Das Doppelleben des Schmerzes

Woran lernen wir, was Schmerzen sind? Kaum durch technische Definitionen, sondern eher durch Bekanntschaft mit paradigmatischen Fällen: Der Griff auf die Herdplatte, der Sturz vom Fahrrad, das Magengrimmen, die Kopfschmerzen, etc. Lange bevor wir irgendeine Art von professionellem Training durchlaufen haben lernen wir, wie man das Wort „Schmerz“ benutzt.

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    Woran lernen wir, was Schmerzen sind? Kaum durch technische Definitionen, sondern eher durch Bekanntschaft mit paradigmatischen Fällen: Der Griff auf die Herdplatte, der Sturz vom Fahrrad, das Magengrimmen, die Kopfschmerzen, etc. Lange bevor wir irgendeine Art von professionellem Training durchlaufen haben lernen wir, wie man das Wort „Schmerz“ benutzt. Dies gilt für den Busfahrer ebenso wie den Schmerzforscher.

    Aber was macht etwas zu einem paradigmatischen Fall von Schmerzen? Dies ist das Problem dieser Art, Begriffe zu umreißen: Dadurch, dass wir nur anhand von Beispielen lernen, wissen wir nicht, was für einen Schmerz essentiell ist. Für Erlebnisse, die selten, abwegig oder abnormal sind, ist es daher schwer zu sagen, ob sie nun als Schmerz zählen sollten oder nicht. Vielleicht ist „Schmerz“ sogar ein „mongrel concept“ – ein Terminus, unter dem sich unterschiedliche Begriffe verbergen.

    Ich denke, dass das Wort „Schmerz“ ambig ist, dass Schmerzen komplexe Phänomene mit distinkten Teilen sind, dass dies aber in paradigmatischen Kontexten nicht auffällt und wir aberrante Phänomene und Kontexten ernstnehmen müssen, um diese Zusammensetzung zu erkennen.

    Zwei Aspekte, die alle paradigmatischen Schmerzen teilen, sind Sensorik und Affekt. Paradigmatischerweise spüren wir etwas im Schmerz, dass uns zu schädigen droht oder schädigt, gleichzeitig haben wir zu dieser Schädigung eine negative emotionale Einstellung: wir leiden. Nach der Definition der International Association for the Scientific Study of Pain (1986) sind beide Aspekte essentiell für Schmerzen.

    Sollten wir diese intuitive Definition teilen? Ich denke nicht: Diese Aspekte als Eigenschaften desselben Phänomens zu sehen, ist ein Artefakt unserer Art, den Begriff Schmerz zu lernen. Unterscheiden wir in begrifflich in Schmerzsensorik (Nociception) und Schmerzaffekt (Nocivaluation). So könnten wir auch aberrante Schmerzphänomene erfassen, in denen ein Aspekt ohne den anderen vorkommt. Wir sollten offen sein für diese Möglichkeit. Was meine ich aber mit diesen beiden Unterbegriffen?

    Nocizeption ist die Detektion von Schädlichkeit durch spezialisierte Transduktoren oder Sinneszellen.

    Nocizeption greift auf, dass Schmerzen Wahrnehmungserlebnisse sind: Wir erkennen mit Schmerzen etwas über die Welt außerhalb unseres Geistes – dass uns heiße Herdplatten, Stürze oder Säuren schaden. Grice (1962) vertrat, dass Sinnesmodalitäten dadurch die Arten von Eigenschaften der Welt unterschieden sind, die sie erfassen. Wenn wir durch Schmerzen Schädlichkeit in der Welt erfassen, dann konstituieren Schmerzen eine Sinnesmodalität, ähnlich wie Sehen, Hören, Schmecken. Mit dem Sehen erfassen wir die Farben der Welt, mit dem Schmerz die Schädlichkeit in ihr. Menschen mit Analgesie, denen die Fähigkeit zum Schmerz fehlt – die also „schmerzblind“ sind – erfassen diese Eigenschaft nicht. Dadurch setzen sie ihren Körper häufig Schädigungen aus, ohne es zu merken – ähnlich wie ein Blinder sich häufig sichtbarem Licht aussetzt, ohne es zu bemerken. Schmerz ist der Sinn, der auf Schädlichkeit spezialisiert ist.

