Michael Kühler von der Universität Bern beantwortete die Frage: Gibt es den freien Willen?
Ob wir Menschen über einen freien Willen verfügen, ist eine alte und noch immer überaus umstrittene Frage. Wie üblich in der Philosophie scheiden sich die Geister bereits am Verständnis der in der Frage enthaltenen Begriffe. Was genau meinen wir eigentlich, wenn wir vom freien Willen sprechen? Denn erst wenn hierüber Klarheit herrscht, lässt sich offenbar sinnvoll fragen, ob ein solcher freier Wille nun existiert und wir gegebenenfalls über ihn verfügen. Andernfalls wüssten wir nicht einmal, wonach gefragt ist. Auch die in jüngerer Zeit publik gemachten und immer weiter voranschreitenden neurowissenschaftlichen Erkenntnisse helfen uns deshalb für sich allein genommen nicht entscheidend weiter. Zusätzlich verkompliziert wird die Lage durch den Umstand, dass über die begriffliche Bedeutung von Willensfreiheit keineswegs Einigkeit herrscht. Vielmehr ist – wie einmal mehr üblich in der Philosophie – außerordentlich umstritten, wie wir den Begriff der Willensfreiheit verstehen sollten, welches also ein brauchbarer oder sinnvoller Begriff von Willensfreiheit ist.
Die philosophische Debatte um das Verständnis und die Existenz von Willensfreiheit hat sich nicht zuletzt an der Frage entzündet, ob eine – wie auch immer näher definierte – Freiheit des Willens verträglich mit der Annahme des Determinismus ist, d.h. mit der Vorstellung, dass der Verlauf der Ereignisse in der Welt auf der Basis der Naturgesetze kausal festgelegt ist. Denn wie könnten wir willensfrei sein, wenn der Verlauf der Ereignisse und damit auch der Verlauf unserer Willensbildung nicht anders sein kann, als er nun einmal determiniert ist?
Dass Willensfreiheit mit dem Determinismus unverträglich ist, ist die Kernthese des Inkompatibilismus. Wenn die Geschehnisse der Welt, inklusive der Vorgänge im Gehirn, rein kausal nach Naturgesetzen ablaufen, so kann es demzufolge keine Willensfreiheit geben. Allerdings liegt diesem Inkompatibilismus ein Verständnis von Willensfreiheit zugrunde, das diese Unverträglichkeit unausweichlich macht. Diesem Verständnis zufolge bedeutet über einen freien Willen zu verfügen, zwischen alternativen, gleichermaßen offenstehenden Optionen wählen zu können, d.h. unter ein und denselben Bedingungen den einen oder anderen Willen ausbilden und sich für die eine oder andere Option entscheiden zu können. Kurz: Willensfreiheit schließt ein Anderskönnen ein. Dies ist der Grund, weshalb ein solches Verständnis von Willensfreiheit innerhalb einer deterministischen Weltauffassung, die ausschließlich einen einzigen und zumal determinierten Weltverlauf kennt, unmöglich ist.
Auch wenn wir ein solches Verständnis von Willensfreiheit im Alltag häufig, zum Teil sicher unbewusst, voraussetzen, ist doch zu fragen, ob wir Willensfreiheit tatsächlich so verstehen sollten. Denn wenn unsere Entscheidungen unter exakt denselben Bedingungen so oder anders ausfallen können, dann sind sie letztlich offenbar Produkte des Zufalls und liegen nicht an uns selbst. Wenn es hingegen an uns selbst liegen soll, wie wir uns entscheiden, dann müssen für unterschiedliche Entscheidungen auch unterschiedliche, uns betreffende (kausale) Vorbedingungen gegeben sein, z.B. Unterschiede in unserem Charakter, in unseren Wünschen, Einstellungen oder Vorlieben. Worum es uns im Verständnis der Rede von einem freien Willen demnach in erster Linie gehen sollte, ist Selbstbestimmung.
Hier setzen kompatibilistische Positionen an, die ein Verständnis von Willensfreiheit zu formulieren suchen, das nicht nur mit dem Determinismus ausdrücklich vereinbar, d.h. eben kompatibel, ist, sondern auch der Idee Rechnung trägt, dass es an uns selbst liegt, wie wir unseren Willen ausbilden und uns entscheiden. So können wir kompatibilistischen Überlegungen zufolge getrost auf die Bedingung des Anderskönnens verzichten, weil sie für die Idee der Selbstbestimmung gar nicht zentral ist. Beispielsweise kann ich durchaus selbstbestimmt in einem verschlossenen Raum sitzen, wenn ich ausdrücklich in diesem Raum sitzen will und keinerlei Wunsch hege hinauszugehen. Dass ich den Raum nicht verlassen kann, hindert uns in diesem Fall nicht daran zu sagen, dass ich frei bin, genau das zu tun, was ich will. Entscheidend für die Freiheit des Willens ist damit nicht, dass uns Alternativen offenstehen, sondern der Umstand, dass es unser eigener Wille ist, d.h. dass sich die Willensbildung Faktoren verdankt, die wir uns selbst als Autoren des Willens zuschreiben können. Einen solchen selbstbestimmten Willen kann es auch in einer deterministischen Welt geben, und wir können durchaus annehmen, dass wir über einen in diesem Sinne freien Willen verfügen.
Allerdings sei abschließend angemerkt, dass die philosophische Debatte um das Verständnis und die Existenz von Willensfreiheit selbstverständlich weitaus komplexer ist, als es diese knappen Hinweise suggerieren. So ist etwa sehr wohl umstritten, ob das zuletzt skizzierte kompatibilistische Verständnis von Willensfreiheit im Sinne von Selbstbestimmung tatsächlich in allen Details überzeugend ist oder ob nicht doch auf inkompatibilistische Annahmen zurückgegriffen werden muss. Wie sinnvoll erscheint es beispielsweise, kausal-deterministisch geprägte Vorbedingungen uns selbst als Autoren unserer Willensbildung zuzuschreiben? Auch der Begriff der Selbstbestimmung entpuppt sich somit als umstritten, und es stellt sich auch hier die Frage, wie wir ihn sinnvollerweise verstehen sollten.
Angesichts all dessen ist jedenfalls nicht zu erwarten, dass der alte philosophische Streit um das Verständnis der Freiheit des Willens – der jeglichen empirischen und neurowissenschaftlichen Überprüfungen der Existenz „der“ Willensfreiheit vorauszugehen hat –, in Kürze gelöst sein wird.