„Er befreite das Volk für die Gegenwart und die Zukunft, indem er verbot, Darlehen gegen leibliche Haftung zu gewähren. Er erliess auch Gesetze und verkündete die Tilgung der Schulden, sowohl der privaten als auch der öffentlichen. Diese Tilgung nennt man Lastenabschüttelung, da man buchstäblich seine Schuldenlast abschüttelte.“ So aktuell der Text anmutet, so alt ist er. Er findet sich in der Aristoteles zugeschriebenen Schrift Athenaion Politeia, die Rede ist von Solon. Der athenische Gesetzgeber hatte in der Bewältigung des Konflikts zwischen reichen Grundbesitzern und verarmten Kleinbauern die vordringliche Aufgabe der Politik erkannt. Letztere waren zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts auf Gedeih und Verderb den Launen der Oberschicht ausgesetzt; konnten sie ihre Schulden nicht bezahlen, drohte ihnen Sklaverei. Verbitterung und Empörung waren, wie Aristoteles berichtet, groß bei der Masse der unfreien Armen, die „sozusagen an nichts Anteil“ hatten. Der Bürgerkrieg war unausweichlich. In dieser Situation wurde Solon ins Archontat gewählt; er stand vor der paradoxen Aufgabe, „gegen beide Seiten für beide“ zu kämpfen. Mittels Aufhebung der Grundschulden und der Leibeigenschaft befreite er das Volk. Er führte keine radikale Demokratie ein, verteilte das Land nicht neu, suchte lediglich das herrschende Recht des Stärkeren zu ersetzen durch eine Verfassung, die auch den Armen Freiheit, Würde und ein Recht aufs Lebensnotwendige gewährt, um zu verhindern, dass die Maßlosigkeit der einen und das Elend der anderen das Gemeinwesen ruinieren.
Griechenland könne seine Schulden nur zurückzahlen wenn es seine Ökonomie in eine Sklavenwirtschaft umwandle, so war jüngst in der Financial Times zu lesen. Pacta sunt servanda, so wird der neuen griechischen Regierung dennoch bei jeder Gelegenheit in Erinnerung gerufen. Doch wie viele Verträge wurden in der Geschichte der Menschheit wirklich eingehalten? Und wie steht es um die Legitimität von Verträgen, die demokratische Selbstbestimmungsrechte aushebeln? Artikel 55 der UNO-Charta besagt, im Interesse von Frieden und Freundschaft zwischen den Nationen seien die Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für ökonomischen und sozialen Fortschritt zu fördern. Diese Verpflichtungen der UN-Mitglieder haben laut Artikel 103 Vorrang vor anderen internationalen Verträgen. Anlässlich der Verhandlungen über Schuldenerleichterungen für die Bundesrepublik Deutschland 1952 wurde von deutscher Seite geltend gemacht, die Rückzahlung könne für die deutsche Volkswirtschaft ruinöse Auswirkungen haben. Bei den Unterhändlern stiess sie damit auf offne Ohren; in einem – auch von Griechenland unterzeichneten – Abkommen wurden massive Schuldenreduktionen beschlossen. Deutschland, dem laut Urteil eines renommierten Wirtschaftshistorikers grössten Schuldensünder der jüngeren Geschichte, wurde viel Verständnis entgegengebracht; dennoch ist es nach der Wiedervereinigung vertragsbrüchig geworden; der damalige Kanzler weigerte sich, das Londoner Abkommen umzusetzen und die Reparationszahlungen neu zu regeln.
In Griechenland haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Entscheid für eine Partei „ja“ gesagt zu einer alternativen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wenn ein deutscher Minister sie belehrt, demokratische Entscheidungen änderten nichts an ihrer Pflicht, Schulden zurückzuzahlen, wenn er seine Schadenfreude angesichts der zu erwartenden Blamage einer Regierung, die mangels europäischem Kooperationswillen ihre Versprechen nicht einlösen kann, nicht verhehlen mag, zeugt dies von einem seltsamen Demokratieverständnis. Von den Krisen haben seit 2008 in Europa vor allem populistische und extreme Rechtsparteien profitiert. In dieser Situation alles daran zu setzen, eine linke Regierung scheitern zu lassen, ist höchst unklug. Und doch drängt sich der Verdacht auf, eben dies werde mit der Botschaft beabsichtigt, zur aufgezwungenen Sparpolitik gebe es keine Alternative. Wie steht es um die Weisheit von politisch Verantwortlichen, die seit Jahren in paternalistischer Manier Ländern Austeritätskuren verschreiben, im Wissen um deren ruinöse Folgen? Was motiviert ihr Handeln: wirtschaftliche Interessen, ideologischer Starrsinn, oder die Furcht, öffentlich zu gestehen, seit Jahren ungeeignete Rezepte angewandt zu haben?
