Was bedeutet eigentlich "Nachhaltigkeit"?

Der Ausdruck ‚Nachhaltigkeit’ ist aus unserer Alltagssprache nicht mehr wegzudenken. So ist das neuste Produkt unserer Lieblingsmarke nun noch ‚nachhaltiger’.

    Der Bundesrat setzt sich für eine ‚nachhaltige’ Lösung der Energieversorgung ein. Und die Bankenkrise zerstörte ‚nachhaltig’ unsere Finanzanlagen. Ist heute also alles ‚nachhaltig’? Der inflationäre Gebrauch des Begriffs ist nicht zu übersehen, was oft als Bedeutungsverlust beklagt wird.

    Dieser Beitrag will aufzeigen, dass eine philosophische Analyse Ordnung in den bestehenden Begriffswirrwarr bringen kann. Er nimmt dabei auf drei philosophische Diskurse Bezug: auf die Diskussion um intergenerationelle Gerechtigkeit, auf die Debatte um sogenannt ‚dicke Begriffe’ und auf die Diskussion um nicht-ideale Gerechtigkeitstheorien. Dabei legt er die normative Kraft des Nachhaltigkeitsbegriffs offen und verankert diesen zugleich in faktischen Rahmenbedingungen – eine Verquickung, die sowohl die Attraktivität als auch die Komplexität der Nachhaltigkeitsidee verdeutlicht.

    Zunächst gilt es, den Alltagsgebrauch von ‚nachhaltig’ vom terminus technicus zu trennen. Während ‚nachhaltig’ alltagssprachlich synonym zu ‚andauernd’ oder ‚langfristig’ verwendet wird, hat sich seit den frühen 1990er Jahren in der (internationalen) politisch-rechtlichen und wissenschaftlichen Debatte ein klarer Begriffskern herauskristallisiert. Aufkeimend aus forstwirtschaftlichen Wurzeln und weiter entwickelt im Kontext der globalen Umweltdebatte bis hin zur Verschränkung zwischen Umweltpolitik und Armutsbekämpfung orientiert sich heute die Kernbedeutung von ‚Nachhaltigkeit’ unumgänglich an der Brundtland-Definition von 1987: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ (WCED 1987, 43) Wer ‚Nachhaltigkeit’ als Fachbegriff gebraucht, kommt nicht umhin, ihn mit Bezug zu ebendieser Bestimmung zu verwenden.

    Dem geübten Philosophenauge fällt natürlich sofort auf, dass diese Definition stark normativ aufgeladen ist. Und tatsächlich: Die Brundtland-Kommission ging von der Forderung aus, dass alle Menschen ein Recht auf ein ‚decent life’ haben, egal wann und wo sie leben (ebd. 41). Sie formuliert ein universelles Sollen, ein Recht auf gutes Leben. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die philosophische Analyse der Nachhaltigkeitsidee meist dem Bereich der Gerechtigkeitstheorie zugeordnet wird. Insbesondere die Fragen, ob wir überhaupt etwas und wenn ja, was wir künftigen Generationen schulden, prägen den philosophischen Diskurs um Nachhaltigkeit. Damit ist die Beziehung zwischen inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit angesprochen. Diese Perspektive hat natürlich ihre Berechtigung, doch die Philosophie hat mehr zur Klärung der Nachhaltigkeitsidee beizutragen.

    „Sustainable“ ist gemäss obiger Definition ein evaluativer Term zur Charakterisierung von „Entwicklung“, wobei es nicht um Entwicklung oder Gerechtigkeit in allen möglichen Welten geht, sondern um Entwicklung gegeben die heutigen globalen Gesellschaften mit ihren spezifischen Herausforderungen. Die Gerechtigkeitsforderung wird in einen spezifischen Kontext eingebettet. Für das Verständnis von ‚Nachhaltigkeit’ ist es entsprechend wesentlich, dass ihre normative Grundidee – gutes Leben für alle – nicht isoliert, sondern in ihrem sozio-ökologischen Gesamtzusammenhang betrachtet wird. Gemäss der Nachhaltigkeitsidee gilt es das universelle Recht auf gutes Leben immer unter Berücksichtigung unserer natürlichen, gesellschaftlichen und technisch-ökonomischen Rahmenbedingungen zu gewährleisten und zu gewahren.

