Philosophie der Mathematik

Die Mathematik ist eine Wissenschaft und ein wissenschaftliches Unternehmen von herausragender Bedeutung und von ebensolchem Interesse.

    Sie spielt nicht nur eine ausserordentlich wichtige Rolle in den Natur-­ und technischen Wissenschaften, sondern ebenso in vielen Sozial-­ und in den symbolischen Wissenschaften. Und selbst im Alltag ist sie von eminenter Bedeutung.

    Die Philosophie der Mathematik ist diejenige philosophische Disziplin, welche die Wissenschaft der Mathematik, die mathematische Praxis, die so wichtige Rolle der Mathematik für zahlreiche andere Wissenschaften analysieren, interpretieren und verstehen will. In der Philosophie der Mathematik geht es um Fragen wie: Was ist mathematische Erkenntnis? Wie kommt mathematisches Wissen zustande? Warum wurde und wird mathematisches Wissen immer wieder als das höchste und sicherste wissenschaftliche Wissen betrachtet? Ist dies auch so? Diese und viele weitere derartige Fragen gehören zur Erkenntnistheorie der Mathematik. Andere Fragen betreffen den Gegenstandsbereich, die Untersuchungsobjekte der Mathematik: Existieren mathematische Objekte? Und wenn ja, welcher Art sind sie? Und wenn es sich um abstrakte Objekte handelt, auf welche Weise können diese erkannt werden? Und wenn nicht, wovon handelt dann die Mathematik? Wie ist die Tatsache zu erklären, dass die Mehrheit der Mathematiker glauben, dass es mathematische Objekte gibt, oder jedenfalls so tun, als ob sie dies glaubten? Diese und weitere solche Fragen gehören zur Ontologie der Mathematik. Und Fragen zur mathematischen Sprache und zur Wahrheit mathematischer Sätze usw. wiederum machen die Semantik der Mathematik aus.

    Philosophie der Mathematik ist eine interpretierende und verstehende Auseinandersetzung mit dem, was Mathematiker sagen, schreiben, tun, wenn sie Mathematik betreiben. Welcher Art ist diese Auseinandersetzung genau? Ist sie (ausschliesslich) deskriptiv - hermeneutisch? Oder ist sie kritisch-hermeneutisch? Darf sie die mathematische Arbeit, mathematische Theorien oder Sätze, oder die mathematische Praxis auch kritisieren, oder darf sie dies nicht?

    Der Mathematiker und Philosoph der Logik und Mathematik Paul Bernays vertritt die folgende Grundanforderung an einen adäquaten, vertretbaren Standpunkt in der Philosophie der Mathematik: Der Standpunkt muss dem modernen (oder jeweils modernsten) Stand der Mathematik gerecht werden. M.a.W., er darf nicht einen grösseren oder substanziellen Teil der modernen (bzw. modernsten) Mathematik kritisieren, ablehnen oder revidieren. Bernays' Standpunkt scheint eine milde bzw. schwache Form eines hermeneutisch-kritischen Ansatzes in der Philosophie der Mathematik zuzulassen. Für eine Kritik an der Mathematik unterscheidet er zwei Arten von Gründen: i) (Mathematik-) äussere, z.B. philosophische Gründe, ii) (Mathematik-)innere, technisch-mathematische Gründe. Gründe vom Typ i) hält er nicht für legitim, sie sind eine unberechtigte Zumutung von äusserer (z.B. philosophischer) Seite an die Mathematik. Eine Grundprämisse für diese Unterscheidung dürfte sein: Die Wissenschaft der Mathematik ist grosso modo gerechtfertigt, interessant, gut, so wie sie ist, und keine andere wissenschaftliche Disziplin ist berechtigt, sich über die Mathematik zu stellen und über sie zu urteilen. Nur Gründe vom Typ ii) sind legitim. Gründe vom Typ i) sind höchstens akzeptabel, wenn sie in Verbindung mit Gründen vom Typ ii) auftreten. Bernays wurde zurecht auch so interpretiert, dass er einen rein deskriptiv-hermeneutischen Zugang zur Philosophie der Mathematik ablehnen würde. Philosophische Überlegungen, Analysen und Hypothesen zur Mathematik können für Mathematiker und deren Arbeit nützlich sein, Orientierungshilfen, methodologisch produktiv. Philosophie der Mathematik kann nach Bernays mehr sein als ein philosophischer Nachvollzug einer quasi unantastbaren mathematischen Praxis und Theorie. Sie hat mindestens zwei Seiten: Sie will philosophisch verstehen, erhellen, aufklären einerseits; sie will aber auch dem Mathematiker Inputs geben, Modelle und Ideen zur Verfügung stellen, die für seine Arbeit interessant und allenfalls sogar brauchbar sind. Nach diesem Verständnis der Philosophie der Mathematik stellt sich die Philosophie andererseits nie über die Mathematik (sowenig sie sich einfach unter die Mathematik stellt).

    Ist Philosophie der Mathematik anwendungsbezogen, im mathematisch wissenschaftlichen Kontext relevant? Meine Antwort lautet mit Bernays: In begrenztem Ausmass und in einem bestimmten Sinne ja - und nur in diesem.

     

    Über den Autor

    Beitrag von Prof. Giovanni Sommaruga, ETH Zürich