Wann ist eine Theorie korrekt?

Korrekte Prognosen sind jedenfalls kein hinreichender Beleg für die Wahrheit einer Theorie, denn es gibt mehrere Beispiele von Theorien, die über Jahrhunderte korrekte Prognosen ergaben, und sich trotzdem als falsch erwiesen haben.

    Die Frage von Alexander Janke

    Wenn wir eine Theorie entwickeln oder eine These aufstellen im Bereich der Naturwissenschaften, dann halten wir sie für wahr, wenn das, was wir erwarten, auch eintrifft:

    Ich lasse einen Stein in der Luft los, nehme an, dass er zu Boden fällt, und er tut es. Folglich stimmt meine These/Theorie, in diesem Fall von der Gravitation.

    Ich schließe Elektrodenzeugs an den Kopf des Probanden an, beobachte bunte Farben auf einem Bildschirm und sage korrekt voraus, dass er eine bestimmte Entscheidung treffen wird (teilweise sogar, bevor er diese Entscheidung trifft). Folglich stimmt – scheinbar – meine Theorie vom determinierten Willen.

    In beiden Fällen jedoch haben wir immer nur eine bisherige (maximal) 100%ige Prognostizierbarkeit beobachten können. Wie kann man von einer bisherigen Prognostizierbarkeit darauf schließen, dass die jeweiligen Dinge – Ball und Mensch – sich so verhalten MÜSSEN, wie sie es getan haben? Inwiefern sind wir berechtigt, nicht einfach nur Verhaltensroutinen anzunehmen, sondern „Gesetze“ unter denen die Dinge stehen?

     

    Die Antwort von Flavio Carrera

    Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, möchte ich zunächst sicherstellen, ob ich Sie richtig verstanden habe. Sie gehen von folgender Annahme aus:

    (1) In den Naturwissenschaften halten wir Theorien so lange für wahr, als die Prognosen eintreffen, die sich aus den Theorien ableiten lassen

    Aufgrund von dieser Annahme, stellen Sie dann die folgende Frage:

    (2) Ist es gerechtfertigt, dass wir, wenn eine Theorie korrekte Prognosen macht, darauf schliessen, dass diese Theorie wahr ist?

    Diese Frage gehört zur Wissenschaftstheorie, einem Teilbereich der theoretischen Philosophie. Und wie die meisten philosophischen Fragen, ist auch sie alles andere als einfach zu beantworten. Wir können jedoch versuchen, ein wenig Ordnung zu schaffen, indem wir das Thema philosophisch ausleuchten.

    Daher nachfolgend ein paar lose (und hoffentlich klärende) Gedanken:

    Bezüglich Ihrer Annahme (1):

    Ihre Annahme liesse sich grundsätzlich empirisch überprüfen. Man könnte eine wissenschaftshistorische Untersuchung an den wichtigsten naturwissenschaftlichen Theorien durchführen, sodass man feststellen könnte, ob in der Vergangenheit tatsächlich diejenigen Theorien für wahr gehalten wurden, die korrekte Prognosen machten. Ich bin aber überzeugt, dass dies nicht immer das einzige und/oder das wichtigste Kriterium gewesen ist. Mir fällt spontan die Geschichte um die Entdeckung des Planeten Neptun als Gegenbeispiel ein. Newtons Gravitationstheorie versagte in der Prognose der korrekten Position von Uranus. Deshalb verwarf man die Gravitationstheorie Newtons aber nicht, sondern suchte bewusst nach Ursachen für die Abweichungen. Zum Beispiel suchte man nach einem noch unbekannten Himmelskörper, der die Umlaufbahn von Uranus beeinflussen könnte. Und dabei stiess man auf Neptun. (Im Detail nachzulesen hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Discovery_of_Neptune) Wir können Newtons Gravitationstheorie also als Beispiel einer Theorie aufführen, die falsche Prognosen machte und trotzdem bestehen blieb.

    Vermutlich sind in der Regel ein Bündel von Eigenschaften notwendig, damit eine wissenschaftliche Gemeinschaft eine Theorie für wahr hält. Ein solches alternatives Kriterium zu korrekten Prognosen könnte beispielsweise Sparsamkeit sein. Man zieht eine Theorien einer anderen vor, wenn sie ein Phänomen erklären kann und zugleich mit weniger Annahmen auskommt. Als Beispiel hierzu könnte man Darwins Evolutionstheorie aufführen, die sich gegenüber der Schöpfungs“theorie“ vor allem dadurch auszeichnete, dass sie von wenigen, plausiblen, auf natürlichen Prozessen beruhenden Grundannahmen ausging, während die Schöpfungs“theorie“ komplizierte, metaphysische und unplausible (oder zumindest schwer verständliche) Annahmen bedingt. Mit der Annahme einer gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen und dem Mechanismus der natürlicher Selektion konnte Darwin die Vielfalt auf Erden, die meisten morphologische Eigenheiten von Organismen, sowie auch die Verbreitung der Lebewesen, Fossilienfunde und vieles mehr erklären.

    Zu Ihrer Frage (2):

    Sie fragen, ob es gerechtfertigt ist, aus dem Umstand, dass eine Theorie korrekte Prognosen macht, auf deren Wahrheit zu schliessen. Das gewichtigste Problem hier ist, meines Erachtens, dass man sowieso nie wissen kann, ob eine Theorie wahr ist, denn Theorien basieren auf allgemeinen Aussagen und allgemeine Aussagen sind nicht verifizierbar (Siehe hierzu: Verifikationsproblem, Induktionsproblem, Falsifikationismus). Das heisst, man kann allgemeine Aussagen auf noch so viele Einzelbeobachtungen stützen, Gewissheit erlangt man trotzdem nicht. Der Schweizer Schriftsteller und Philosophe Rolf Dobelli hat zu diesem Problem ein witziges Beispiel kreiert: „Ich habe soeben eine gründliche statistische Untersuchung meines Lebens durchgeführt. 48 Jahre lang – bei fast 17’000 Beobachtungspunkten – bin ich kein einziges Mal gestorben. Daher kann ich mich mit einem hohen Grad statistischer Signifikanz für unsterblich erklären.“

    Wir können also nie wissen, ob eine Theorie der Wahrheit entspricht oder nicht. Allerdings ist es trotzdem sinnvoll, Kriterien dafür zu erschaffen, wann wir eine Theorie für Wahr halten. Ob man hier aber einen Anforderungskatalog ausarbeiten kann, der für alle Naturwissenschaften gilt, wage ich zu bezweifeln. Eine wichtige Rolle spielt sicherlich die wissenschaftliche Gemeinschaft (Siehe hierzu: Thomas Kuhn – The Structure of Scientific Revolutions).

    Korrekte Prognosen sind jedenfalls kein hinreichender Beleg für die Wahrheit einer Theorie, denn es gibt mehrere Beispiele von Theorien, die über Jahrhunderte korrekte Prognosen machten, und sich trotzdem als falsch erwiesen haben. Man denke nur an das ptolemäische Weltbild, das zeitweise mathematisch so ausgefeilt war, dass es die Planetenkonstellationen sogar besser prognostizierte, als es das kopernikanische System tat. nichtsdestotrotz ging es von einer falschen Grundannahme aus, nämlich, dass die Erde im Zentrum des Universums steht.

     

    Sie interessiert, weshalb der von Alexander Janke angesprochene "freie Wille" undenkbar ist?

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