Ungefähr seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat in den Werken chinesischer Gelehrten eine Unterscheidung Eingang gefunden, die inzwischen oft auch ausserhalb Chinas Verwendung findet und chinesisches philosophisches Schaffen schnell und bequem in zwei Kategorien trennt. Unterschieden wird dabei zwischen ‚indigener Philosophie aus China‘ (Zhongguo di zhexue) und ‚Philosophie in China‘ (Zhongguo de zhexue). Der letztere Ausdruck ist deutlich weiter gefasst und umschliesst alle Philosophie, die in China entsteht, also nicht zuletzt auch ‚westliche Philosophie‘ jeglicher Couleur (z.B. Marxismus, Phänomenologie, analytische Philosophie), aber ebenso aktuelle (konservative wie transgressive) Fortschreibungen ‚indigener Philosophie aus China‘. Der genaue Zusammenhang ist nicht klar. Entweder ist ‚indigene Philosophie aus China‘ im Kontext dieser Fortschreibungen als Teilmenge von ‚Philosophie in China‘ zu verstehen oder die Fortschreibungen sind in der Substanz nicht mehr länger als ‚indigen‘ einzustufen. Wie immer man die Sache dreht, so fusst die Unterscheidung letztlich auf der Vorstellung einer unberührten und ‚vormodernen‘ indigenen Philosophie (die jedoch den Buddhismus bereits erfolgreich absorbiert hat) und einer durch ‚die westliche Moderne‘ überformten, fremden Philosophie. Überspitzt formuliert reduziert sich chinesisches philosophisches Schaffen so auf eigentlich Chinesisches auf der einen Seite und eigentlich Fremdes auf der anderen Seite, wobei die Unterscheidung ihren Sinn aus der historischen Wegmarke des Einfalls ‚der westlichen Moderne‘ im 19. und 20. Jahrhundert schöpft. Die Orientierung der Unterscheidung entlang dieser historischen Begebenheit offenbart ihre wesentliche Rückwärtsgerichtetheit. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, handelt es sich doch um ein an sich geläufiges taxonomisches Vorgehen in der philosophischen Historiographie, das durchaus auch Ordnung und Übersicht schafft.
Nun besteht jedoch die Gefahr, dass solche rückwärtsgerichtete Unterscheidungen bei Versuchen einer Beschreibung der Gegenwart in der so wunderbar zurechtgerückten Vergangenheit stecken und damit alternative Interpretationen unversucht bleiben. Der Sinn solcher Unterscheidungen muss daher immer wieder hinterfragt werden. Wenn man also gegenwärtige chinesische politische Philosophie entlang der erwähnten Unterscheidung ordnete, welches Bild ergäbe sich? Zweifelslos fände sich viel ‚politische Philosophie in China‘, aber jedweder Anspruch auf chinesische Indigenität schiene ins Leere zu zielen. Das ist so, weil alle Fortschreibungen ‚indigener Philosophie aus China‘ dezidiert und oft explizit vor dem Hintergrund einer wie auch immer verstandenen westlichen Moderne ihren spezifischen Ausdruck gefunden haben. Eigentlich Chinesisches ist in der Gegenwart nicht mehr zu haben, und alle auf solche Eigentlichkeit abzielenden Entwürfe wirken artifiziell und suspekt. Die Unterscheidung ist damit allerdings nicht hinfällig geworden. Es hat durchaus in gewissen Zusammenhängen weiterhin Sinn, stärker auf rückwärtsgewandte chinesische Indigenität abhebendes philosophisches Schaffen von einer etwa durch Rawls inspirierten analytischen politischen Philosophie zu unterscheiden. Aber die Grenzen sind fliessend und die dabei mitschwingende Rhetorik und allfällige politische Instrumentalisierung offensichtlich. Was also tatsächlich hinfällig geworden ist, sind ernsthafte, in die Gegenwart reichende Ansprüche auf Eigentlichkeit oder Wesentlichkeit.
"Farviewshijiazhuang" by Khalidshou
Schaut man sich gegenwärtige chinesische politische Philosophie aus der Vogelperspektive an, so sticht einem zunächst eine grosse Vielfalt ins Auge. In der Volksrepublik China – aber unter freilich anderen Bedingungen auch in Hongkong und in Taiwan – wird in chinesischer Sprache eine erstaunlich hohe Anzahl von Traktaten und Arbeiten veröffentlich, die bei entsprechender Sprachkenntnis inhaltlich sofort als politische Philosophie erkannt und verortet würden. Dabei geht es um Fragen prozeduraler Gerechtigkeit, politische Autorität, um die beste Form der Herrschaft, usw. Diese Schriften stehen im Bücherladen gleich neben zahlreichen aus allerlei Sprachen, meist jedoch aus dem Englischen übersetzten Klassikern und einflussreichen politikphilosophischen Schriften der jüngeren Vergangenheit, von Platon, Machiavelli und Hobbes zu Hannah Arendt, Jürgen Habermas, Jacques Rancière und Amartya Sen. Nun scheint es nur natürlich, dass sich die Erzeuger von ‚politischer Philosophie in China‘ in ihrem Schaffen auch auf chinesische Schriften beziehen, als konkrete Ideengeber und mit Blick auf die Adressaten oft als gemeinsame Orientierungspunkte. Aber auch das ist ein bekanntes Phänomen. In Deutschland findet in der politischen Philosophie mehr Deutschsprachiges Verwendung, während französische politische Philosophie gar berühmt und berüchtigt für seine angebliche Selbstbezüglichkeit ist. Damit ist aber gleichzeitig deutlich gemacht, dass durchaus Verschiedenheiten zwischen historisch entstandenen und oft am Nationalstaat ausgerichteten institutionellen Kontexten vorliegen.
