Die Fähigkeit, ‘unseren Schuldigern’ zu verzeihen, ist ein altes christliches Ideal: Schon das Vaterunser enthält das Bekenntnis dazu,[1] Jesus wird häufig als verzeihend dargestellt,[2] und auch der christliche Gott ist immer wieder ein verzeihender.[3] Dieses Ideal finden wir in unterschiedlichen Formen auch in anderen Kulturen – sei es bei den antiken Griechen, im Buddhismus, im Hinduismus oder im Islam.[4] Und es ist kein geringes Ideal: In seinen besten Formen – bei Jesus, oder etwa bei Mandela oder Gandhi – erscheint uns das Verzeihen als Ausdruck von seltener Liebe und Grösse. Aber was genau bedeutet es, jemandem zu verzeihen; und warum eigentlich sollte das Verzeihen Ausdruck von Grösse und Liebe sein? Ich will im Folgenden versuchen, eine ganz grobe Antwort hierauf zu skizzieren.
Betrachten wir ein Beispiel. Nehmen wir an, Johann ist bei seiner Nachbarin Maria zu Besuch. Maria weist ihn extra auf eine Keramikvase aus dem Besitz ihrer Grossmutter hin, aber wenig später tanzt Johann durchs Zimmer, wirft die Vase zu Boden und zerstört sie unrettbar. Als Maria ihn voller Empörung anblickt, scheint er noch nicht einmal Schuld zu empfinden: statt sich zu entschuldigen, meint er nur unbekümmert, er sei schon immer ein Pechvogel gewesen. – Was muss geschehen, damit wir sagen würden, Maria hätte Johann das Zerstören der Vase verziehen?[5]
Zunächst einmal muss sie aufhören, ihm wegen der Episode zu grollen. Solange Maria gegen Johann wegen dieser Sache Groll hegt, hat sie ihm nicht verziehen. Allerdings würden wir nicht jedes Aufgeben von Groll als Verzeihen bezeichnen. Nehmen wir an, Maria merkt, dass es für sie besser wäre, wenn sie ihren Groll loswerden könnte (z.B. weil dieser ihr jegliche Energie raubt). Wenn sie sich dann aus pragmatischem Eigeninteresse heraus so lange mit Zerstreuungen ablenkt, bis der Groll verschwunden ist, dann hat sie Johann nicht verziehen. Das Verzeihen muss etwas mit Marias Wahrnehmung von Johann zu tun haben. Aber auch nicht jede Wahrnehmung von Johann, die sie befähigt, ihren Groll aufzugeben, wäre ein Verzeihen. Maria könnte etwa irgendwann glauben, dass Johann ihre Vase zerstören durfte (z.B. weil er ein Mann ist und sie eine Frau). Eine solche Wahrnehmung von Johann könnte zwar ihren Groll auflösen, aber wiederum hätte sie ihm dann nicht verziehen. Sie muss an der Überzeugung festhalten, dass Johann verantwortlich für einen moralischen Fehler war.
Aber wie kann sie hieran festhalten, und trotzdem keinen Groll mehr hegen? Interessanterweise erfüllen wohl nicht alle moralischen Fehler Maria mit Empörung. Wahrscheinlich empfindet sie etwa keine Empörung, wenn sie hört, dass jemand im Japan des 13. Jahrhunderts die Vase eines anderen zerstört hat. Das kümmert sie nicht; das ist ihr nicht wichtig.
