Ich bin nicht Philosoph. Höchstens hin und wieder bei einem Glas Wein im Rahmen einer Diskussion unter Freunden. Philosophie heisst ja «Liebe zur Weisheit». Weise bin ich aber auch nicht.
Gesundheit ist –nun wird’s philosophisch, denke ich – absolut und relativ zugleich. Und auch objektiv und subjektiv zugleich. Rein medizinisch kann ich gesund sein, weil keinerlei Anzeichen einer bekannten und als solchen definierten Krankheit vorliegen. Aber ich kann mich trotzdem krank fühlen. Und umgekehrt. Allein hinter diesen zwei Sätzen öffnen sich abendfüllende Diskussionsoptionen.
Lassen Sie mich die Definition der Gesundheit aus einer anderen Perspektive betrachten, nämlich im Umfeld der heutigen Anforderungen unserer Gesellschaft an die Lebensqualität. Dabei möchte ich mich auf die Schweiz beschränken. Wir haben eines der weltweit besten Gesundheitssysteme. Unsere Ärzte sind sehr gut ausgebildet. Unsere Spitäler sind auf einem sehr hohen Qualitätslevel. Das Angebot an Leistungen ist mehr als üppig. Und wir können all das über unsere Krankenversicherung abrufen. Unser System ist auch eines der teuersten. Aber die Qualität hat nun mal ihren Preis. Dennoch jammern wir permanent über an sich zu hohe Gesundheitskosten. Gleichzeitig lehnen wir jegliche Einschränkung ab, sei es eine Reduktion des Angebots in der Grundversicherung, eine Einheitskasse oder eine Reduktion der Anzahl Spitäler. Im Gegenteil: Wir hegen und pflegen die heilige Kuh des Föderalismus und leisten uns 26 weitgehend autonome kantonale Gesundheitsdirektionen, obwohl dies in der heutigen Zeit unsinnig ist und Milliarden an Kosten verursacht, die ohne wesentliche Qualitätseinbussen eingespart werden könnten. Sechs Gesundheitsregionen wären ausreichend. Die Modelle dazu liegen seit Jahren in Schubladen.
Damit kommen wir zum Begriff «Gesundheitskompetenz», auch dies ein Wort, über das sich trefflich philosophieren liesse. Ganz kurz erklärt: je höher die Gesundheitskompetenz einer Gesellschaft, desto geringer die Kosten. Und je besser ausgebildet die Menschen, desto gesundheitskompetenter. Das ist belegt, wissenschaftlich und weltweit. Die Gesundheitskompetenz in der Schweiz ist nicht schlecht, aber auch nicht überragend. Immerhin haben wir in der Schweiz nach Japan die weltweit höchste Lebenserwartung an gesunden Jahren. 73 Jahre lebt ein Mensch in der Schweiz durchschnittlich gesund.
Das bringt uns zum nächsten Thema: Solidarität. Diese nimmt ab. Wer auf seine Gesundheit nicht Rücksicht nimmt, soll gefälligst mehr Krankenkassenprämien bezahlen. Diese Forderung wird immer lauter. Wenn ich nicht rauche und nicht trinke, mich viel bewege, «gesund» lebe, dann will ich auch weniger Prämien bezahlen als der andere, der übergewichtig ist, raucht und trinkt. Ist dieser Ansatz eine Option? Das Thema Solidarität greift auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Vorsorge. Sind es die «Alten» die nun das Vermögen verprassen und den «Jungen» Schulden überlassen? Müssen wir AHV und BVG neu organisieren? Oder sollten wir uns überlegen, wie wir aus der immer egoistischeren Sicht der Menschen herausfinden?
Ein Wort ist vor meinem geistigen Auge aufgepoppt, als ich begann, mich mit dem Thema dieses Blogs zu befassen: Ethik, eine philosophische Disziplin. Ethik befasst sich mit den Voraussetzungen menschlichen Handelns und dessen Bewertung. Ich bin seit 15 Jahren im Bereich der Healthcare-Kommunikation tätig. Das Wort «Ethik» habe ich unzählige Male gehört und gelesen. Nicht immer habe ich verstanden, was damit eigentlich gemeint war. Gelernt habe ich, dass es kein absolutes ethisches Verhalten in der Gesundheit gibt. Gesundheit hat mit Leben zu tun – und mit dem Tod. Wollen wir über die Ethik im Bereich der Organtransplantationen diskutieren? Ist es richtig, dass wir in der Schweiz nicht ausdrücklich die Bereitschaft zur Entnahme eines Organs ablehnen müssen, sie ansonsten als angenommen gilt? Wie erklären Sie das einem Menschen, der nur noch wenige Wochen zu leben hat, wenn kein passendes Organ gefunden wird? Ist das solidarisch?
Ist es ethisch, wenn ich im Wirtschaftsteil lese, dass die Performance eines Pharmaunternehmens nicht den Erwartungen des Marktes entspricht und zwei Seiten weiter hinten das gleiche Pharmaunternehmen an den Pranger gestellt wird, weil ein neu lanciertes Medikament so teuer ist? Ist es überhaupt ethisch, dass Pharmaunternehmen Dividenden ausschütten müssen? Wer von Ihnen hat Pharma-Aktien? Warum?
Wir leisten uns eines der besten und teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Aber noch immer lassen wir Menschen allein, wenn sie sterben. Palliative Care sollte dann einsetzen. Palliare heisst «einen Mantel umlegen». Palliative Care umfasst die medizinische, seelsorgerische und pflegerische Betreuung von Betroffenen und ihren Angehörigen im letzten Lebensabschnitt. Wir haben zwar eine nationale Palliativstrategie. Sie wurde 2009 initiiert und Ende 2015 in eine Plattform umgewandelt. Aber es ist in diesen sechs Jahren nicht gelungen, dass Palliative Care heute in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit ist. Der Kanton Bern zum Beispiel hat erst 2014 ein kantonales Konzept vorgestellt. Viel mehr ist seither nicht passiert.
Es sind Sterbehospize, engagierte Ärzte, Pflegerinnen, kirchliche Organisationen, es sind fantastische Menschen, die sich sozusagen im Schatten unseres glitzernden Luxus-Gesundheitssystems darum kümmern, dass Menschen und ihre Angehörigen nach der Diagnose «unheilbar» nicht allein gelassen werden.
Gleichzeitig hat die Sterbehilfeorganisation Exit immer mehr Mitglieder. 2015 haben sich in der Schweiz 995 Menschen entschieden, mit Hilfe von Exit aus dem Leben zu scheiden. Neuer Rekord. Die Schweiz gilt als das Sterbehilfeland par excellence. Und dann wären da noch die Selbstmorde: Jede/r zehnte Schweizer/in begeht einen oder mehrere Suizidversuche. Mehr als 1'000 Menschen haben sich 2015 umgebracht, assistierter Selbstmord nicht eingerechnet.
Let’s take more care.