränken wollen.
Gefallen ohne Begriff
So komme ich zum ersten Eckpunkt: Eine derzeit prominente These lautet, dass Kunst und Fiktionen – zum Beispiel literarische und filmische – eine besondere Art der Erkenntnis liefern, die sich nicht mit propositionalem Wissen deckt. Propositionales Wissen ist etwa: 1 + 1 = 2 oder «Es regnet» oder «Wenn es schneit, wird die Wiese weiss». Es ist ein «Wissen, dass etwas der Fall ist». Nicht-propositionales Wissen oder Erkenntnis hingegen, wie wir sie in der ästhetischen Erfahrung erlangen können, sind nicht in eine solche Aussageform zu bringen.
Wenn ich also jemanden frage, ob der Film «Das weisse Band» von Michael Haneke gut ist, so könnte er mir zwar sagen, was den Film formal und inhaltlich gelingen lässt. Aber er könnte nicht auf den Begriff bringen, wie er den Film als Ganzes erfahren hat und was daran das Besondere war; er würde wohl am Ende sagen: «Du musst ihn dir schon selbst anschauen.» So ähnlich galt auch bereits bei Kant die Formel: Das Ästhetische gefällt «ohne Begriff». Es ist nicht auf etwas Bestimmtes (zum Beispiel eine bestimmte Bedeutung) reduzierbar.
Kann man trotzdem von Erkenntnis sprechen? Unter anderem verweist das Besondere auf etwas Allgemeines. Literatur, Filme und andere Kunstformen können es schaffen, dass wir die Welt in neuem Licht sehen, dass wir unsere Perspektiven ändern oder dass wir wissen «wie» sich etwas für jemanden darstellt – «wie» es sich zum Beispiel für eine fiktive Figur wie Anna Karenina anfühlt, einsam zu sein und was Einsamkeit also bedeuten könnte. Nicht-propositionales Wissen wird aus diesem Grund auch «Wissen wie» genannt. Über Fiktionen entfernen wir uns nach dieser Lesart nicht von der wirklichen Welt und tauchen in Abbildwelten ein, die nichts mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit zu tun hätten, wie es bei Platon kritisiert wird, sondern wir können das, was wir lesen oder sehen in Bezug zu unserer Welt setzen und diese neu betrachten. Auch dies ist eine Form der Erkenntnis.
Alle Sinne ansprechen
Gefühle spielen dabei, so der zweite Eckpunkt, eine Rolle. Gerade beim Film ist es augenscheinlich, dass wir auf verschiedensten, auf formalen wie narrativen Ebenen affektiv berührt werden. Nicht alles davon ist erkenntnisgenerierend: Als Zuschauer reagiert man stellenweise instinktiv oder reflexartig, zum Beispiel mit Ekel oder Erschrecken, ohne dabei kognitiv oder reflektierend aktiv zu sein. Auf Bild-, Ton- und Musikebene hat der Film sehr viele Mittel, Emotionen und Affekte hervorzurufen, manches Mal nur aus Effekthascherei. Es gibt aber komplexere Gefühle und gefühlsähnliche Einstellungen wie etwa das empathische Hineinversetzen in eine Figur oder das sympathetische Mitgehen: Wenn wir mit einem Charakter leiden oder uns um eine Figur sorgen.
Das Besondere am Film ist, dass er verschiedene Sinne anspricht: Den Seh- und den Hörsinn, die kinästetische Wahrnehmung, gegebenenfalls auch den Tast- und Geruchssinn und zwar über eine synästhetische Verbindung. Über formale und expressive Mittel werden nicht nur Gefühle, sondern auch Stimmungen evoziert, die ebenfalls eine kognitive Funktion haben können. Die Philosophie beschreibt nun nicht, dass dies so ist, sondern fragt danach, welchen Wert es hat, dass der Film (bzw. Fiktionen im Allgemeinen) in uns Gefühle und Stimmungen auslösen. Eine zentrale These lautet, dass wir darüber neue Gefühle kennen lernen, eigene kultivieren und transformieren und dadurch auch etwas über uns selbst und das Fremdverstehen anderer Lebewesen lernen können. Diese Erfahrung ist unersetzbar: Wir lernen nicht das gleiche und von gleichem Wert, wenn wir nur eine Kritik oder Zusammenfassung eines Films oder Romans lesen.
Besondere Erfahrung
Warum gehen wir also ins Kino (und wir könnten hinzufügen: Gehen ins Theater, lesen Romane)? Weil wir die besondere Erfahrung schätzen, unsere Vorstellungskraft angeregt, das reflektierende «Spiel der Erkenntniskräfte» in Gang gesetzt werden. Weil wir etwas über andere, deren Dasein, Denken und Fühlen, das wir bislang so nicht kannten oder das wir persönlich anders erfahren haben und das wir im wirklichen Leben nur mit engen Freunden, weniger aber mit völlig Fremden aus anderen Kontexten teilen können.
Freilich hat gerade die Geschichte des Films gelehrt: Gefühle können manipuliert und korrumpiert werden. Film kann auch Macht ausüben. Welche Filme sollte man also schauen? Aber damit wären wir wieder bei einer nächsten grossen Frage.