Der flexibilisierte Mensch oder: Macht Kapitalismus krank?

Mit Blick auf die psychotechnischen Test- und Beratungsangebote heisst das : Die Kritik hat dort anzusetzen, wo Normalisierungstechniken nicht nur vergessen, sondern gezielt vergessen machen, dass sie nur eine Instanz unter anderen sind.

    Thesen

    Aufklärung, die Entzauberung der Natur, die Vermarktung aller Lebensbereiche und die Demokratisierung aller Lebensverhältnisse haben die westliche Moderne in eine Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) verwandelt, in der Ziele out und Optionen in sind. Um unsere Gegenwart ertragen zu können, ist daher „Differenzakzeptanz“ (gross) gefordert, denn alle Optionen verwesen auf die eine Zukunft.
    Schränkten früher starke Abhängigkeiten und Hierarchien, geringe Aufstiegschancen, widrige Arbeitsverhältnisse und soziale sowie religiöse oder selbst auferlegte Legitimationszwänge das Arbeitsleben ein, sieht sich heute der flexibiliserte Mensch (Sennett 1998) mit Oberflächlichkeit, Selbstwertverlust und fehlendem Vertrauen konfrontiert. Diese Veränderungen gehen immer häufiger mit der Angst vor Kontrollverlust, Gefährdung der Gesundheit und dem Verlust von Intensitäten wie emotionaler Nähe, tiefer gehenden Beziehungen, erfahrener Loyalität einher, wofür die Lebenszeit zu knapp bemessen erscheint.
    Die Frage nach ökonomischer Stärke und aggressiver Wettbewerbsfähigkeit bleibt nicht länger auf Unternehmen und Märkte beschränkt, sondern erfasst mittlerweile alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. So bemisst sich etwa die ökonomische Stärke einer städtischen Region an der Anwesenheit von flexibiliserten und kreativen hoch technisierten Arbeitern und Angestellten, Künstlern, Musikern und homosexuellen Menschen, die in Kategorien wie dem Bohemien-, Gay– oder Diversity-Index (Florida 2002) gemessen werden kann. Auf der Grundlage von „Talent, Technologie und Toleranz“ (Florida) hat sich der Kapitalismus dynamisiert und an die Stelle von Fabriken sind mehr und mehr mobile Dienstleister getreten.
    Theoretisch wird die Analyse solcher Entwicklungen durch das Umstellen von einer Historiografie von Wissensformen (Kant, Hegel) auf „ein Feld von Regelmässigkeiten für verschiedene Positionen der Subjektivität“ (Foucault 1969) oder den Übergang von der Disziplinar- zu Kontrollgesellschaft (Deleuze 1993) beschrieben, insofern an die Stelle des einen intentionalen Handlungssubjekts politische, ökonomische, religiöse, sexuelle und gesundheitliche Subjektpraktiken treten, die aber auch miteinander in Konflikt geraten können (Mehr Geld, weniger Gesundheit, mehr Sex, weniger Geborgenheit usw.).
    Für die Stabilisierung von Ökonomisierung und Flexibilisierung wurde das therapeutische Ideal der Kommunikation eine der wichtigsten Erscheinungsformen für das sozialverhalten im 20. Jahrhundert über welches die Menschen mehr Kontrolle über sich selbst erlangen sollen (Illouz 2009). „Burn out“ kann dann als Kontrollverlust interpretiert werden, bei dem eine ökonomisch motivierte Flexibilisierung in dem Verlust von Gesundheit ihre natürliche Grenze erfährt.
    Moderne auf Kommunikation abgestellte Managementstrategien nutzen in der Personalentwicklung das Versprechen der Persönlichkeitsentwicklung als Marketingargument für die Verbreitung von Test- und Optimierungstechniken. Dieser „psychotechnische Kurzschluss“ (Gelhard 2011) zwischen beruflicher Aufgabenbewältigung und persönlichen Lebensglück macht Personal- und Persönlichkeitsentwicklung ununterscheidbar und setzt Rückzugsgebiete für Musse, Sport, Spiel und Gesundheit leichtfertig aufs Spiel.
    „Differenzakzeptanz“ (siehe These 1.) ist heute die ambivalente Grundvoraussetzung gegenwärtigen Glücks (Hampe 2009) oder Gesundheit und die Unfähigkeit, Differenzen zu akzeptieren, der erste Schritt ins Unglück oder Krankheit. Insofern hat am Ende Flexibilisierung doch noch ihr Gutes.


