I. Engel fragt: "Gibt es Leben ausserhalb der Erde? Und was hat das mit Philosophie zu tun?"
Claus Beisbart antwortet:
Sind wir allein im Universum? Oder gibt es irgendwo im All andere Lebewesen, vielleicht sogar intelligente? Diese Fragen faszinieren uns Menschen schon lange und beflügeln unsere Fantasie. Unzählige Romane, Filme und Fernsehserien wie „Star Trek“ thematisieren die Begegnung mit Ausserirdischen. Aber natürlich lässt sich die Frage, ob es ausserirdisches Leben gibt, nicht in Romanform beantworten. Science-Fiction ist und bleibt Fiktion.
Doch in den letzten Jahren wird die Frage auch ernsthaft in den Wissenschaften behandelt. Denn im Jahr 1995 wurden erstmals Planeten ausserhalb unseres Sonnensystems entdeckt. Heute geht die Astronomie davon aus, dass sehr viele Sterne von Planeten umgeben sind, welche der Erde ziemlich ähnlich sind. Man fragt sich daher: Sind diese Planeten bewohnbar? Und werden sie vielleicht sogar tatsächlich von Lebewesen bewohnt? Damit steht die Suche nach ausserirdischem Leben auf der Tagesordnung der Wissenschaften. Inzwischen gibt es innerhalb der Biologie ein eigenes Fach, das sich mit ausserirdischem Leben beschäftigt: die Exobiologie.
In der Exobiologie und in verwandten Fächern sucht man nach ausserirdischem Leben, indem man sich auf die Sinneserfahrung beruft. Man versucht etwa, auf der Basis von Beobachtungen herauszufinden, ob Planeten ausserhalb des Sonnensystems bewohnbar sind. Natürlich können wir nicht direkt sehen, ob ein Planet die Heimat von Lebewesen sein kann. Wir können aber hoffen, mithilfe von Teleskopen indirekte Hinweise darauf zu bekommen. Besonders spektakulär wären natürlich Indizien darauf, dass ein Planet wirklich bewohnt ist.
Die Suche nach ausserirdischem Leben scheint also vor allem eine Sache von Beobachtungen zu sein, wie man sie in den Naturwissenschaften anstellt. Andere Wissenschaften, die keine Beobachtungen anstellen, wie die Philosophie, können dazu keinen Beitrag leisten. So wenigstens sieht es auf den ersten Blick aus. Denn wir wollen ja wissen, ob es ausserirdisches Leben wirklich gibt, und uns nicht nur in Fantasien oder Spekulationen darüber ergehen.
Aber die Sache ist nicht so einfach. In der Tat interessiert man sich auch in der Philosophie für ausserirdisches Leben. Der wichtigste Beitrag, den die Philosophie heute bei der Suche nach ausserirdischem Leben leistet, besteht darin, eine ganz einfache Frage zu stellen: Was ist eigentlich Leben?
Diese Frage ist typisch philosophisch. Schon im antiken Athen, ca. 400 v. Chr., stellte Sokrates ähnliche Fragen. Leute, die tapfer sein wollten, fragte er: „Was ist Tapferkeit?“ Damit brachte er seine Gesprächspartner ziemlich durcheinander. Berühmte Zeitgenossen von Sokrates erwiesen sich als unfähig, ihm zu antworten.
Die sokratische „Was ist?“-Frage bohrt tiefer, als wir im Alltag denken. Sie will zu dem gelangen, was eine Sache ausmacht. In Bezug auf das Leben zielt sie auf die wesentlichen Eigenschaften von Leben: Wann genau kann man sagen, dass etwas lebt? Diese Frage ist enorm wichtig, wenn wir nach ausserirdischem Leben suchen. Dennwie können wir Leben auf anderen Planeten nachweisen, ohne zu wissen, was Leben ist? Was erwarten wir eigentlich, wenn wir Leben finden wollen: kleine grüne menschenähnliche Gestalten, pulsierenden Schlamm oder etwas ganz anderes?
Diese Frage ist sogar schon dann relevant, wenn man sich für die blosse Bewohnbarkeit von Planeten interessiert. Denn wie kann man nachweisen, dass ein Planet bewohnbar ist? Nun, ein Planet ist bewohnbar, wenn sich dort Leben entwickeln kann. Aber was braucht es dazu? Welche Temperaturen müssen auf der Oberfläche herrschen, damit es Leben geben kann? Muss es dazu Sauerstoff in der Atmosphäre geben? Die Antworten hängen davon ab, was Leben ist.