Wie viel ökonomisches Wissen und moralische Kompetenz sich EU-Politiker angesichts offensichtlicher Misserfolge anmassen, ist bemerkenswert. Der „Leidensdruck“ in einem bestimmten Land ist noch nicht hoch genug; es ist Zeit für „schmerzhafte“ Reformen; Unterstützung für Bedürftige, wie vom griechischen Finanzminister in Aussicht gestellt, gehört nicht dazu, so ist täglich zu hören und zu lesen. Schmerzhaft für wen? Welch befremdliches Dogma, das uns weismachen will, es ginge allen besser, ginge es jenen, denen es eh schon gut geht, dank massiven Steuererleichterungen und Finanzmarktderegulierung noch besser, und jenen, denen es eher schlecht geht, aufgrund von Lohnkürzungen und Deregulierung der Arbeitsmärkte noch etwas schlechter. Wie zahlreiche ökonomische Studien belegen, ist eine Sparpolitik, die funktionierende öffentliche Dienste und soziale Sicherheitssysteme, Bildungsinstitutionen und medizinische Versorgung demontiert, eine denkbar schlechte Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum.
Was das Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland betrifft, lenken nationalistische Ressentiments auf beiden Seiten von den wirklichen Problemen ab: Staatsverschuldung ist genau so ein globales Problem wie die ungleiche Verteilung des Wohlstands; Armut wächst selbst in Deutschland. Niemand bestreitet, dass der desolate Zustand der griechischen Wirtschaft auch aus Korruption resultiert; vergessen wird, dass Konzerne aus anderen EU-Ländern dazu eifrig beigetragen haben. In einer Krisensituation, für die so manche staatliche und private Akteure Verantwortung tragen, sind Moralpredigten fehl am Platz.
Doch was hat das alles mit Philosophie zu tun? Die Politische Philosophie der Gegenwart hat eine bunte Vielfalt von Demokratiemodellen im Angebot: liberale, republikanische, partizipative, deliberative, epistemische, pragmatische, radikale, agonistische, postfundamentale, multilaterale, kosmopolitische Modelle. Derweil sorgen sich immer mehr Menschen um die Zukunftschancen der Demokratie. Mittels einer „Europäischen Bürgerinitiative“ können zwar Bürgerinnen und Bürger der EU-Länder die Kommission auffordern, ein Gesetz vorzulegen. Trotz grosser Unterstützung für die Initiativen gegen die Freihandelsverträge, die derzeit zwischen der EU, den USA sowie Kanada verhandelt werden, hat die Kommission den Initianten jedoch die Registrierung als Europäische Bürgerinitiative verweigert mit der Begründung, Initiativen dürften nur für, nicht gegen etwas sein. Heisst das: Demokratie darf einiges, aber nicht „nein“ sagen zur herrschenden Wirtschaftsordnung? In der idealen Welt der Philosophie wird Politik im rationalen, herrschaftsfreien Diskurs beschlossen und legitimiert. So schön die Idee, so gering ist ihr Nutzen, wenn zur Diskussion steht, was politisch überhaupt bewegt werden kann. Bürgerinnen und Bürger von Demokratien sind nicht jene vernünftigen und selbstlosen Wesen, welche die Idealwelten der Philosophie bevölkern; ihr Handeln ist von Interessen geleitet, und wenn die Interessen der Kaufkraftschwachen im Namen längst falsifizierter ökonomischer Dogmen oder der angeblich höheren moralischen Kompetenz der Kaufkraftstarken als illegitim diskreditiert werden, müsste das eigentlich auch die Politische Philosophie kümmern. Heute ist zu prüfen, welche Chancen demokratische Politik überhaupt noch hat in einer Welt, in der sie sich andauernd der sanktionierenden und disziplinierenden Herrschaft „der Märkte“ zu unterwerfen hat – Märkten wohlverstanden, die sich jeder Disziplinierung erfolgreich widersetzen. Solons Weisheit könnte für die heutige politische Philosophie zur Inspirationsquelle werden. Die Frage, wie jene, deren politische Handlungs- mangels ökonomischer Durchsetzungsfähigkeit gering ist, dennoch ihre Ansprüche verteidigen und verhindern können, dass das Recht lediglich jenes der Stärkeren beziehungsweise Finanzkräftigeren ist, könnte erneut zu ihrem Leitmotiv werden.