„Zukunft" - kritisch betrachtet

Wenn philosophisch-kritisches Denken („critical thinking“) darin besteht, zunächst einmal nichts als gegeben zu akzeptieren, was als selbstverständlich gilt, dann ist es eine der ersten und vornehmsten Aufgaben einer philosophischen Beschäftigung mit Zukunft, sich zunächst einmal zu fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir naiv von „Zukunft“ sprechen.

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     - oder: warum die Natur keine Zukunft hat1

    Wenn philosophisch-kritisches Denken („critical thinking“) darin besteht, zunächst einmal nichts als gegeben zu akzeptieren, was als selbstverständlich gilt, dann ist es eine der ersten und vornehmsten Aufgaben einer philosophischen Beschäftigung mit Zukunft, sich zunächst einmal zu fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir naiv von „Zukunft“ sprechen.

    Im Rahmen unseres westeuropäischen Zeitdenkens2 gilt es als selbstverständlich, dass wir Menschen zeitbestimmte Wesen sind. Ebensowenig ziehen wir in Zweifel, dass Zeit zum einen mit uns „geschieht“ und dass wir andererseits Zeit konstituieren, und beides in mehrfacher Hinsicht: Wir sind endliche Wesen und wissen um unsere Endlichkeit, wir sind sterblich, wir messen Zeit, indem wir alle möglichen Geräte (Uhren) zu diesem Zwecke konstruieren, und wir kommunizieren und interagieren in einer zeitdefinierten Sprache. Zudem meinen wir im Kontext der Philosophischen Anthropologie, besonders in ihrer fundamentalontologischen Variante (Heidegger3), zu wissen, dass wir Dasein in der Zeit ebenso wie Zeit im Dasein, kurz: Sein und Zeit sind. Zusätzlich nehmen wir als gegeben an, dass wir immer in einer permanenten Gegenwart („nunc stans“4) leben; obwohl wir aus einer hermeneutischen Sicht (Gadamer) zugleich davon überzeugt sind, dass wir nichts als das Resultat unserer Vergangenheit sind und dass uns diese Vergangenheit und die Tatsache, dass wir das wissen („wirkungsgeschichtliches Bewusstsein“) „hinter unserem Rücken“ bestimmt und prägt.5

    Allerdings zeigt sich, sobald man die Betrachtungsweise der Philosophischen Anthropologie und Hermeneutik wissenschaftsphilosophisch erweitert, eine gewisse Asymmetrie in unserem Selbstverständnis als zeitliche Wesen. Theoretisch wissen wir nämlich, dass es so etwas wie eine eingeschriebene Richtung in unserer Zeitlichkeit geben muss, den sogenannten „Zeitpfeil“, in der Physik durch den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik definiert, die entropische Unumkehrbarkeit der Zeitrichtung. Wie nun aber jeder wissenschafts- und technikhistorisch Gebildete weiß, ist der Entropiesatz eine Abstraktion von einer technischen Einsicht in die fundamentalen Funktionsprinzipien einer Dampfmaschine, zuerst von Sadi Carnot formuliert und dann physikalisch verallgemeinert von William Thomson, später besser bekannt als Lord Kelvin6.

    Diese – einstweilen nur technologisch-wissenschaftsphilosophisch konstatierte - Asymmetrie wird noch deutlicher, wenn wir zusätzlich noch einen weiteren Aspekt unseres Zeitdenkens in Rechnung stellen. Normalerweise pflegen wir nämlich drei verschiedene Extensionen (oder, wie die Existenzialisten sagen: Ek-stasen) von Zeit zu unterscheiden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf den ersten Blick scheinen diese bloß unterschiedliche Extensionen des ewigen linearen „Flusses der Zeit“ (J.J.C. Smart7) zu sein. Allein, bereits Aristoteles hatte in seinem berühmten Seeschlacht-Argument8 im 4. vorchristlichen Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, dass es - logisch gesehen – einen entscheidenden Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf der einen und Zukunft auf der anderen Seite gibt. Im eigentlichen Sinne können nämlich nur Aussagen, die in der Vergangenheit (Plusquamperfekt, Perfekt, Imperfekt) oder Gegenwart (Präsens) formuliert sind, wahr oder falsch sein, d.h. einen Wahrheitswert haben. Aussagen, die sich auf Ereignisse in der Zukunft beziehen (futurische Aussagen) dagegen sind weder wahr noch falsch, so lange sie nicht zu Aussagen im Präsens oder im Perfekt, Imperfekt oder Plusquamperfekt transformiert worden sind.

