Die späte Lebenszeit lässt sich nämlich als eine Radikalisierung der menschlichen Grundsituation verstehen, womit zugleich einem Isolationismus der Lebensalter widersprochen wird, ohne deren tiefgreifende Unterschiede zu verkennen. Was bedeutet es für die ethische Selbstreflexion des Individuums und für die gesellschaftliche Diskussion und Praxis, dass im Alter der menschliche Selbstwerdungsprozess andauert und endgültig Gestalt annimmt?
Wir existieren während unseres ganzen Lebens als praktische Sinnesentwürfe unserer selbst, die auf Erfüllungsgestalten unseres Lebens ausgerichtet sind. Wir existieren als kommunikative Wesen, in allen Praxisformen angewiesen auf die Mitmenschen. Eine Ethik des Alterns muss berücksichtigen, dass das Werden zu sich selbst kein subjektivistischer Prozess ist, sondern über kommunikative Erfüllungsgestalten praktischer Sinnesentwürfe im gemeinsamen Leben ermöglicht wird. Unser Leben ist ein praktisches Werden zu einmaliger Ganzheit, die wir faktisch immer schon sind. Die menschliche Existenz als Werden zu sich selbst erhält ihre unverkennbare Gestalt durch tiefgreifende Wandlungen, die wir erfahren und die vor allem mit den Lebensaltern verbunden sind. Unser Leben ist von Beginn an durchgängig von Endlichkeit geprägt: Nur einmal Kind, nur einmal jung, nur einmal Erwachsenwerden, nur einmal die Erfahrung weichenstellender Lebensentscheidungen, nur einmal der Eintritt ins Alter. Es ist zu fragen, welche Bedeutung diese Grundzüge der menschlichen Lebenssituation: die Ausrichtung auf Sinn und Erfüllung, das kommunikative Wesen, die einmalige Ganzheit und die Endlichkeit des ganzen Lebens für ein gelingendes Leben im Alter haben.
Physische, psychische, soziale und kulturelle Aspekte des Alterns zeigen in wechselseitiger Interdependenz, dass die leiblichen, zeitlichen, interpersonalen und geschichtlich-kulturellen Bedingungen der humanen Grundsituation gerade durch ihr Gestörtwerden im Prozess des Alterns bemerkbar werden. Mit ihnen meldet sich kein besonderes Problem des Alters, sondern es werden konstitutive Grenzen des Menschseins überhaupt in aufdringlicher und unabweisbarer Art und Weise erfahren. Das Leben ist wesentlich das Werden des Menschen zu sich selbst und als dieses von Negativitäten durchsetzt und von Fragilitäten geprägt. Wird die Kontinuität und Universalität der menschlichen Grundsituation übersehen, führt dies zu einer Überakzentuierung der Negativität hinsichtlich des Alters, obwohl diese Bedingungen für alle Lebensphasen konstitutiv sind. Das Werden zu sich selbst im Alter ist indes sicherlich kein harmonisch verlaufender, zielgerichteter Prozess, sondern eine mühselige, von Belastungen und Entfremdungstendenzen erschwerte Aufgabe der authentischen Lebensführung und der Ausbildung eines vernünftigen Selbst- und Weltverständnisses, deren Gelingen in teils schwer durchschaubarer Form von sozialen und historischen Bedingungen abhängt.
Auch in der späten Lebenszeit bleibt der Mensch ein auf Erfüllung und Glück ausgerichtetes Lebewesen. Ebenso wie die anderen Lebensphasen ist das Leben im Alter ein konstitutiv riskantes, gefährdetes Werden zu sich selbst. Unter den spezifischen Bedingungen der späteren Lebenszeit kann die vertiefte Einsicht in die Begrenztheiten des Lebens zur Grundlage einer durch Weisheit und Gelassenheit begünstigten Lebenszufriedenheit werden. Die Gestaltwerdung der einmaligen Ganzheit, als die wir das Leben verstehen, kann einen Zugang zu moralischen und praktischen Einsichten eröffnen, die in anderen Lebensphasen vielleicht weniger leicht zu gewinnen sind. Endlichkeit, Negativität und Fragilität des Lebens werden erkennbar, weil unübersehbar; ebenso wird die Angewiesenheit des Menschen auf kommunikative Solidarität durch Verlusterfahrungen und kulturell-soziale Entfremdungstendenzen deutlich. Die negativen Aspekte des Alterns weisen somit eine ethische Dimension auf und führen individual- und sozialethische Implikationen mit sich.
Die hochmoderne Gesellschaft darf schließlich die Tatsache des Alterns nicht medial verdrängen. Angesichts der universal geltenden Menschenwürde muss gesellschaftlich nicht nur gefragt werden, wie beeinträchtigte, benachteiligte, gehandicapte, ,nutzlose‘, langsame, auf Hilfe und Ansprache angewiesene, dem Ende zulebende Alte mit den komplexen Anforderungen einer technologisch aufgerüsteten Welt zurechtkommen, sondern was die Gesellschaft aus der existenziellen Tatsache des Alterns lernen kann und muss. Wir benötigen ein Bewusstsein des humanen Sinns der Endlichkeit, Begrenztheit und Verletzbarkeit des Menschen. Gegen die Ideale steter quantitativer Steigerung und Überbietung und der Selbstzweckhaftigkeit technisch-instrumentellen Fortschritts kann unsere Gesellschaft im Umgang und Gespräch mit alten Menschen den Wert der Langsamkeit, des Innehaltens, des ruhigen Zurückblickens und Bedenkens, der Mündlichkeit, des Maßhaltens und des gelassenen Umgangs mit der eigenen Endlichkeit erfahren und lernen.
Um das Altern und die zeitliche Endlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens zu begreifen, muss die tiefe Verbindung von Endlichkeit und Sinn erkannt werden.
Wenn wir versuchen, das Altern auf die skizzierte Weise neu zu begreifen, dann führt dies letztlich zu einem neuen Lebensverständnis. Es wird so hoffentlich möglich, das Gespräch zwischen den Generationen, Gerechtigkeit zwischen ihnen, wie auch sinnvolle Formen gemeinsamen Lebens auch über enge Familienbeziehungen hinaus zu entwickeln, neue Lebensformen, in denen alle Generationen und Altersstufen miteinander und füreinander denken und handeln können. Wohngemeinschaften, in denen dies versucht wird – oft mit überraschend positiven Ergebnissen – gibt es bereits.