Urteilsfähige Patientinnen und Patienten haben heute ein Anrecht darauf, über Behandlung und Betreuung in Medizin und Pflege selber zu entscheiden. In der Bundesverfassung wird dem Menschen ein grundsätzliches Anrecht auf physische und psychische Integrität gewährt. Da ein medizinischer Eingriff eine Körperverletzung darstellt, muss der Patient oder die Patientin die Einwilligung dazu geben und kann einen geplanten Eingriff auch verweigern (Naef, Baumann-Hölzle & Ritzenthaler-Spielmann, 2012).
Wie ist das aber bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder schwerer mehrfacher Behinderung? Wie ist das bei Personen, die vor dem Gesetz als nicht „Handlungsfähig“ gelten und für die eine Beistandschaft eingerichtet wurde? Dies ist im neuen Erwachsenenschutzgesetzt geregelt. Auch Kinder können einer medizinischen Massnahme zustimmen oder sie ablehnen, wenn sie als entscheidungsfähig eingestuft sind. Das heisst, wenn sie 1) die Krankheit, 2) deren Folgen, 3) die Folgen der Massnahmen oder die Folgen der zu treffenden Entscheidungen verstehen und 4) ihren Willen formulieren können. Ist dies nicht der Fall, müssen die Ärzte und die Pflegenden gemäss Art. 77 nZGB den mutmasslichen Willen der Person eruieren. Das heisst, sie müssen herausfinden, was die betroffene Person wollen würde, wenn man sie fragen könnte. Dabei werden frühere mündliche Äusserungen der Patientin, Aussagen von Personen, welche die Patientin als Vertreterin in medizinischen Angelegenheiten bestimmt hat, Aussagen von anderen nahestehenden Personen und Aussagen von gesetzlichen Vertretern beigezogen (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 2013).
Wenig Selbstbestimmung bei medizinischen Entscheidungen
Im Rahmen des Forschungsprojektes Palcap-Palliative Care in den Wohnheimen der Behindertenhilfe untersuchten wir die Selbstbestimmung von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung oder schweren mehrfachen Behinderung bei medizinischen Entscheidungen. Wir stellten fest, dass bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung deutlich öfter auf lebensverlängernde Massnahmen verzichtet wird als bei Personen mit einer anderen Behinderung. Die Daten zeigten zudem, dass die Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung deutlich weniger stark bei den Entscheidungen einbezogen wurden, als Personen mit anderen Behinderungen (Wicki & Meier, 2015; Wicki & Hättich, 2016).
Wo liegt das Problem?
Im Rahmen des Projektes wurden problemzentrierte Interviews in Gruppen mit Betreuenden durchgeführt und gefragt was Sie unter Selbstbestimmung verstehen. Die Aussage einer Wohngruppenleitung zeigt deutlich, wo das Problem liegt
«Ja und ich denke etwas ganz Wichtiges ist, wenn man von Selbstbestimmung redet, sie können nur das selbstbestimmen, was sie auch verantworten können, wo sie die Konsequenzen auch tragen können, beziehungsweise wo wir sagen, die können sie tragen. ich kann ihn nicht entscheiden lassen, willst du jetzt nichts trinken oder willst du etwas trinken. Ich glaube, ich könnte ihn nicht, äh, von meinem Auftrag her, nicht verdursten lassen.» (Gruppenleitung, Interview F).
Selbstbestimmung scheitert oft im Spannungsfeld zwischen dem Ermöglichen von Selbstbestimmung und der Verantwortung, welche man als Betreuungsperson oder auch als Beistand tragen muss. Dies bringt uns zum Begriff der assistierten Autonomie.
Autonomie assistieren
Der erwachsene, entscheidungsfähige Mensch ist in der Ausübung seiner Autonomie auf die Anerkennung und Unterstützung anderer angewiesen (Brauer, 2008). Dies ist bei Menschen mit einer Behinderung besonders wichtig. Denn bei Menschen mit einer Behinderung, insbesondere bei solchen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, zeigt sich eine ganz besondere Situation.
Während bei den meisten Leuten vielleicht erst im Laufe des Lebens einmal die Frage auftaucht, ob die Person noch urteilsfähig ist oder nicht, stellt sich bei den Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung oder schweren, mehrfachen Behinderung die Frage anders.
Hier muss man es explizit ermöglichen, dass Selbstbestimmung ausgeübt werden kann. Besonders auch bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende. Das heisst, es geht nicht nur um die Frage, ob jemand urteilsfähig ist oder nicht, sondern vielmehr, wie kann man erreichen, möglichst nahe an die Wünsche und das Urteil der Person zu kommen. Das heisst, die Autonomie muss assistiert, begleitet und unterstützt werden.
Eine systematische Konzeptualisierung von Assistenz für den Bereich der Personen Behinderung hat in der Heilpädagogik Georg Theunissen erarbeitet, der Lars Mohr (2006) hat diese in einem Artikel gut zusammengefasst. Theunissen unterscheidet die lebenspraktische Assistenz (die pragmatische Hilfen zur Alltagsbewältigung), die Dialogische Assistenz (die Herstellung und Fundierung einer vertrauensvollen Beziehungsgestaltung und kommunikativen Situation) die Konsultative Assistenz (die gemeinsame Beratung in Bezug auf psychosoziale Probleme, Lebenspläne, Lebensziele, Zukunft), die Advokatorische Assistenz (die Anwaltschaft, Fürsprecherfunktion, Stellvertreter, Dolmetscher) sowie die Facilitatorische Assistenz (eine Art wegbereitende Unterstützung) (Mohr 2006). Um gemeinsam mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung über medizinische Entscheidungen sprechen zu können und ihre Wünsche zu erfassen, müssen oft sowohl dialogische, konsultative, advokatorische als auch facilitatorische Assistenzleistungen erfolgen. Um Betreuende, Angehörige und Ärzte dabei zu unterstützen, wurde kürzlich ein Arbeitsbuch mit einem Leitfaden entwickelt (Adler & Wicki, 2016).
Literatur
- Adler, J. & Wicki, M.T. (2016). Die Zukunft ist jetzt! Arbeitsbuch und Leitfaden. Zürich: Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik.
- Brauer, S. (2008). Die Autonomiekonzeption in Patientenverfügungen – Die Rolle von Persönlichkeit und sozialen Beziehungen. Ethik in der Medizin. 20 (3), 230–239.
- Mohr, L. (2006). Was bedeutet «Assistenz»? In Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 11, 18-23. Verfügbar unter http://edudoc.ch/record/3922/files/Mohr_11_2006.pdf
- Naef, J., Hölzle-Baumann, R. & Ritzenthaler-Spielmann, D. (2012). Patientenverfügungen in der Schweiz. Basiswissen Recht, Ethik und Medizin für Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen. Zürich: Schulthess.
- Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. (2013). Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Verfügbar unter http://www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/Aktuell-gueltige-Richtlinien.html
- Wicki, M. T. & Hättich, A. (2016). End-of-life decisions for people with intellectual disability – a Swiss survey. In International Journal of Developmental Disability. 62 (3), pp. 177–181. DOI: 10.1080/20473869.2015.1107363.
- Wicki, M. T. & Meier, S. (2015). Mit Leitlinien die Selbstbestimmung stärken? Effekte von Leitlinien auf Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 84 (1), 34–45.