    Es ist beeindruckend, dass wir diese Gemeinsamkeit von so unterschiedlichen Dingen wie heißen Herdplatten, Stürzen und Säuren überhaupt erfassen. Denn aus der Sicht eines Physikers haben diese nicht viel gemeinsam: Hitze ist bedingt durch die mittleren kinetischen Energie von Molekülansammlungen, Säuren sind chemische Stimuli, Stürze mechanische. Sie teilen eigentlich nichts außer ihrer Schädlichkeit. Trotz dieser Varianz in den schmerzhaften Stimuli besitzen wir spezialisierte Nervenzellen, die Nociceptoren, die genau den Bereich dieser unterschiedlichen Spektra erfassen, in denen ein Reiz in diesen Spektra schädlich wird: zum Beispiel Hitze über 40°C, ab der Proteine denaturieren; Säure über einem gewissem PH-Wert, der Zellwände angreift; mechanische Verformung ab einer bestimmten Kraft, die Gewebe durchbricht etc. Diese spezialisierten Sinneszellen wandeln also die Anwesenheit von Schädlichkeit in dessen unterschiedlichen Modalitäten und Manifestationen in interne Systeminformation um, die amodal ist: elektrische Impulse. Nociceptoren sind demnach spezialisierte Transduktoren (Umwandler) und können, ähnlich wie die Stäbchen und Varianten der Zäpfchen der Retina, als komplexes Sinnesorgane angesehen. Mit diesem breit verteilten Sinnesorgan erfassen wir den für uns als verletzbare Wesen wichtigsten Aspekt der Welt: ihre Schädlichkeit.

    Demgegenüber steht die Nocivaluation, die die emotionalen Leidenskomponente erfasst: Nocivaluation ist die negative Evaluation von Schmerzerlebnissen, die diesen einen negativen Wert zuweist und dadurch gewisse Handlungen motiviert ohne sie reflexhaft zu verursachen.

    Leiden mag nicht unbedingt identisch sein mit Nocivaluation, aber wenn wir unter Schmerzen Leiden, dann findet auch Nocivaluation statt. Leid hat eine emotionale Komponente, und Emotionen sind eng mit dem Empfinden von Wertigkeiten verbunden (vgl. Todd 2014). Die Emotion, die sie gegenüber Ihrer Schmerzwahrnehmung haben, gibt Ihnen den Wert dieses Erlebens an – und dieser ist paradigmatisch negativ. Aber diese Emotion zwingt Sie nicht zum reflexhaften Handeln. Wenn Sie meine Wette annehmen, dass Sie nicht länger als 1 Minute Ihre Hand in kaltes Wasser halten können, dann werden Sie ab einem gewissen Punkt die Kälte als schmerzhaft empfinden. Aber die Freude auf Gewinn bringt Sie dazu, dieses negative Erleben auszuhalten. Sie reagieren nicht reflexhaft, auch wenn Sie das Erlebnis als negativ empfinden. Emotionen erlauben es, unterschiedliche Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen. Die emotional vermittelten Wertigkeiten entsprechen einer internen „Währung“, in der unser innerer Buchhalter Optionen vergleicht.

    Mit dieser begrifflichen Unterscheidung können wir die Frage stellen: Können Nociception und Nocivaluation voneinander getrennt auftreten?

    Nocivaluation ohne Nociception ist möglich. Wahrnehmungen müssen veriridisch sein (Burge 2010), daher sind folgende Daten Beispiele für diese Trennung: Zadra et al. (1998) fanden Berichte über Schmerzen im Traum in 49,8% der untersuchten Traumberichte, wobei die Schmerzen, die berichtet wurden, nicht zum Körperzustand während des Träumens passen. Im Traum gibt es zwar Erleben, aber keine Wahrnehmung – eben weil uns der Traum größtenteils über die Umwelt täuscht. Oder erwägen Sie die Thermal Grill Illusion (Defrin et al 2002, Lindstedt et al 2011): Legen Sie Ihre Hand auf ein Gestänge aus unterschiedlichen warmen und kühlen Röhren, so wird ein Schmerz empfunden, der aber nicht durch der Aktivierung von Nociceptoren entstanden ist. Hier tritt also eine Schmerzhalluzination auf, die dennoch schmerzhaft ist, der aber die Veridikalität von Wahrnehmung fehlt: Von dem Gestänge geht keine Schädigung aus. Oder denken Sie an neuropathischen Schmerz, der durch eine Schädigung der weiterleitenden Neurone im Rücken verursacht wird. Hier liegt natürlich eine Schädigung vor, aber der gespürte Schmerz stellt die Schädigung falsch dar: Er wird nicht im Rückenmark gespürt, sondern an der Stelle, von der normalerweise die beschädigten Fasern aktiviert werden. In all diesen Fällen wird ein erlebter Schmerz als negativ wahrgenommen, ohne dass eine Wahrnehmung vorliegt: Nocivaluation kann daher ohne Nociception vorkommen.

