In der Politik werden «rechts» und «links» seit der Französischen Revolution inhaltlich bestimmt. Rechts vom Präsidenten der Nationalversammlung sassen die Anhänger des Königs, links die Anhänger der Revolution. «Rechts» stand für Ordnung und Bewahrung; «links» für Umwälzung und Umverteilung. Diese Gliederung der Politik auf einer Rechts-Links-Achse hat sich bis heute gehalten. Die Politikwissenschaft erklärt es mit einem grundsätzlichen Interessengegensatz zwischen Angestellten und Kapitalbesitzern. Doch hat sich vieles verändert.
Erstens: Durch die Machtbeteiligung der Linken in den modernen Demokratien ist Besitzstandwahrung auch eine Strategie des linken politischen Lagers geworden. Das rechte Lager andererseits greift Bestände der Linken in zum Teil umstürzlerischer Weise an. Wer genau für Bewegung, Umwälzung und wer für Bewahrung steht, ist nicht mehr in allen Fällen so klar. Zweitens haben die Arbeitenden mehr zu verlieren als ihre «Ketten» (Karl Marx). Wirtschaftsfreiheit steigerte durch Wertschöpfung auch die Löhne, der soziale und politische Einfluss der Linken hat die Arbeitsbedingungen verbessert. Die Arbeitgeber finanzieren den Sozialstaat mit. Die Renten der Angestellten beruhen zu guten Teilen auf Kapitalgewinnen. In der Schweiz wird auch die AHV durch einen Fonds gestützt, der aus Kapitalgewinnen gespeist wird.
Spiel mit dem Feuer
Der Sozialstaat ist zutiefst kapitalistisch. Eine grosse, bis tief ins linke Lager reichende Mitte hat sich ausgebildet, die gut daran tut, auf der Rechts-Links-Achse nach beiden Seiten zu schielen. Drittens ist die Aufteilung der Politik in die Rechts-Links-Achse unvollständig. Eine zweite Achse gilt es zu berücksichtigen, wenn die Vereinfachung nicht zu grob sein soll. Sie verläuft senkrecht zur ersten und spaltet alle politischen Lager. Bei der Rechts-Links-Achse geht es um materielle Umverteilung, nennen wir sie die Geld-Achse. Beim zweiten fundamentalen Gegensatz geht es um einen geistigen Akt der Anerkennung von Identität und Werten. Ich nenne sie darum die Geist-Achse.
Beide Gegensätze spielen je nach Kontext unterschiedlich und variantenreich ineinander. Umverteilungs- und Anerkennungskämpfe durchkreuzen sich in der Politik in einer für alle Akteure verwirrenden Weise. Eine vollständige Reduktion des Identitäts- oder Wertekampfes auf einen reinen Verteilungskampf ist nicht plausibel. Es geht vielen Menschen, die ihre Rechte, Werte, Lebensformen oder politischen Gemeinschaften erhalten wollen oder die globale Probleme durch globale Politik lösen wollen, nicht ums Geld.
Identitäts- und Werteverlust, oder die Angst davor, lassen sich in letzter Konsequenz nicht materiell abgelten. Die Tibeter wollen keine Autobahnen, Einkaufszentren und grösseren Löhne zum Preis ihrer politischen und kulturellen Eigenständigkeit. Frauen haben sich nicht wegen des Geldes für ihr Stimmrecht eingesetzt. Homosexuelle wollen ihr Recht auf Heirat nicht durch materielle Besserstellung eintauschen. Verteilungs- und Anerkennungs-Kämpfe, greed and grievance, sind die beiden Grundkonstanten der Politik. Materielle und identitäre Forderungen oder Verlustängste treiben sie an.