Auch die politische Philosophie in China hat ihre Eigenheiten. Dies zeigt sich an inhaltlichen Schwerpunkten wie an den äusseren Umständen, in denen politische Philosophie betrieben wird. Man denke nur an die politischen Bedingungen etwa in der Volksrepublik. Wenn also z.B. einflussreiche Kreise innerhalb und ausserhalb der Kommunistischen Partei Carl Schmitt und Leo Strauss studieren oder wenn chinesische Intellektuelle angeblich Tocquevilles L’ancien régime et la Révolution und dessen These diskutieren, dass Revolutionen nicht geschehen, wenn die Massen am Boden liegen, sondern wenn ihr Schicksal sich verbessere, dann erhält das vor dem Hintergrund des elitär geführten Einparteienstaats eine besondere Relevanz. Dementgegen stehen transnationale Kooperationen, ein weltweiter Austausch von Ideen, Theorien und Ansätzen, aber auch die Tatsache eines weltumspannenden Kapitalismus. Politische Philosophie in China kann ihre Eigenheiten eben gerade nicht mehr als Indigenität ausgeben. Auf zu vielen Ebenen ist die Produktion politischer Philosophie in China verflechtet; ihre Eigenheiten gewinnen ihr Profil heute unweigerlich von innerhalb wie von ausserhalb Chinas.
Um das nur an einem Beispiel zu verdeutlichen. Es erstaunt heute nicht mehr, wenn ein Michael Sandel ein Buch zu den moralischen Grenzen des Marktes schreibt, darin nebst den USA entlehnten Beispielen auch die Credit Suisse erwähnt, aber auch die Zustände an chinesischen Spitälern, eine Entschuldigungsfirma in Tianjin, die für ins Fettnäpfchen Getretene kommerziell Entschuldigungen überreicht (ihr Slogan soll lauten „We say sorry for you“) oder auch die chinesische Ein-Kind-Politik. Es ist ebenso unspektakulär, wenn daraufhin Li Zehou, der Autor einer Kritik der kritischen Philosophie Kants und zahlreicher anderer Werke, der nach Tiananmen für Gedankenkriminalität drei Jahre unter Hausarrest stand, dann in Colorado eine Professur annehmen durfte, jüngst aus dem Ruhestand heraus in China einen Interviewband veröffentlicht, mit dem Titel Huiying Sangde’er, Eine Antwort auf Sandel. Dabei mit nach China gewandert ist selbst das intellektuelle Format, hat Li Zehou doch 2014 an der Eastern China Normal University einen Kurs zur Ethik in demselben diskursiven Stil angeboten, mit dem Sandel in Harvard seinen berühmten Kurs zur Gerechtigkeit hielt und inzwischen international politische Philosophie popularisiert, wie im Juni 2012 in Seoul in einem Stadion vor 15‘000 Leuten. Li Zehou wiederum hat in Shanghai ethische Probleme, die seine chinesische Zuhörerschaft beschäftigen, debattiert, etwa die Problematik der Schwarzmarkthändler oder den jährlich wiederkehrenden Reisewahnsinn rund ums chinesische Neujahrsfest.
Freilich gilt es nüchtern festzuhalten, dass noch immer in völligem Missverhältnis mehr ins Chinesische übersetzt wird als umgekehrt Chinesisches ins Englische (wobei das Chinesische hier sein Schicksal mit vielen anderen Sprachen rund um die Welt teilt). Selbst vereinzelte Referenzen in europäischen, amerikanischen oder auch indischen politikphilosophischen Schriften hin zu chinesischen Texten sind selten. Sogar Amartya Sen, der in seinem Buch Die Idee der Gerechtigkeit westliche politische Philosophie dafür anprangert, nicht-westliches Denken an den Rand zu drängen (und selbst auf interessante Weise eine an zwei Wörtern im Sanskrit festgemachte Unterscheidung in den Gerechtigkeitsdiskurs einbringt), erwähnt zwar China hier und dort, geht aber an keiner Stelle etwa auf die vielen Diskussionen zu einer konfuzianischen Gerechtigkeitstheorie ein. Natürlich muss und kann man nicht auf alles, was irgendwie mit dem eigenen Thema zusammenhängt, eingehen. Wenn Sen die Marginalisierung nicht-westlicher politischer Philosophie zu durchbrechen sucht, indem er die Unterscheidung von niti und nyaya in den Diskurs einführt, dann hat das nicht zum Ziel, neben ‚westliche politische Philosophie‘ eine ‚indigene Philosophie aus Indien‘ zu etablieren. Er möchte vermutlich lediglich einem Kosmopolitismus das Wort reden und den Diskurs zur politischen Philosophie konzeptuell bereichern und befördern.
In ähnlichem Sinn sollten die vielen Schriften der politischen Philosophie in China gelesen und bewertet werden. Ob sie eine Bereicherung darstellen oder nicht, muss sich dabei zeigen und darf weder vorausgesetzt noch von vornherein verneint werden. Die Kategorie ‚indigene Philosophie aus China‘ scheint einem solchen Unterfangen allerdings nicht nur wenig behilflich, sondern gar im Wege zu sein. Die Rückwärtsgerichtetheit der Unterscheidung entpuppt sich von dieser Perspektive besehen als Anachronismus, der fiktiv dort trennt, wo eine andere – verflochtene und verbindende – Realität längst Einzug gehalten hat. Der Ausdruck ‚indigene Philosophie aus China‘ mag weiterhin historiographischen Wert haben. In der Beschreibung gegenwärtiger chinesischer politischer Philosophie hat er nur wenig Nutzen. Chinesische politische Philosophie sollte nicht an autoritätsstiftende Ansprüche auf Eigentlich Chinesisches gekoppelt sein. Das ist philosophisch wenig überzeugend und politisch fragwürdig.