Jeden Abend stand Sophie Scholl unter dem Gefängnisfenster ihres von den Nationalsozialisten inhaftierten Vaters und spielte ihm das Volkslied „die Gedanken sind frei“ auf ihrer Flöte vor. Sie können dich einsperren und quälen. Aber deine Gedanken gehören dir Alleine. Niemand kann sie erraten. So lautet die Botschaft des Liedes, das auch von der Westberliner Bevölkerung angestimmt wurde, als der damalige Oberbürgermeister Ernst Reuter seinen Appell an die alliierten Nationen, Berlin nicht zu vergessen, beendet hatte. Die Idee der Gedankenfreiheit scheint den Menschen in Zeiten der Unterdrückung Hoffnung und Mut zu spenden.
Doch staatliche Unterdrückungen und Fremdbestimmung scheinen zumindest in den westlichen Demokratien der Vergangenheit anzugehören. Heute ist jeder selbst seinen Glückes Schmied und bestimmt seinen Lebensweg weitgehend unabhängig von Gott, dem Staat oder seinem Elternhaus. So frei waren unsere Gedanken noch nie. Es scheint, als könne das Lied nun verstummen. Oder doch nicht?
Werden die Neurobiologen bald in unseren Gedanken lesen können?
Im Jahr 2004 verfasste eine prominente Gruppe von Hirnforscher und Neurobiologen ein gemeinsames Manifest. Darin prognostizierten sie nicht nur, dass sie schon bald ein Mittel gegen schreckliche neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson finden werden, sondern auch, dass sie in naher Zukunft in der Lage sein werden, Entscheidungen und Handlungen vorherzusagen.
Doch wie soll das gehen? Durch die neurowissenschaftliche Brille betrachtet ist der Mensch eine Art biologische Maschine. Das Genom codiert die Software, die die Grundverkabelung unseres Gehirns bestimmt. Inputs aus unserer Umwelt werden durch die Sinnesorgane aufgenommen, landen im Gehirn, werden dort verarbeitet und führen zu einem ganz bestimmten Output, einer Entscheidung, einer Bewegung oder einer Aussage. Kennt man die Verkabelungen im Gehirn gut genug, kann man theoretisch für jeden Input den entsprechenden Output errechnen.
Ist das Ende der freien Gedanken bereits absehbar? Nein, meint Lukas von Ziegler. Der Neurowissenschaftler arbeitet am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich und beurteilt die damalige Prognose als zu optimistisch. „Für jeden Schritt, welchen wir in der Entschlüsselung des Gehirns nach vorne gemacht haben, ging es gleich wieder zwei zurück. Jede Antwort warf neue Fragen auf.“ Laut von Ziegler haben die damaligen Forscher die Komplexität des Gehirns unterschätzt. Trotzdem ist es denkbar, dass die Wissenschaft in zehn oder zwanzig Jahren ein menschliches Gehirn rekonstruieren könne, meint von Ziegler und erwähnt, dass dies bei der Drosophila-Fruchtfliege bereits gelungen sei. Dies würde aber bei weitem noch nicht genügen, um individuelle Verhaltensprognosen zu erstellen.
Nur eine individuelle Kopie würde Prognosen zulassen
Um die Entscheidungen und Handlungen eines einzelnen Individuums vorhersagen zu können, bräuchte es nicht irgendein Laborhirn, sondern eine exakte Kopie des Gehirns dieses einen Individuums. Denn jedes Gehirn ist anders aufgebaut. Jede Verkabelung individuell. Nur mit einer exakten Kopie wären Prognosen möglich, da nur diese die gleichen Outputs wie das Original generieren würde. Bei einem Individuum mit der Leibspeise Schweinebraten würden dann sowohl das Originalgehirn, wie auch die Laborkopie beim Geruch von Schweinebraten Signale aussenden, die den Besitzer des Gehirns veranlassen, sich einen Teller zu schnappen und über den Braten herzumachen.
Durch das Füttern des Laborgehirns mit verschiedenen Inputs wie Informationen, Geräusche oder Musik wären so Vorhersagen über das Verhalten des Besitzers des Originalhirns machbar: Welcher Witz bringt ihn zum Lachen? Welche Musik animiert ihn zum Kaufen? Welche Worte provozieren blanke Wut bei ihm? Die Einflüsse einer solchen Technologie auf Werbung, Marketing aber auch auf die praktische Umsetzung unserer Justiz wären immens.
Eine solche Kopie wäre nur eine Momentaufnahme
Doch dieses Schreckensszenario fusst auf einem veralteten Bild unseres Gehirns, meint von Ziegler. Unser Hirn ist keine starre Verkabelung. Die Verknüpfungen in unserem zentralen Nervensystem entwickeln sich laufend weiter. All die Reize, die aus unserer Umgebung auf uns einprasseln, bewirken nicht nur Handlungen oder Entscheidungen, sondern verändern auch die Vernetzungen in unserem Kopf. Nach einer Fleischvergiftung wird das echte Gehirn kaum noch mit demselben Appetit auf den Bratengeruch reagieren, wie zuvor. Die Laborkopie hingegen ist nur eine Momentaufnahme, die sich anders als das Original nicht weiterentwickelt. Schon nach kurzer Zeit wäre die Kopie veraltet und für Prognosen über den Träger des Originalgehirns völlig unbrauchbar. Ein paralleler Lerneffekt wäre nur durch eine Echtzeitverbindung zwischen dem Original und der Kopie erreichbar. Es bleibt also dabei: Die Gedanken sind frei und niemand kann sie erraten. Vorerst noch nicht.