Als «identitär» bezeichnet werden oft Bewegungen am rechtsextremen Rand der Politik. Was aber ist rechtsextrem, was rechtspopulistisch und was nationalkonservativ? Die Meinung, Nationalstaaten sollten Grenzen aufrechterhalten, ist für sich genommen nicht extrem. Der Sache nach kann von jedem Punkt auf der Rechts-Links-Achse aus die Grenze der politischen Gemeinschaft lokal, national, kontinental oder kosmopolitisch gezogen werden. Auch aus linker Perspektive kann eine Abgrenzung des Staates mit der Bewahrung von Lebensformen gerechtfertigt werden.
Rechtsextrem ist eine Bewegung, wenn sie die Demokratie durch einen autoritären Führerstaat ersetzen will, Menschenrechte verneint, rassistische und antisemitische Hasspredigten verbreitet, mit paramilitärischen Schlägertrupps die Bevölkerung terrorisiert und Asylzentren abfackelt. Die SVP ist gemäss diesen Kriterien nicht rechtsextrem. Dass sie mit einzelnen Plakaten ihre Stimmen in braunen Teichen fischt, kann trotzdem nicht in Abrede gestellt werden. Man kann je nach Fall von einem taktischen, nicht aber von einem generellen Extremismus sprechen.
Mit dem Angriff auf die Europäische Menschenrechtskonvention schaltet aber diese Partei einen Gang höher. Im Licht der europäischen Geschichte ist dieser Angriff auf eine Institution des Schutzes individueller Freiheit ein Spiel mit dem Feuer. Populistisch ist eine Partei dann, wenn sie entweder aus reinem Opportunismus agiert und ihr Programm dauernd den Stimmungsschwankungen der Bevölkerung anpasst oder wenn sie zwischen sich und dem Volk keinen Unterschied mehr macht und die Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaates herabwürdigt. Ersteres trifft auf die SVP nicht zu, Letzteres oft. Aufgrund dieser Feststellungen wird nachvollziehbar, dass die Rechte in Bezug auf die Geist-Achse gespalten ist.
Söhne Tells und Höseler
Die liberale Rechte, sofern sie ihren Prinzipien treu bleibt, stellt die Freiheiten des Individuums und deren nationalen und internationalen Schutz und Förderung durch den Rechtsstaat ins Zentrum. Dazu kommen pragmatische Erwägungen über die Machbarkeit politischer Integration zwischen Nationalstaaten. Die nationalkonservative Rechte hingegen betrachtet den Nationalstaat als unverfügbaren und übergeordneten Wert, bleibt aber bei dessen Verteidigung innerhalb der Grenzen des Anstandes.
„Buerglen-UR-Tell“ von Roland Zumbuehl
Wendet man diese Betrachtungen auf eine längere historische Zeitspanne an, zeigt sich, dass der Rutsch zugunsten der Rechten bei den Schweizer Wahlen nur sehr moderat stattgefunden hat. Sie war immer schon stark. Dramatisch ist aber der Rutsch auf der Geist-Achse innerhalb des rechten Lagers. Die genannte Spaltung kann man am zweiten Wahlgang um einen Ständeratssitz in Zürich an einem konkreten Beispiel durchexerzieren. Der Graben ist tief, und die Wertungen, um die es auf beiden Seiten geht, sind so intensiv, dass die Rechte – SVP und FDP – es riskiert, sich zugunsten eines lachenden Dritten, eines grünen Politikers, aufzureiben. Die genannte Spaltung betrifft nicht nur die Rechte, aber die Zahl von Linksnationalisten hält sich in der Schweiz in Grenzen. Das kann sich ändern.
Die Schweiz ist im Zeichen der Globalisierung und Europäisierung generell in eine Identitätskrise geraten, die auch eine politische Krise ist. Das ist nachvollziehbar; es wäre eine Überraschung, wenn es diese Krise heute nicht gäbe. Identitäts- und Wertekonflikte sind aber schwieriger zu lösen als materielle Verteilungskämpfe. Geld, sofern vorhanden, kann im Gegensatz zu Identität und Werten relativ schnell verteilt werden.