Gesundheit ist ein wichtiges Gut für den Menschen. Wir wollen gerne gesund sein. Aber wie wichtig ist dieser Wert und auf welches Niveau von Gesundheit sollte die medizinische Versorgung abzielen? Diese Fragen sind nur sinnvoll zu diskutieren, wenn wir ein deutlicheres Begriffsverständnis haben, als es häufig im Alltagsgebrauch anzufinden ist.
Das vielleicht wichtigste Problem mit dem Gesundheitsbegriff ergibt sich aus der Tatsache, dass er verschiedene Grade erlaubt. Dies kann zu Missverständnissen führen. Auf einer imaginären Skala können Menschen unterschiedlich gesund sein. Diese Tatsache als solche ist noch nicht problematisch. Nur dann, so möchte ich argumentieren, wenn Gesundheit als "nach oben hin offenes" Ideal verstanden wird, bewegen wir uns in einen gefährlichen Bereich, da Abweichungen vom gesundheitlichen Idealzustand als medizinische Probleme aufgefasst werden können.
In der Medizin wird Gesundheit üblicherweise als eine Art Minimum definiert, da sie als Abwesenheit von Krankheit verstanden wird. Dabei handelt es sich gewissermaßen um ein anspruchsloses Verständnis von Gesundheit. Um gesund zu sein, darf man keine Krankheit aufweisen. Dies verschiebt offenbar das Definitionsproblem auf den kontrastierenden Begriff der Krankheit. Daher beschäftigen sich viele Beiträge zur medizinischen Grundbegrifflichkeit mit dem Krankheitsbegriff.
Man kann den Gesundheitsbegriff noch anspruchsloser verstehen, denn es ist durchaus denkbar, dass man (im medizinischen Sinne) krank und gleichzeitig gesund sein kann. Die vermeintliche Paradoxie dieser Aussage löst sich auf, wenn man Gesundheit als Begriff ansieht, der auf das Wohl eines Individuums gerichtet ist. Eine Krankheit zu haben ist nicht unvereinbar damit, sich wohl zu fühlen oder ein gutes Leben zu führen. Gesundheit ist traditionell in diesem umfassenden Sinne mit dem Wohl des Menschen in Verbindung gebracht worden, insbesondere außerhalb der Medizin, wo wie gesagt ein negatives Verständnis vorherrscht – also Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit.
Die Verbindung von Wohl und Gesundheit scheint mir unumgänglich und sinnvoll. Sie führt beispielsweise dazu, dass wir durchaus nachvollziehen können, warum Menschen sich nicht unbedingt durch eine Krankheit in ihrem Wohl in signifikanter Weise eingeschränkt sehen müssen. Diese Erkenntnis wiederum ist wichtig, wenn wir die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen einschätzen. Denn obwohl sie in einem medizinischen Sinne eine (chronische) Krankheit bzw. Störung aufweisen, müssen sie keineswegs deshalb in ihrem Wohl beeinträchtigt sein. Die Vereinbarkeit von Krankheit bzw. Behinderung – verstanden als medizinische Kategorie – und Gesundheit –in einer wertenden Perspektive verstanden als Aspekt des Wohls –, erscheint nur auf den ersten Blick paradoxal. Darauf haben nicht nur Vertreter der Behindertenbewegung immer wieder hingewiesen, sondern auch Philosoph*innen wie beispielsweise jüngst Havi Carel.
Die wertende Perspektive auf den Gesundheitsbegriff, die Gesundheit in Zusammenhang mit dem Wohl des Menschen versteht, führt gleichwohl zur angesprochenen Problematik. Denn das menschliche Wohl ist eine nach oben hin offene Kategorie. Gesundheit kann entsprechend ohne Weiteres als Ideal verstanden werden. Nicht nur ergibt sich daraus eine potentielle Verwechslung des Begriffs der Gesundheit mit dem des Glücks. Diese Gefahr wird in der häufig kritisierten Definition der Weltgesundheitsorganisation deutlich. Das weitaus größere Problem ergibt sich aus der Vermischung eines idealen Gesundheitsbegriffs mit dem negativen Gesundheitsbegriff. Denn dann ist der Weg frei, alle Abweichungen vom Gesundheitsideal "nach unten" als Krankheitsphänomene zu begreifen. Da Krankheit wiederum in die Domäne der Medizin gehört, werden nach der genannten Logik solche nicht-idealen Verfassungen des Menschen entsprechend als medizinisch zu behandelnde Zustände identifiziert. So sind wir beim Problem der Medikalisierung angekommen, also der Einverleibung von menschlichen Lebensproblemen in die Medizin. Gerade wenn man Gesundheit einen solch hohen Wert zuschreibt wie in den gegenwärtigen reichen Gesellschaften, liegt der Schritt zur Medikalisierung nahe.
In einer medizinischen Perspektive sind alle Verfassungen des Menschen normal, die mit keiner Krankheit oder einem signifikant erhöhten Risiko zu erkranken einhergehen. Die Tatsache, dass wir nicht so fit wie möglich sind, oder dass es uns nicht besonders gut geht, ist an sich kein medizinisch relevantes Lebensproblem. Verstehen wir aber den Gesundheitsbegriff als einen lebensweltlichen Begriff, der auf das Wohl abzielt, und behalten dabei die Kontrastierung von Gesundheit und Krankheit im Hinterkopf, so können wir jede nicht perfekte körperliche bzw. psychische Verfassung des Menschen pathologisieren, also als krankhaft ansehen, und damit in den Aufmerksamkeitsbereich der Medizin ziehen. So wird eine begriffliche Unschärfe zu einem praktischen gesellschaftlichen Problem.
Die Lösung dieses Problems besteht in der Schärfung unseres begrifflichen Instrumentariums. Schon der vermeintlich eindeutige Begriff der Krankheit wird in sehr unterschiedlicher Weise verwendet. Zu einem besseren Verständnis gehört auch die Differenzierung verschiedener Kontexte der Begriffsverwendung. Wie gesehen, unterscheiden sich offenbar die medizinische – wissenschaftlich orientierte – und die lebensweltliche – auf das Wohl gerichtete – Verwendungsweise des Gesundheitsbegriffs. Die Philosophie wiederum kann bei der Begriffsanalyse und der entsprechenden Differenzierung eine wichtige Rolle spielen. Dies geschieht innerhalb einer spezialisierten Disziplin, der sogenannten Philosophie der Medizin.