Die neue Heimat. Warum das Leben immer provisorisch ist

Jede Generation, die sich an ihre Rahmenbedingungen anpasst, entdeckt hinter allen Provisorien Orte für sich, an denen sie sich wirklich „daheim“ fühlt. Das gilt auch für die „Digitalen“, die mental und geographisch mobil ist.

    Jede Generation, die sich an ihre Rahmenbedingungen anpasst, entdeckt hinter allen Provisorien Orte für sich, an denen sie sich wirklich „daheim“ fühlt. Das gilt auch für die „Digitalen“, die mental und geographisch mobil ist. Der Wunsch nach Rückzug und räumlicher Verankerung in einer zunehmend entgrenzten und virtuellen Welt wird auch in ihnen immer größer. Sie suchen Orten der Anbindung, der Einbindung und einer Kommunikation, die durch etwas Greifbares verbunden sind. Sie wollen ein reflektiertes Leben in einem Rahmen, der ihnen Sicherheit und Halt gibt, aber auch Veränderung nicht ausschließt.

    „Unser Platz in der Welt ist keine E-Mail-Adresse und kein Facebook-Account, sondern ein Häuschen mit Gartenzaun. Heimat ist langweilig? Von wegen." Sagt Philipp Riederle, der mit seinem Buch „Wer wir sind und was wir wollen" zum Sprecher der Generation Y geworden ist. Schrankwand, Stricken, Einwecken, Hobbykeller und Schrebergärten sind seit einigen Jahren  wieder in. Trendforscher sprechen sogar von der „Generation Biedermeier". Die jungen Milden sind die, vor denen die Eltern der Digital Natives immer gewarnt haben, beschreibt er das aktuelle Lebensgefühl: „Wir wollen Spießer sein. Mit Ansage!"

    Bereits 2006 hatte der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens in seinem Buch „Die neuen Spießer" die sich abzeichnende neue Bürgerlichkeit erahnt, die allerdings nichts mit Gartenzwergidylle zu tun hat. Mit dem großen Traum verbindet Philipp Riederle Heimat und persönliche Bindungen, die für ihn wichtige Werte sind. Allerdings auch für die Generation von Markus Wasmeier: 1997 gründete er in seiner Heimat am oberbayerischen Schliersee ein Bauernhof- und Wintersportmuseum: „... ich brauche etwas für meine Seele, etwas, worauf ich stolz sein kann und nicht nur lukrative Werbeverträge" (viva! 2/2013). 

    Für Markus Söder, den ersten Heimatminister in Deutschland, ist Heimat zeitlos populär und verkörpert die Ursehnsucht des Menschen: „Die erste Frage lautet immer: Wo kommst Du her? Heimat ist das Gegenteil von Globalisierung, wo man an jedem Ort der Welt Gucci, Starbucks und McDonalds hat." (BUNTE 12/2014) Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Lokalgeschichten im Dialekt wie „Der Bergdoktor" auch im TV ein Revival erleben.

    Heimatsehnsucht war besonders in Deutschland leider immer wieder mit politischem Sprengstoff verbunden. Positive Heimatgefühle haben allerdings mit der „Blut und Boden"-Ideologie nichts zu tun. Lange war der Begriff verpönt. Heute ist er auf den Titelblättern auflagenstarker Zeitschriften zu finden und ein bekannter Agenturname, der mit der Sinnfrage „Was uns antreibt" verbunden ist.

    Der Vergleich zwischen Riederle und Goethe mag zunächst seltsam anmuten, aber ihre geistige Verwandtschaft wird offenbar, wenn man das Heimatverständnis von beiden vergleicht: Für Goethe war Heimat mit der Vorstellung verbunden, dass sie kein fester Ort ist. Er verließ Frankfurt, um an den Weimarer Hof zu gehen und von dort weiter nach Rom zu reisen. Ja, er war ein Weltbürger, brauchte aber physisch einen überschaubaren Raum, ein vertrautes Umfeld, zu dem er immer wieder zurückkehren konnte. Auch wenn sein Wirkungskreis sehr weit ausgedehnt war - ohne seine Nischen und einen vertrauten sozialen Raum hätte er seine Kreativität und seine Identität verloren.

    Philipp Riederle liebt seine schwäbische Heimat Burgau genauso wie seinen Geburtsort München: „Sie haben sicher ihre Spuren hinterlassen. Im globalen Dorf aber verwischen sie: Moskau und New York liegen direkt neben Burgau, das Museum of Modern Art kann ich genauso besuchen wie das Ulmer Münster." Dabei ist es ihm wichtig, immer wieder einen engen Bezug zu seiner unmittelbaren Umgebung herzustellen - eine Kultur der Nähe.

