Der Mensch. Das Wesen, das im Fliegen eine warme Mahlzeit zu sich nehmen kann

Laut Immanuel Kant (1800) laufen alle Hauptfragen der Philosophie letztlich auf die Frage hinaus:
Was ist der Mensch?
Das ist sicherlich eine Übertreibung. Aber das Streben nach Selbsterkenntnis ist ein zentrales Motiv der Philosophie.

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    1. Anthropologie

    Laut Immanuel Kant (1800) laufen alle Hauptfragen der Philosophie letztlich auf die Frage hinaus: Was ist der Mensch? Das ist sicherlich eine Übertreibung. Aber das Streben nach Selbsterkenntnis ist ein zentrales Motiv der Philosophie. Daraus ergeben sich Fragen wie: Was ist die Natur des Menschen? Was ist seine Stellung im Universum? David Hume (1740) behandelte solche Fragen unter dem Titel science of human nature. Aber die wissenschaftliche Erforschung des Menschen und seiner Natur wird seit dem 16. Jhdt. zunehmend als „Anthropologie“ bezeichnet. Max Scheler unterschied 1928 verschiedene Arten von Anthropologie:

    • theologisch
    • (natur-)wissenschaftlich
    • philosophisch.

    In einem engen Sinn bezeichnet „philosophische Anthropologie“ (PA) eine von Scheler begründete und von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen fortgeführte Bewegung. Diese setzte sich zur Aufgabe, wissenschaftliche Befunde die menschliche Natur betreffend zu interpretieren und synthetisieren. In einem weiten Sinn ist PA jede philosophische (im Gegensatz zu theologischer, einzelwissenschaftlicher oder künstlerischer) Reflexion auf die Natur des Menschen.  

    1. Zwei zentrale Themen der Anthropologie

    Die Anthropologie, gleich ob theologisch, naturwissenschaftlich oder philosophisch, hat sich traditionell mit zwei Themen besonders intensiv auseinandergesetzt.

    • anthropologischen Konstanten oder Universalien:

    Gibt es Eigenschaften, die alle („normalen“) Menschen teilen (müssen), unabhängig von individuellen oder gesellschaftlichen Eigenheiten?

    • Mensch-Tier oder anthropologischen Differenz:

    Gibt es Eigenschaften, die nur Menschen zukommen (können), aber keinem nicht-menschlichen Tier?  

    1. Die Anthropologische Differenz nach Loriot

    Nun gibt es unbestreitbare anthropologische Universalien: alle Menschen sind z.B. biologisch betrachtet Tiere—das ist es, was uns mit den Tieren verbindet. Es fällt aber auch nicht schwer, Eigenheiten des Menschen anzugeben, die ihn von allen anderen Tieren unterscheiden—‚There is nothing special about being special!’. So hat der grosse Loriot treffend bemerkt: „Der Mensch ist das einzige Wesen, das im Fliegen eine warme Mahlzeit zu sich nehmen kann.“ 

    1. Eine Differenz der besonderen Art

    Wer sich für eine AD interessiert, wird sich jedoch mit dieser Antwort schwerlich zufrieden geben. Denn die Anthropologischen Differenz sollte eine Eigenschaft von Homo sapiens sein die

    1. uns qualitativ kategorial von allen anderen Tieren unterscheiden;
    2. wichtig ist für unser Selbstverständnis, z.B. moralischen Status betreffend;
    3. fundamental ist, insofern sich (alle) andere(n) (relevanten) Unterschiede aus ihr ableiten lassen.
    1. Kumulative kulturelle Evolution und ihre Voraussetzungen

    In der Geschichte der Anthropologie finden sich einige Vorschläge, welche die Bedingungen (a) – (c) zu erfüllen scheinen. In grober chronologischer Reihenfolge:

    • eine unsterbliche Seele
    • Willensfreiheit
    • Denken bzw. Vernunft
    • Werkzeuggebrauch bzw. Herstellung
    • Selbstbewusstsein
    • Sprache
    • ein Sinn für Vergangenheit und Zukunft
    • ein Sinn für Moral
    • Kultur bzw. (kumulative) kulturelle Entwicklung.

    Aber die Entdeckungen der kognitiven Ethologie während der letzten dreissig Jahre lassen sie fast alle problematisch erscheinen. Es gibt jedoch eine Ausnahme: die Fähigkeit zur kumulativen kulturellen Evolution. Unter Kultur sind hier Verhaltensweisen zu verstehen, die i) sozial gelernt werden, und zwar nicht nur horizontal sondern auch vertikal, d.h. über Generationen hinweg; ii) sich in verschiedenen Gruppen unterscheiden; iii) und zwar derart, dass sich diese Unterschiede nicht durch Differenzen im Genom oder der Umwelt erklären lassen. Zwar gibt es so etwas wie Kultur z.B. bei manchen Primaten. Und diese kulturellen Verhaltensweisen mögen sich bei ihnen auch gelegentlich entwickeln. Aber nur in minimaler Weise. Was sich nur bei menschlichen Gemeinschaften findet sind Prozesse, bei denen kulturelle Neuerungen und Errungenschaften auf einer Stufe als Basis dienen für weitere Neuerungen und Errungenschaften auf nachfolgenden Stufen.  

    1. Rationalität, Kooperation, Sprache

    Kumulative kulturelle Evolution ist also eine Eigenart menschlicher Gemeinschaften. Sie erfüllt damit Bedingung (a) an eine AD. Ausserdem mag sie auch, in Einklang mit Bedingung (b), wichtig sein für unser Selbstverständnis. Aber sie erfüllen nicht Bedingung (c). Denn sie ist nicht fundamental. Vielmehr setzt sie ihrerseits die Kombination dreier Vermögen voraus, die ebenfalls nur in menschlichen Gemeinschaften ausgeprägt sind:

    1. Eine besondere Form von Intelligenz: die Fähigkeit, sich den unterschiedlichsten Bedingungen anzupassen, und zwar aufgrund von rationaler Einsicht in Kausalzusammenhänge, Planung und Schlussfolgern (im Gegensatz zu Mikroben);
    2. Eine spezielle und hochkomplexe Form sozialer Organisation (Kooperation, Normen, Arbeitsteilung);
    3. Eine einzigartiges und hochkomplexes System der Kommunikation: die Sprache.

     

    1. Die Mischung macht‘s!

    Vielleicht sind wir nicht die einzigen, die Rationalität, Kooperation und Sprache haben. Aber wir haben sehr viel mehr davon, und in einer einzigartigen Kombination. D.h. aber nicht, dass es hier keine einschneidenden Unterschiede gibt. Denn in diesem Fall kann, um mit Hegel und Marx zu sprechen, ein quantitativer Unterschied in einen qualitativen umschlagen. Eine bloss quantitative Steigerung eines Parameters—z.B. in der Komplexität des Kommunikationssystems—kann zu einer qualitativen Steigerung eines anderen Parameters—z.B. in der Möglichkeit sozialer Kooperation---führen.