    Bei noch genauerer kategorialer Analyse zeigt sich, dass dieser Befund mit einer modalen und einer quantitativen Differenz korrespondiert: Während wir im Präsens, Perfekt, Imperfekt und Plusquamperfekt über gegenwärtige und vergangene Wirklichkeit reden, sprechen wir in futurischen Sätzen über Möglichkeit. Das wiederum hat zur Konsequenz, dass wir bezüglich der Quantität, obwohl wir über je eine Zukunft zu sprechen scheinen, tatsächlich immer über verschiedene Zukünfte sprechen, sonst würden wir nicht über Möglichkeiten sprechen. Wenn wir also beabsichtigen, über die Zukunft im Singular zu sprechen, sprechen wir de facto immer über eine der vielen möglichen Zukünfte im Plural. Und um die vielen möglichen Zukünfte zu einer wirklichen Gegenwart gerinnen zu lassen, müssen wir Entscheidungen treffen und auf diese Weise realisieren, dass wir als Beobachter nicht nur Beobachter, sondern Mitspieler in dem Zeitspiel sind, das eben darin besteht, viele mögliche Zukünfte in die eine wirkliche Gegenwart (und Vergangenheit) zu transformieren.

    Um die Analyse der Spezifika des Redens von Zukunft zu vervollständigen, soll noch eine weitere Dimension in Erwägung gezogen werden: McTaggart9 hat bekanntlich darauf aufmerksam gemacht, dass es aus linguistischer Sicht mindestens zwei unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über temporale Beziehungen zu sprechen: Wir können Ereignisse nämlich sprachlich entweder entlang der Ausdrucksreihe „vergangen – gegenwärtig – zukünftig“ (die McTaggart als A-Reihe bezeichnet) oder „früher – (gleichzeitig) – später“ (nach McTaggart die B-Reihe) sortieren. Der Schlüssel zum Verständnis des entscheidenden Unterschiedes zwischen den beiden Reihen sprachlicher Repräsentation von Zeit liegt offenbar im Begriff „gegenwärtig“: Währende die B-Reihe allein die Relation zwischen Ereignissen ausdrückt, bezieht sich die A-Reihe auf die Relation von Ereignissen in Relation zu einem Beobachter (der, wie ausgeführt, ein mitspielender Beobachter in Spiel der Zeit ist). Nur in Bezug auf ein gegebenes „Ich“ oder „Wir“ macht es Sinn, ein Ereignis als „gegenwärtig“ zu bezeichnen, und Analoges gilt für „vergangen“ und – in der geschilderten modalen und quantitativen Differenzierung – für “ zukünftig“. Wenn wir aber die zeitliche Abfolge von Ereignissen, die wir mit der B-Reihe als „früher – (gleichzeitig) – später“ beschreiben, als das verstehen, was wir in einem anderen Sprachspiel „objektive Natur“ nennen, hat das zur Konsequenz, dass diese Natur keine Zukunft hat!

     


     

    Quellen:

    1 Die folgenden Überlegungen sind ein überarbeiteter und ins Deutsche übersetzter Auszug aus: W.Ch. Zimmerli, „Human Responsibility for Extra-Human Nature: An Ethical Approach to Technofutures”, in: C.Deane-Drummond/S. Bergmann/B. Szerszynski (eds.), Technofutures, Nature and the Sacred, Farnham/Burlington: Ashgate 2015, 17-30, bes. 18-20

    2 .Vgl. im Folgenden W.Ch. Zimmerli/M. Sandbothe (Hrsg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, 1993, 2. Aufl. Darmstadt: WBG 2007; W.Ch. Zimmerli, „Zeit als Zukunft“, in: M. Sandbothe/W.Ch. Zimmerli (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt: WBG 1997, 126-147.

    3 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 1927, 15.Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 1979.

    4 Diese seit dem Platonismus diskutierte Formel hat wieder neue Aktualität in der Neuropsychologie gewonnen; vgl. etwa E. Pöppel, „The Brain’s Way to Create ‚Nowness’“, in: H. Atmanspacher/E. Ruhnau (eds.), Time, Temporality, Now, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1997, 107-120.

    5 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1960, 4. Aufl.Tübingen: Mohr Siebeck 1965, 324 ff.

    6 Vgl.S.G. Brush, The Kind of Motion We Call Heat. A History of the Kinetic Theory of Gases in the 19th Century, 2 vols., Amsterdam/New York/Oxford: North-Holland Publ. 1967.

    7 Vgl. J.J.C. Smart, „Der Fluss der Zeit“, 1949, dt. in Zimmerli/Sandbothe (Hrsg.), a.a.O., 106-119.

    8 Aristoteles, De Interpretatione, in: Aristotelis categoriae et liber de interpretatione, ed. L. Minio-Paluello, Oxford: Oxford UP 1949.

    9 8 J.M.E. McTaggart, "Die Irrealität der Zeit", 1908, dt. in Zimmerli/Sandbothe (Hrsg.), a.a.O., 67-86, bes. 68 ff.