    • In Zeiten fortschreitender Mobilität und schwindender Sesshaftigkeit brauchen wir für unsere Identität eine Positivbewertung des Begriffs Heimat, der auch für Authentizität und Regionalität steht.
    • Je weiter wir reisen (und in virtuellen Welten surfen), desto mehr wollen wir geerdet sein. Identität braucht Begrenzung, Geborgenheit und eine Konstante im Leben.
    • Innere und äußere Stabilität, die mit Freundschaften und familiären Bindungen einhergeht, benötigt einen sinnerfüllten Lebensraum, der nicht in der virtuelle Welt zu finden ist.
    • Die Verankerung in einer lokalen Gemeinschaft (die auch wechseln kann) ist wichtig, weil wir zwar global kommunizieren und unterwegs sind, aber nicht im Globalen wohnen können.
    • Die Fähigkeit, Räume langsamer zu durchschreiten (bewandert statt erfahren sein) ist wichtig, weil es nicht nur darum geht, physisch von A nach B zu kommen, da auch die Seele mitreisen muss.
    • Erst der lokale Bezug zu bestimmten Kontexten, die an vielen Orten mit internationalen Aktivitäten vernetzt sind, macht Engagement authentisch und nachhaltig.

    Das Thema Heimat wirft weitere gesellschaftspolitische Fragen auf: Wie wollen wir leben? Was ist ein gutes Leben? Diese Frage aus Paolo Coehlos Buch „Die Schriften von Accra" ist für Arianna Huffington, Journalistin und Gründerin der Huffington Post, zugleich eine persönliche Frage, die unser aller Frage sein sollte. Heimat und Zeitgeist gehören für sie zusammen: Die Menschen können zwar nicht im Internet wohnen, aber sie gehen hier auf Sinnsuche. Beim Launch der deutschen „HuffPo" im Oktober 2013 propagierte sie ihre Idee der „Third Metric", eine dritten Ebene des Erfolgs, in deren Mittelpunkt Offenheit für das Leben, Mitgefühl, Geben und Teilen sowie Wohlbefinden und Gesundheit stehen.

    Vor allem Onlinemedien greifen dieses Bedürfnis auf und reagieren verstärkt auf den „Zeitgeist". Neben der internationalen Huffington Post gehört dazu auch das Internetportal „myheimat", für das viele Digital Natives wie Carolin Waldmann schreiben. Sie engagiert sich beim ambulanten Hospizdienst und in der Onlineberatung von Kindern und Jugendlichen. Für „myheimat" schreibt sie als Bürgerreporterin, weil sie teilen kann, was ihr am Herzen liegt. Wie viele ihrer Generation möchte sie aktiv an der Berichterstattung beteiligt sein und sie mitgestalten: „Gerne möchte ich bei myheimat auch Themen ansprechen, die unbequem sind oder eben einfach immer wieder angesprochen werden sollten, damit sich etwas bewegt."

    Am Thema Heimat wird sichtbar, wie sehr alle Generationen und Branchen doch miteinander verbunden sind, dass es immer um die Suche nach Nähe und Verbundenheit geht und fehlende Nachhaltigkeit immer mit Entwurzelung zu tun hat. Der Modedesigner Wolfgang Joop (Jahrgang 1944) beschreibt in seinem Buch „Im Wolfspelz", dass sich der Protagonist nach Heimat als einem Ort sehnt, wo sich jemand auf ihn freut. Auch hier gilt: "Home is where your heart is". Heimat ist für ihn auch Landschaft, verwachsen durch Zeit, sie ist ein Wechselspiel subtiler Veränderungen des Alltags, Kleiderwechsel der Natur, Ausdrucksform der Stille und Regeneration, aber auch Herkunftsort und Glück: „Ich will keine Reisen mehr, nicht mehr flüchten, nichts mehr entdecken. Ich bin sozusagen auf meiner letzten Tour - zu mir."

    Nachhaltigkeit und Glück haben demnach eines gemeinsam: beide sind um ihrer selbst willen erstrebenswert und immer persönlich.


    Literatur:

    Generationenwechsel @: Fragmente und Momente einer Gesellschaft im Übergang.  Amazon Media EU  S.à r.l. Kindle Edition 2016. Weitere Informationen

    Kleine Handlungen, große Wirkung. Ganz nah! Wo die Kraft der Gemeinschaft am besten gedeiht. Amazon Media EU  S.à r.l.  Weitere Informationen