Generierungsformen der Zukunft

Die Komplexität des Zukunftshorizontes einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ergibt sich daraus, dass die skizzierten Faktoren auf alle denkbaren Weisen miteinander kombiniert werden können.

    Mit Niklas Luhmann kann man unterscheiden zwischen der Zukunft als „future present“, der zukünftigen Gegenwart, die so sein wird, wie sie eben sein wird, aber uns noch nicht bekannt ist und der „present future“, also der gegenwärtigen oder vorgestellten Zukunft als dem Reich des Möglichen, Wahrscheinlichen, Erhofften und Befürchteten.[1] Letztere ist immer vielgestaltig und komplex. Dies hat im Wesentlichen vier Gründe: Menschen reden meist nicht über die Zukunft als solche, sondern vielmehr immer über die Zukunft von etwas, des Vaterlandes, der natürlichen Ressourcen, des Klimas, des Fernsehens, der Kultur, der Geschlechterverhältnisse oder Europäischen Union. Zweitens führen Menschen grundsätzlich ein zukunftsgerichtetes Leben und damit variieren ihre Zukunftsvorstellungen nach genau den gleichen Kategorien wie auch andere Einstellungen und Verhaltensweisen, also nach Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Bildungsstand, Einkommen und Wohnort. Neben den Individuen bilden auch Kollektive Zukunftsvorstellungen aus, die nicht unbedingt kongruent sein müssen. Drittens verfügen wir über verschiedene Modi des Zukunftsbezugs, die nicht aufeinander reduziert werden können. Wir können zukünftige Ereignisse erhoffen, ersehnen, erträumen und wünschen genauso wie wir sie erahnen, befürchten oder ihnen mit Sorgen entgegensehen können, wenn sie uns drohend bevorstehen. Wir können zukünftige Handlungen vorhaben, planen, entwerfen, vorausberechnen, beabsichtigen, bezwecken und auf sie hinsteuern, sie aber auch prophezeien, weissagen, ankündigen, verkündigen, offenbaren, prognostizieren, vorhersagen oder voraussagen. Wir können vor der Zukunft warnen, etwas für die Zukunft, uns aber auch etwas von ihr versprechen oder sie kann uns schlicht vorschweben. Viertens schließlich variieren die zeitlichen Dimensionen von Zukunftsvorstellungen, die den nächsten Morgen oder Monat, den eigenen Lebensabend oder die Lebenswelt kommender Generationen betreffen können.

    Die Komplexität des Zukunftshorizontes einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ergibt sich daraus, dass die skizzierten Faktoren auf alle denkbaren Weisen miteinander kombiniert werden können: In jedem sprachlichen Modus können Individuen, Kollektive und Institutionen Zukunftsvorstellungen über jeden beliebigen Gegenstandsbereich zu unzähligen Zeitpunkten unterhalten. Daher verbieten sich generalisierende Aussagen über die Gestalt der Zukunft, zum Beispiel über die angeblich pessimistischen 1920er oder die zukunftseuphorischen 1960er Jahre, die dann den düster pragmatischen 1970er Jahren weichen mussten, eigentlich von selbst, auch wenn sie überall zu lesen sind. Letztlich sind sie alle unzulässige Vereinfachungen, die die Zukunftsperspektive einer bestimmten Trägergruppe über einen spezifischen Gegenstandsbereich verallgemeinern, anstatt sich der Heterogenität und Komplexität des Zukunftshorizontes anzunehmen. Wie kann das aber geschehen?

    Zusammen mit Benjamin Herzog argumentiere ich, dass eine integrierende Perspektive auf die Geschichte und Gegenwart der Zukunft nicht möglich ist, wenn man von den Inhalten der Zukunftsvorstellungen ausgeht. Stattdessen plädieren wir dafür, sich auf die Generierungsmodi der Zukunft zu konzentrieren.[2] Bei der sprachlichen Erzeugung und praktischen Festlegung von Zukunft unterscheiden wir idealtypisch vier Modi: Erwartung, Gestaltung, Risiko und Erhaltung. Erwartungszukunft bezeichnet die Zukunft, deren Öffnung Reinhart Koselleck in der sogenannten Sattelzeit um 1800 mit dem Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont beobachtet hat,[3] im Rahmen derer sich im 19. Jahrhundert die politischen Ideologien und Geschichtsphilosophien bewegten und deren Ende vielfach in der sogenannten Postmoderne im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts diagnostiziert wurde. Im Unterschied zur Erwartungszukunft hat die Gestaltungszukunft eine aktivistischere Komponente. Idealtypisch kommt sie im Begriff der Planung zum Ausdruck, dessen Hochphase von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre reichte. Zukunft wird hier als in konkreten Schritten verwirklichbar gedacht, wobei immer verschiedene Gestaltungskonzepte im Konflikt stehen. Obschon der Gedächtnis- und Erinnerungsboom seit den 1970er Jahren oft als Gegenbewegung zu den Zukunftsgestaltungsambitionen der vorangegangenen Jahrzehnte verstanden wird, wird doch auch hier eine Form von Zukunft generiert, die man Bewahrungszukunft nennen kann. Es wird festgelegt, was aus der Gegenwart in der Zukunft erinnert werden soll oder, etwa im Denkmalschutz, dass die Zukunft nicht wesentlich anders aussieht als die Gegenwart. Davon wiederum grundsätzlich verschieden ist die seit den 1980er Jahren zunehmende Generierung von Zukunft im Modus des Risikos. Hier wird weder eine bestimmte Zukunft erwartet noch gestaltet, sondern es werden mit Wahrscheinlichkeiten versehene Szenarien entworfen, auf die es sich vorzubereiten gilt.

    Auch wenn die verschiedenen Modi der Zukunftsgenerierung jeweils bestimmte Hochphasen hatten, lösten sie einander doch nicht ab, sondern traten nebeneinander und addierten sich auf, so dass sich der Zukunftsbezug bis in unsere Gegenwart pluralisiert hat. Auch dies macht die Komplexität der Zukunft aus, aber anders als die Inhalte der Zukunftsvorstellungen bieten ihre Generierungsformen vielversprechendere Ansatzpunkte, um die wesentlichen politischen, sozialen und kulturellen Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts als Zukunftskonflikte zu begreifen.


    [1] Niklas Luhmann, The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43 (1976), S. 130–152. [2] Rüdiger Graf / Benjamin Herzog: Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42.3 (2016). [3] Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 349–375.