Nationalismus ist ein Phänomen, das bereits im 19. Jahrhundert, als die verheerenden Folgen von nationalistischem Fanatismus noch unbekannt waren, diskutiert wurde. Es stellte sich die Frage, wie man für die Bildung von Territorialstaaten plädieren und gleichzeitig den friedensgefährdenden Nationalismus ausschliessen konnte. Während die Bewegung des demokratischen Kosmopolitismus dem Nationalstaat und dem Bürger weniger Gewicht geben wollte, um nur auf die Menschen als Individuen zu setzen, schlug der italienische Aktivist und Denker Giuseppe Mazzini einen anderen Ansatz vor, der sich diesem Kosmopolitismus entgegenstellte.1
Die Nation war im 19. Jahrhundert, als Volksbewegungen zunehmend Teilhabe an politischer Macht forderten und auch übernahmen, nicht mehr das Instrument von einzelnen Machthabern, die willkürlich das Schicksal ihrer Untertanen bestimmten; sie wurde vielmehr zur Antithese zum aristokratischen Prinzip, zum Sinnbild der Umsetzung gleicher Rechte für alle Bürger einer Gemeinschaft.2 Ähnlich wie sein Zeitgenosse Alexis de Tocqueville3 sah Mazzini die politische Entwicklung hin zur Selbstbestimmung der Völker als Werk der göttlichen Vorsehung, deren Umsetzung nicht aufzuhalten und der zu folgen das Gebot der Zeit war.4 Für ihn war die Entwicklung demokratischer Nationalstaaten jedoch nicht das Endziel, sondern ein Etappenziel, um davon ausgehend auf die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa5 hinzuarbeiten. Um den Nationalstaat nicht zum Feind einer europäischen Föderation zu machen, stellte er dem Begriff des Nationalismus den der Nationalität gegenüber. Dabei geht es um das Bewusstsein der Menschen für ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Individuen sollen erkennen, dass sie allein nichts erreichen können, aber im Zusammenschluss mit vielen die Macht haben, die Zukunft zu gestalten.6 Somit sieht man, dass Mazzini dem Konzept des Nationalismus, das den Nationalstaat definiert, indem es die Bewohner, die Kultur oder die Tradition denen anderer Staaten gegenüberstellt und diese in ihrer Andersheit (zum Teil auch Minderwertigkeit) betont, mit der Idee der Nationalität begegnet, bei der es neben dem Bewusstsein für die Zugehörigkeit zum eigenen Nationalstaat darum geht, die eigene Nation als Teil der Menschheit zu begreifen.
Mazzini geht in Nazionalismo e Nazionalità darauf ein, dass eine Nation nicht aus Menschen einer Abstammung bestehen muss, wie sich in Frankreich zeigt, wo keltische, germanische, römische etc. Einflüsse zusammenkamen. Die Menschen in einer Nation müssen aber ein gemeinsames Ziel haben, worauf sie mit vereinten Kräften hinarbeiten. Das heisst, dass er davon ausgeht, dass Menschen auch als Zugehörige einer bestimmten Nation und Untergruppe einer Nation dazu fähig sind, sprachliche und kulturelle Grenzen zu überwinden. Dies ermöglicht in einem nächsten Schritt die Zusammenarbeit zwischen Nationen.7 Nationalität ist für Mazzini immer gekoppelt an Demokratie. Die Nation hat die Pflicht, allen Bürgern gleiche Rechte zuzugestehen, nur dann erfüllt sie ihre Mission, nämlich zwischen den Individuen und der Menschheit8 zu vermitteln.9 Die Pflicht der Menschen innerhalb des eigenen Staates ist eine sehr konkrete im demokratischen Zusammenleben mit Mitbürgern, während die Pflichten gegenüber der Menschheit eher abstrakt bleiben. Das demokratische Leben erzieht Individuen dazu, ihre Mitbürger als Gleiche wahrzunehmen10 – was für das europäische Zusammenleben in Frieden entscheidend ist.
Die Lehre des Kosmopolitismus, wie sie zum Teil auch vom Sozialismus propagiert wurde, lehnte Mazzini ab, weil er nicht erkennen konnte, dass eine solche Idee auch realisierbar wäre. Seiner Ansicht nach muss man den Menschen, um sie für die Sache der ganzen Menschheit zu mobilisieren, zunächst im Kleinen die wesentlichen Grundlagen vermitteln. Die Vereinigung innerhalb des eigenen Landes ist nur ein Schritt hin zum grossen Ziel. Die Menschen werden, um es einfach auszudrücken, darin geschult, nicht nur an sich selbst, sondern im Sinne aller zu denken und zu handeln.11 Sie sollen nicht in Kategorien kultureller Unterschiede und Grenzen denken, sondern in denen gemeinsamer Ziele und deren Umsetzung.
Mazzini sieht die Befreiung und den Weg zur Selbstbestimmung der Völker Europas ebenso als Weg in eine europäische Föderation, in der selbstbestimmte Völker friedlich kooperieren und als Gleiche zusammenleben12, er spricht bereits von Vereinigten Staaten von Europa13. Hoch anzurechnen ist ihm, dass er die Gefahr des Nationalismus, der Ausgrenzung aufgrund von Herkunft und Kultur und die friedenssichernde Wirkung europäischer Kooperation thematisierte und praktische Vorschläge zu ihrer Bekämpfung bzw. Umsetzung machte. Die Realisierung von Demokratie war für ihn direkt an die Bildung gekoppelt, d.h. daran, dass man die Menschen befähigte, sich selbst zu regieren und Verantwortung für sich und andere zu tragen. Sein langfristiges Ziel einer europäischen Föderation ist in einer etwas anderen Form umgesetzt worden – die endgültige Beurteilung des Erfolgs der Europäischen Union dürfte aber Sache zukünftiger Generationen sein.
Literatur:
Mastellone, Salvo, Il progetto politico di Mazzini (Italia-Europa), Firenze, Leo S. Olschki 1994.
Mazzini, Giuseppe, „Foi et avenir (1835)”, in: Scritti editi ed inediti di Giuseppe Mazzini, Vol. VI (Politica IV), Edizione Nazionale degli scritti di Giuseppe Mazzini, Imola, P. Galeati 1909, S. 211-290.
Mazzini, Giuseppe, „Nationality and Cosmopolitism (1847)”, in: Giuseppe Mazzini, Thoughts upon Democracy in Europe (1846-1847). Un Manifesto in inglese, a cura di Salvo Mastellone, Firenze, Centro Editoriale Toscano 2001, S. 67-73.
Mazzini, Giuseppe, „Nationalism and Nationality (1871)”, in: Stefano Recchia und Nadia Urbinati (Hrsg.), A Cosmopolitanism of Nations. Giuseppe Mazzini’s Writings On Democracy, Nation Building, and International Relations, Princeton University Press 2009, S. 62-65.
Tocqueville, Alexis, Über die Demokratie in Amerika, erster Teil von 1835, aus dem Französischen von Hans Zbinden, Zürich, Manesse Verlag 1987.
Urbinati, Nadia, „The Legacy of Kant: Giuseppe Mazzini’s Cosmopolitanism of Nations”, in: C.A. Bayly und Eugenio F. Biagini (Hrsg.), Giuseppe Mazzini and the Globalisation of Democratic Nationalism 1830-1920, Oxford University Press, 2008, S. 11-34.