Nun könnte man sagen, dass wir doch bereits wissen, was Leben ist. Schliesslich kennen wir auf unserem Planeten viele unterschiedliche Lebensformen: Pilze, Bäume, Säugetiere, Fische … In der Biologie werden sie beschrieben. Man könnte daher sagen: Was allen bekannten Lebewesen gemeinsam ist, macht das Leben aus. Aber das ist zu einfach gedacht, und zwar aus zwei Gründen. Denn wer sagt uns erstens, dass es auf anderen Planeten nicht ganz andere Lebensformen gibt? Im Science-Fiktion-Roman „Solaris“ von Stanislaw Lem geht es etwa um einen Ozean, der so eigenartige Muster an seiner Oberfläche hervorbringt, dass man sich fragt, ob er lebt und intelligent ist. Es wäre provinziell zu denken, alles Leben im Universum müsse so beschaffen sein wie hier auf Erden. Das gilt insbesondere deshalb, weil man heute in der Biologie davon ausgeht, dass alles Leben auf der Erde einen gemeinsamen Ursprung hat und daher letztlich verwandt miteinander ist.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir die Frage nach dem Leben nicht einfach auf der Basis der bisherigen Biologie beantworten können: Selbst in Anbetracht des Lebens auf unseren Planeten wissen wir nämlich nicht so recht, was Leben ist. Wir kennen zwar viele Beispiele von Leben, aber wir wissen nicht, was sie gemeinsam haben. Was verbindet Pantoffeltierchen, Champignons und Schildkröten, nicht aber leblose Materie? Es hat zwar immer wieder Versuche gegeben, mithilfe von allgemeinen Merkmalen zu bestimmen, was Leben ist. So wurde vorgeschlagen, dass sich Lebewesen durch Wachstum, Stoffwechsel oder Fortpflanzung auszeichnen. Doch keiner dieser Versuche hat sich durchgesetzt. Denn wachsen kann zum Beispiel auch ein Kristall, aber deswegen ist er noch kein Lebewesen.
Wir wissen also noch nicht, was Leben ist. Und wir können die Antwort auch nicht einfach aus Beobachtungen ablesen; denn was sollen wir beobachten, wenn wir gar nicht genau wissen, was uns eigentlich interessiert? Wir müssen folglich darüber nachdenken, was Leben ist. Dieses Nachdenken gehört zu den Aufgaben der Philosophie.
Wie versucht man nun in der Philosophie herauszufinden, was Leben ist und auf was wir achten müssen, wenn wir ausserirdisches Leben suchen? Nun, man überlegt sich zum Beispiel, warum wir bestimmte Wesen spontan als Lebewesen bezeichnen und andere nicht. Man versucht dann zu erklären, wie wir zu diesen Einschätzungen kommen. Es wird auch untersucht, wie wir vernünftig mit sogenannten Grenzfällen umgehen, die manchen Menschen als Beispiele für Leben gelten, anderen hingegen nicht. So wurde gelegentlich behauptet, Computermodelle wie das sog. „game of life“ lebten. Nach der sogenannten Gaia-Hypothese ist unser Planet mit seiner Biosphäre ein eigenständiges Lebewesen. In der Philosophie untersucht man, warum diese Grenzfälle so kontrovers sind. Natürlich gilt es dabei auch, die neuesten Erkenntnisse aus der Biologie in Betracht zu ziehen. Letztlich geht es darum, Leben so zu denken, dass wir der Komplexität der Phänomene, Erkenntnissen der Biologie und dem Wert des Lebens gerecht werden.
Die Frage, was Leben ist, wurde bisher noch nicht abschliessend beantwortet. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass es bei dieser Frage implizit auch um uns selbst geht, denn wir gehören ja selbst zu den Lebewesen. Es gibt aber durchaus interessante Vorschläge: Einige Stimmen behaupten heute, dass sich Lebewesen durch eine besondere Autonomie auszeichnen. Andere sind der Meinung, dass sich Leben in einer besonderen Weise organisiert. Damit folgen sie einem Vorschlag, den der Philosoph Immanuel Kant schon im 18. Jahrhundert vertrat. Es gibt auch skeptische Stimmen, denen zufolge uns heute einfach noch das nötige Fachwissen fehlt, um zu verstehen, was Leben ist. In der Physik brauchte man schliesslich auch viele Beobachtungen und komplexe Theorien, um z.B. einigermassen zu verstehen, was eine Kraft ist. Analog könnte es sein, dass wir noch mehr biologische Theorien entwickeln müssen, um das Leben zu verstehen.
Wenn irgendwann einmal Leben auf einem fernen Planeten nachgewiesen wird, dann wird die Entdeckung wohl in der Exobiologie oder Astronomie erfolgen. Forschende aus diesen Fächern werden uns Bilder zeigen und sagen, dass diese eindeutig auf Leben hinweisen. Sie werden dafür den Nobelpreis bekommen, und keine Philosophin und kein Philosoph wird mit auf dem Podest stehen. Dennoch leistet die Philosophie ihren Beitrag zur Suche nach dem ausserirdischen Leben. Denn sie hilft uns herauszufinden, wonach wir eigentlich suchen.