Maria wird Johann also nur grollen, solange es ihr wichtig ist, dass er rücksichtsloserweise ihre Vase zerstört hat. Und dies kann ihr aus mindestens zwei Gründen wichtig sein. Einerseits könnte sie Johanns Handlung gewissermassen als Bedrohung ihrer moralischen Ansprüche empfinden: In Johanns Verhalten steckt implizit die Behauptung, dass man so mit Marias Gütern umgehen darf, und es kann Maria wichtig sein, gegen diese bedrohliche Behauptung zu protestieren. Andererseits könnte es ihr (auch ohne ein Gefühl von moralischer Bedrohung) einfach wichtig sein, den Schaden nicht ganz auf sich nehmen zu müssen, und von Johann etwas zu fordern: mindestens Reue, ein Versuch der Wiedergutmachung, eine Genugtuung, gewissermassen um das moralische Gleichgewicht wiederherzustellen.[6] Aber beides muss nicht sein. Maria muss die Episode nicht bedrohlich finden. Sie kann gewissermassen über dem Angriff stehen: sich ihrer Ansprüche so sicher sein, dass Johanns Behauptung sie nicht verunsichert. Und sie kann den Schaden auch hinnehmen: annehmen, dass das Erbstück unwiederbringlich verloren ist, und von Johann in Bezug auf diese Vase auch nichts mehr verlangen. Somit könnte ihr auch die rücksichtslose Zerstörung ihrer eigenen Vase – wie die jener Vase in Japan – irgendwann nicht mehr wichtig sein.
Diese Distanzierung ist gewiss nicht leicht. Aber zumindest das Annehmen des Schadens wird ihr wohl leichter fallen, wenn sie Wohlwollen gegenüber Johann empfindet. Vielleicht sieht Maria, dass Johann mehr ist als diese eine Handlung – dass er etwa manchmal unsensibel ist, aber auch ein liebevoller Zeitgenosse und im Ganzen ein argloser Nachbar. Oder sie sieht, dass Johann seit der Trennung von seiner Frau irgendwie neben sich steht, oder dass wir alle Fehler machen. Das alles muss Johann nicht völlig entschuldigen. Aber eine solche Wahrnehmung könnte ihr helfen, diese Episode auf die Seite zu tun.
Mir scheint nun, wenn sie auf diesem Wege die Geschichte begräbt, dann hat sie Johann verziehen. Das heisst, genauer: Maria würde Johann verzeihen, wenn sie (nicht aus Eigen- oder Desinteresse, sondern) aus Wohlwollen gegenüber Johann dazu kommt, dass ihr sein Fehlverhalten in dieser spezifischen Episode nicht mehr wichtig ist, und wenn sie dadurch Johann gegenüber keinen Groll mehr hegt.
All das ist ein schmaler Grat. Solcherlei Distanzierung kann leicht in Unterwürfigkeit, Gleichgültigkeit oder Überheblichkeit kippen – und dann wäre sie tief problematisch. Aber im besten Fall ist es, glaube ich, eine wichtige Tugend. Es ist eine besondere Form der Zuwendung, wenn wir jemanden ehrlich und uneigennützig wahrnehmen können, seine Fehler als menschlich betrachten und nicht als sein ganzes Selbst, und ihm Wohlwollen entgegenbringen. Hierher rührt wohl der Eindruck von Liebe.[7] Und es bedingt eine besondere Form von Unabhängigkeit und Genügsamkeit, wenn wir dem Urteil anderer und den Schlägen des Lebens mit Ruhe begegnen können. Daher kommt vielleicht der Eindruck von Grösse.[8]
[1] Vgl. Mt 6.12, Lk 11.4.
[2] Vgl. z.B. Lk 23.24.
[3] Vgl. z.B. Mt 6.14.
[4] Zumindest ähnliche Ideale scheinen ausgedrückt in vielen Schriften der Stoiker (z.B. Senecas De Ira), im buddhistischen Dhammapada (z.B. 223), in der hinduistischen Bhagavad Gita (z.B. V, 23), oder im Koran (z.B. Al Imran 134).
[5] Ich nehme im Folgenden an, dass Johann sich weiterhin nicht entschuldigt. Die Antwort auf meine Frage würde wohl etwas anders ausfallen, wenn Johann sich entschuldigen würde.
[6] Beide Aspekte beschreibt etwa Pamela Hieronymi in ‘Articulating an Uncompromising Forgiveness’ (2001), Philosophy and Phenomenological Research, 62, 3: 529-555.
[7] So eine Form der Liebe beschreibt etwa Iris Murdoch in The Sovereignty of Good (1970), London: Routledge.
[8] Diese Idee der Unabhängigkeit und Genügsamkeit haben etwa die Stoiker einflussreich beschrieben (z.B. Seneca in De Constantia Sapientis).