    Die normative Forderung muss somit in ihrem faktischen Zusammenhang interpretiert werden. Diese Einbettung des Normativen ins Faktische prägt die Idee der Nachhaltigkeit gleichermaßen wie ihre Orientierung am guten Leben aller. Die Idee der Nachhaltigkeit verbindet damit einen normativ-fordernden Kern mit spezifischen deskriptiv Annahmen bezüglich des Kontexts, in dem die normative Forderung umgesetzt werden soll. Zwei Konsequenzen ergeben sich daraus. Erstens handelt es sich bei ‚Nachhaltigkeit’ um einen hybriden Begriff. Auch wenn die Philosophie und andere Wissenschaften gerne und mit guten Gründen trennscharf zwischen dem Normativen und dem Deskriptiven unterscheiden: Um die Idee der Nachhaltigkeit verstehen zu können, müssen diese Bereiche ineinandergeschoben werden. Der von Bernard Williams in die philosophische Diskussion eingebrachte Begriff der ‚thick concepts’, wonach es Begriffe gibt, welche „a union of fact and value“ aufweisen (1985, S. 129), verspricht hier Klärung. Demnach wäre der Nachhaltigkeitsbegriff ein ‚thick concept’, das sowohl ‚handlungsanleitend’ als auch ‚weltgeleitet’, d.h. beschreibend ist. Trifft diese Charakterisierung zu, können wir auch beurteilen, ob der Begriff richtig bzw. falsch angewendet wird, nämlich je nach dem ob ein Bezug zur Ermöglichung guten Lebens unter limitierten Rahmenbedingungen gegeben ist oder nicht.

    Daraus folgend vermag zweitens eine rein normative Analyse den Nachhaltigkeitsbegriff nicht zu erschliessen. Hier können wir an die philosophische Debatte um ideale und nicht-ideale Gerechtigkeitstheorien anknüpfen. Während ideale Gerechtigkeitstheorien die faktischen Umstände normativer Forderungen ausser Acht lassen, ziehen nicht-ideale Theorien diese explizit in Betracht. Die Argumentationen idealer Gerechtigkeitstheorien rechtfertigen sich zwar durch die Erläuterung und Begründung des absolut Gerechten. Doch sie laufen Gefahr, nicht auf die vorherrschenden Umstände zu passen. Demgegenüber ziehen nicht-ideale Gerechtigkeitstheorien Fragen der Umsetzung unter faktischen Umständen mit ein.

    ‚Nachhaltigkeit’ kann somit einerseits als ‚dicker Begriff’ und andererseits als Fall von nicht-idealer Gerechtigkeit unter intergenerationeller Perspektive aufgeschlüsselt werden. Er verbindet normativ Gefordertes mit faktisch Vorhandenem. Die Attraktivität der Nachhaltigkeitsidee mag genau in dieser Spannkraft liegen. Nachhaltigkeit fordert uns auf, den höchsten (anthropozentrisch-)normativen Begriff überhaupt – den Anspruch auf gutes Leben aller Menschen, egal wann und wo sie leben – mit unseren faktischen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen unter Berücksichtigung künftiger Generationen zu verbinden. Damit ist Einiges gefordert, jedoch nicht Beliebiges gemeint. Anhand der genannten Debatten kann die Philosophie einiges dazu beitragen, den Rahmen der sinnvollen Rede über Nachhaltigkeit abzustecken.


     

    Weiterführende Literatur

    Christen, M. (2013): Die Idee der Nachhaltigkeit. Eine werttheoretische Fundierung, Marburg: Metropolis Verlag.

    WCED (World Commission on Environment and Development) (1987): Our Common Future, New York, Oxford: Oxford University Press.

    Williams, B. (1985): Ethics and the Limits of Philosophy, London: Fontana Press.