    Zitate

    „Die Emotionalisierung des ökonomischen Verhaltens und die Rationalisierung der Intimbeziehungen brachten eine Form des Selbstseins hervor, bei der strategischer Eigennutz und emotionale Reflexivität nahtlos ineinander übergehen. (…) Das therapeutische Ideal der Kommunikation zielt darauf ab, den Menschen eine Kontrolle ihrer Gefühle und einen „neutralen“ Standpunkt anzuerziehen und sie zu lehren, anderen zuzuhören, sich mit ihnen zu identifizieren und Beziehungen nach fairen Diskursregeln zu führen.“ (Illouz, 395)

    „Es geht Foucault (…) vor allem darum zu belegen, wie bestimmte altgriechische Alltagsethiken das Subjekt in Selbstpraktiken und Selbstverstehen trainieren, die einen Modus des Selbstverhältnisses produzieren, welches sich von der ‚modernen‘ Subjektivation, die historisch m it dem christlichen Pastoralregime ansetzt, grundsätzlich unterscheidet. Wenn die pastorale Subjektivation versucht, das Subjekt sich als ‚moralisches‘ interpretieren zu lassen, das sich in einer strikten Beachtung moralischer Gesetze übt und beständig bemüht ist, systematisch nach der Wahrheit über sich selbst zu suchen, trainieren bestimmte antike kulturelle Ordnungen (etwa der sokratisch-platonischen Ethik oder des Hellenismus) den Einzelnen darin, ein ‚ethisches‘ Verhältnis zu sich selbst herzustellen, das auf ‚Selbstsorge‘, einen sorgfältigen Umgang mit Seele und Körper, nicht auf Verzicht, sondern Achtsamkeit ausgerichtet ist und dabei Techniken wie die Erinnerung, Meditation, des Selbstexperiments etc. zum Einsatz bringt.“ (Reckwitz, 38 f.)

    „Foucault (…) bemerkt, es sein unsinnig, Widerstand ‚gegen Macht‘ leisten zu wollen, weil auch Widerstand sich auf Machtbeziehungen stützen muss. Kritik ist nur denkbar als Konflikt zwischen Mächten, der verhindert, dass sie endgültig zu ‚Herrschaftszuständen‘ erstarren. Sie kann daher nur spezifisch ansetzen, indem sie die Art und Reichweite von Normalisierungstechniken analysiert.

    Mit Blick auf die psychotechnischen Test- und Beratungsangebote heisst das : Die Kritik hat dort anzusetzen, wo Normalisierungstechniken nicht nur vergessen, sondern gezielt vergessen machen, dass sie nur eine Instanz unter anderen sind. Das galt um 1800 für die theologischen Instanzen, die die Kirche der Alltagskultur implementiert hatte ; es gilt heute für die Verfahren der Kompetenzmessung und -entwicklung, die die Psychoindustrie vertreibt.“ (Gelhard, 130)

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    Literatur

    Peter Gross (1994) : Die Multioptionsgesellschaft.
    Richard Sennett (1998) : Der flexibilisierte Mensch (engl. : The Corrosion of Character).
    Richard Florida (2002) : The Rise of the Creative Class. And how it’s transforming Work, Leisure, and Everyday Life.
    Michel Foucault (1969) : Die Ordnung der Dinge.
    Andreas Reckwitz (2008) : Subjekt.
    Eva Illouz (2009) : Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe.
    Michael Hampe (2009) : Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück.
    Andreas Gelhard (2011) : Kritik der Kompetenz.07