Seit die Menschenrechte erstmals formuliert wurden, stehen sie unter Kritik. Schon 1947 befürchtete die American Anthropological Association, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bloss „die in westeuropäischen Ländern und Amerika vorherrschenden Werte“ widerspiegeln würde.1 Kann die Philosophie zeigen, dass diese Kritik falsch ist und die Menschenrechte für alle Menschen gelten? Sicher kann sie nicht beweisen, dass es die Menschenrechte irgendwie einfach „gibt“. Sie sind wie alle Normen etwas, das von Menschen in Reaktion auf historische Erfahrungen gemacht wurde. Die Philosophie kann aber untersuchen, welches die leitenden Ideen hinter ihnen sind und was dafür spricht, gerade diese für verbindlich zu erklären.
Welche Ideen stecken also hinter den Menschenrechten? Oft denkt man an so etwas wie den Wert der individuellen Selbstbestimmung. Viele Menschenrechte schützen ja die Freiheit des Einzelnen, sein eigenes Leben so zu gestalten, wie er oder sie es selbst für richtig hält. Man denke etwa an die Religionsfreiheit oder die Freiheit der Berufswahl. Allerdings wenden Kritiker sofort ein, dass individuelle Selbstbestimmung nicht in allen Kulturen als wertvoll anerkannt ist. Während im Westen Individualität als wertvoll angesehen werde, sei dies in anderen Kulturräumen, etwa in Asien, viel weniger der Fall, wo die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Mit welchem Recht, so lautet nun der Vorwurf, verlangt man von Menschen, sich nach Werten zu richten, die in ihrer eigenen Kultur nicht diesen hohen Stellenwert haben?
Richtig an diesem Vorwurf sind zwei Dinge: Erstens haben Menschen in der Tat unterschiedliche Anschauungen darüber, was in letzter Hinsicht im Leben wertvoll ist. Diese Beobachtung kann man auch den „Pluralismus der Werte“ nennen. Zweitens sollten Menschenrechte so erläutert werden müssen, dass die leitenden Ideen hinter ihnen für jedermann nachvollziehbar sind. Denn Menschenrechte treten schliesslich mit dem Anspruch auf, von allen Menschen, gleich welcher Kultur sie entstammen, anerkannt zu werden.
Gerade diese beiden Erkenntnisse können aber die Grundlage für ein Argument bilden, warum man die Menschenrechte anerkennen sollte. Der erste Schritt des Arguments besteht darin, die beiden Erkenntnisse zu verallgemeinern. Was den Pluralismus der Werte betrifft, so ist zu betonen, dass er nicht allein zwischen verschiedenen Gesellschaften auftritt. Auch innerhalb einzelner Gesellschaften vertreten die Menschen unterschiedliche Ansichten über das, was in letzter Hinsicht wertvoll ist.2 Entsprechend verallgemeinert sich auch die Anforderung an die Rechtfertigung von Normen: Denn dies heisst, dass überhaupt alle Regeln, die in einer Gesellschaft mit Zwang durchgesetzt werden, den Anspruch erfüllen müssen, dass ihre leitenden Ideen für die Anhänger verschiedener Werte nachvollziehbar sind.
Der zweite Schritt soll nun zeigen, dass gerade vor dem Hintergrund des Pluralismus eine bestimmte Idee einsichtig wird: die Idee der rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Etwas genauer könnte man diese Idee damit umschreiben, dass vor den grundlegenden Regeln des Zusammenlebens alle Menschen gleich viel zählen sollten. Dies ist zunächst überraschend, denn in der Wirklichkeit wird eine solche Idee der Gleichheit oftmals nicht anerkannt. Selbst berühmte Philosophen haben die Sklaverei gerechtfertigt, die auf der radikalen Ungleichheit zwischen den Sklaven und ihren Besitzern beruht.
Das Argument für die Idee der Gleichheit lautet aber nicht, dass alle Menschen sie in irgendeinem Sinn schon akzeptieren. Vielmehr besagt es, dass Gleichheit das einzige grundlegende Prinzip ist, das angesichts des Pluralismus allgemein zustimmungsfähig ist.3 Denn niemand kann erwarten, dass gerade seine oder ihre persönlichen Werte zur Grundlage der für alle verbindlichen Regeln gemacht werden. Wenn man überhaupt zu einer gemeinsamen Grundlage kommt, dann nur, wenn jeder bereit ist, einen Schritt auf die anderen zuzugehen. Und dies bedeutet, sie alle als gleichberechtigt anzuerkennen.
Die Idee rechtlicher Gleichheit, zu der man auf diese Weise gelangt, ist freilich abstrakt und noch kein konkretes Recht. Viele Menschenrechte kann man aber so verstehen, dass sie diese abstrakte Idee für einen bestimmten Handlungsbereich konkretisieren. Nehmen wir das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Dieses schützt Menschen davor, von anderen willkürlich angegriffen oder eingesperrt zu werden. Es schützt sie also davor, dass andere ungleiche Macht über sie ausüben. Auch Freiheitsrechte lassen sich als Konkretisierung der Gleichheit auffassen. Wenn beispielsweise Religionsfreiheit (Art. 18) gilt, dann hat niemand mehr Rechte als andere über die öffentliche Ausübung von Glaubensüberzeugungen. Soziale Rechte wie das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22) schliesslich gewährleisten allen gleichermassen die Bedingungen ihres Daseins und bewahren sie vor eklatanten Formen von Ausbeutung, d.h. einer ungleichen Beziehung.
Natürlich ist die Behauptung, dass die Idee der rechtlichen Gleichheit für die Menschenrechte zentral ist, auch gewichtigen Einwänden ausgesetzt. So wird gesagt, dass Gleichheit für die internationale Politik – die eng mit den Menschenrechten verbunden ist – zu anspruchsvoll ist. Rechtliche Gleichheit mag eine Bedingung für innerstaatliche Gerechtigkeit sein – bei den international geltenden Menschenrechten sollte man sich aber auf einen kleinen Kern von Rechten konzentrieren.4
Richtig an dem Einwand ist, dass die Menschenrechte nicht alle Forderungen von Gleichheit enthalten, sondern nur besonders bedeutsame. Jedoch ist nicht überzeugend, dass wir auf internationaler Ebene vom Anspruch der Gleichheit generell abrücken sollten. Sicher kann es nicht darum gehen, Gleichheitsforderungen weltweit mit Gewalt durchzusetzen. Zumindest die begrenzte Unterstützung, die ihre Anerkennung im internationalen Recht bedeutet, sollten wir ihnen aber nicht versagen.
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1 Zitiert nach Johannes Morsink: The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting, and Intent, Philadelphia 1999, S. ix.
2 So spricht etwa der US-amerikanische Philosoph John Rawls vom „Faktum des Pluralismus“. Vgl. John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt / M. 1998, S. 106.
3 Dies ist eine sehr vereinfachte Version eines Gedankens, den u.a. der Frankfurter Philosoph Rainer Forst formuliert: Moralische Normen beruhen, wie er sagt, auf einer „Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit allgemein gerechtfertigter Prinzipien“. Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt / M. 2007, S. 179.
4 Diese Position vertritt John Rawls selbst in seinem Werk Das Recht der Völker, Berlin / New York 2002, §§ 8 und 10.