    Wie sieht es mit Nociception ohne Nocivaluation aus – Schmerzwahrnehmung ohne Leid? Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die Schmerzasymbolie (Rubins and Friedman 1948, Berthier et al. 1988, Grahek 1995, 2007): Eine Schmerzasymbolikerin kann einen ansteigenden Stimulus danach bewerten, wann der Stimulus schmerzhaft wird, wo der schmerzhafte Stimulus ist, und wie schmerzhaft er ist. Die Antworten sind dabei vergleichbar mit denen nicht-pathologischer Personen. Jedoch zeigt die Schmerzasymbolikerin keinerlei emotionale Reaktion auf das, was sie selbst „Schmerz“ nennt: Kein Grimassieren, kein Zurückziehen. Es gibt jedoch keine geborenen Schmerzasymboliker: Eine Läsion verursacht Schmerzasymbolie im Erwachsenenalter. Alle Schmerzasymboliker haben daher wie wir den Begriff „Schmerz“ anhand von paradigmatischen Beispielen erlernt. Und trotz der emotionalen Neutralität ihrer „Schmerzen“ besitzt das, was sie in diesen Testsituationen fühlen, genug Eigenschaften, um ihrem Ermessen nach „Schmerz“ genannt zu werden. Die Debatte, ob hier wirklich von „Schmerz“ zu sprechen ist, ist wenig zielführend. Offensichtlich ist, dass hier Nociception ohne Nocivaluation auftritt.

    Vielleicht ist das Gefühl des Schmerzes für den Schmerzasymboliker ähnlich, wie wenn wir ein scharfes Thaigericht essen: Das Capsaicin der Chilis in der Thailändischen Küche regt die Schmerzrezeptoren an – Gerichte sind also eher schmerzhaft scharf als dass sie scharf schmecken. Dennoch gibt es viele Esser (mich eingeschlossen), die diese Schärfe lieben. Wir spüren also die Reaktion unserer Schmerztransduktoren ohne dies negativ zu bewerten – was ein nicht-pathologisches Beispiel für Nociception ohne Nocivaluation wäre.

    Ich halte diese Beispiele für überzeugend genug, um davon auszugehen, dass Affekt und Sensorik im Schmerz nur kontingenterweise verknüpft sind. Paradigmatischer Schmerz ist zusammengesetzt aus diesen Teilen. Aber gerade die Fixierung auf paradigmatisches verstellt den Blick auf eine tieferliegende Struktur innerhalb von Schmerzen, die neue Möglichkeiten für Manipulation und Linderung bietet.


    PS: Für einige empirische Ergebnisse bezüglich emotionaler Regulation und Schmerz siehe bspw. Morone et al. 2008, Bomholt et al. 2005, Perlman et al. 2010, Kabat-Zinn et al. 1985, Mills & Farrow 1981.)

    • International Association for the Scientific Study of Pain, Subcommittee on Classification (1986). Pain Terms: A Current List with Definitions and Notes on Usage. Pain (Supplement 3), p. 354–361.
    • Berthier, M., S. Starkstein & R. Leiguarda (1988). Pain Asymbolia: A Sensory-Limbic Disconnection Syndrome. Annals of Neurology 24, p. 41–49.
    • Bomholt, S. F., J. D. Mikkelsen & G. Blackburn-Munro (2005). Antinociceptive effects of the antidepressants amitriptyline, duloxetine, mirtazapine and citalopram in animal models of acute, persistent and neuropathic pain. Neuropharmacology 48 (2), p. 252–263.
    • Defrin, R., A. Ohry, N. Blumen, & G. Urca (2002). Sensory determinants of thermal pain, Brain 125, p. 501–510.
    • Grahek, Nikola (1995). The sensory dimension of pain. Philosophical Studies 79 (2), p. 167-84.
    • Grahek, Nikola (2007). Feeling Pain and Being in Pain. MIT Press.
    • Grice, H. P. (1962). Some remarks about the senses. In R. J. Butler (ed.), Analytical Philosophy, First Series. Oxford University Press.
    • Kabat-Zinn, J., L. Lipworth & R. Burney (1985). The clinical use of mindfulness meditation for the self-regulation of chronic pain. Journal of Behavioral Medicine 8(2), p. 163–190.
    • Lindstedt, F., B. Johansson, S. Martinsen, E. Kosek, P. Fransson & M. Ingvar (2011). Evidence for thalamic involvement in the thermal grill illusion: An fmri study, PLoS ONE 6 (1), p. 1–13.
    • Mills, W.J. & J. T. Farrow (1981). The transcendental meditation technique and acute experimental pain, Psychosomatic Medicine 43 (2), p. 157-164.
    • Morone, N. E., C. M. Greco & D. K. Weiner, D. K. (2008). Mindfulness meditation for the treatment of chronic low back pain in older adults: a randomized controlled pilot study. Pain 134 (3), p. 310–319.
    • Perlman, D. M., T. V. Salomons, R. J. Davidson, & A. Lutz (2010). Differential Effects on Pain Intensity and Unpleasantness of Two Meditation Practices, Emotion 10(1), p. 65–71.
    • Rubins, J. L. & E. D. Friedman (1948). Pain asymbolia, Archives of Neurology and Psychiatry 60, p. 554–573.
    • Todd, Cain (2014). Emotion and Value. Philosophy Compass 9 (10), p. 702–712.
    • Zadra, A. L., T. A. Nielsen, A. Germain, G. Lavigne & D. C. Donderi (1998). The nature and prevalence of pain in dreams, Pain Res Manage 3 (3), p. 155–161.