Lotzes Impulse einer „Metaphysik der Liebe“ und deren Aktualität

Am Ende des dritten Bands seines "Mikrokosmos“ im Kapitel "Der Zusammenhang der Dinge“ macht Lotze Ausführungen zu einem Thema, was über seine sonstigen Begriffe hinausgeht und eigentlich eher Metaphysik als Anthropologie berührt. Man kann es aber auch als versuchten Brückenschlag zwischen beiden – Metaphysik und Mikrokosmos – verstehen:

    „Das Gute an sich ist die genossene Seligkeit; die Güter, die wir so nennen, sind Mittel zu diesem Gut, aber nicht selbst das Gut, ehe sie in ihren Genuß verwandelt sind; gut aber ist nur die lebendige Liebe, welche die Seligkeit anderer will. Und sie ist eben das Gute an sich, das wir suchen; sie, indem sie Wirklichkeit hat als eine Bewegung des ganzen lebendigen Geistes, welche sich selbst weiß sich fühlt und sich will, ist eben deswegen nicht nur eine formale allgemeine Bedingung, unter der irgend einem Andern, das sie erfüllte, zukäme gut zu sein, ohne daß sie selbst es wäre; sondern die ist das Einzige, das in eigentlichem Sinne diesen Werth hat oder dieser Werth ist, und alles Andere, Entschlüsse, Gesinnungen, Handlungen und besondere Richtungen des Willen, alles Dies trägt nur abgeleiteter Weise mit ihr denselben Namen des Guten. …

    Keinerlei wesenlose unwirkliche und dennoch an sich ewig gültige Nothwendigkeit, weder ein Reich der Wahrheiten noch ein Reich der Werthe, ist früher als das erste Wirkliche, sondern das Wirkliche, welche die lebendige Liebe ist, entfaltet sich in die Eine Bewegung, die dem endlichen Erkennen sich in die drei Seitenkräfte des Guten, welche ihr Ziel ist, des Gestaltungstriebes, er es verwirklicht, und der Gesetzlichkeit zerlegt, mit welcher dieser die Richtung nach seinem Zwecke innehält. …

    Darauf müsste die Mühe der Ableitung gerichtet sein, aus dem Begriffe der höchsten Liebe zuerst das Dasein eines allgemeinen Mechanismus in dem Hergang aller Dinge, und dann aus dem Gesamtinhalt dessen, was die Liebe will, die bestimmte Form dieses Mechanismus zu entwickeln, welche der Erzeugung aller Wirklichkeiten mit immer gleicher Treue und beständiger Gesetzlichkeit genügt. …

    Aber nicht nur die verschiedenen sittlichen Ideen und die Formen der Wirklichkeit, auch die ewigen Wahrheiten vielmehr, die Summe dessen, was uns als denknothwendig und nicht anders sein könnend erscheint, müßte aus demselben Grunde der ewigen Liebe erklärt werden.“ (Lotze 1888: 615 ff).

    Mit diesen Gedanken zu einer Gesamtphilosophie der Liebe greift Lotze ein Thema auf, welche alle große Philosophie seit Platos „Symposium“ begleitet. Angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts und deren Reflexion in Theorien und Philosophien fällt das Thema jedoch deutlich aus dem Rahmen und wird daher auch von Lotze in anderen seiner zahlreichen Werke nie mehr mit dieser Deutlichkeit berührt.

    Doch es wird wiederaufgegriffen von jenem Denker, welcher auch in manch anderer Hinsicht wie kein anderer eine ähnliche Gesamtphilosophie wie Lotze vertritt: Max Scheler. Er denkt es in verschiedenen seiner Schriften weiter, so in „Wesen und Formen der Sympathie“, aber am deutlichsten in „Liebe und Erkenntnis“. Darin fällt unter anderem der starke Satz:

    „… alle Erweiterung und Vertiefung unsers Weltbildes ist an eine vorangängige Erweiterung und Vertiefung unserer Liebessphäre geknüpft. …“. Und darin macht er den Versuch, die menschliche Geistesgeschichte als Geschichte einer Philosophie der Liebe zu destillieren:

    „So fließt vom ältesten Aphrodite- und Eroskult bis zu den geistigen Hervorbringungen des Platon und Aristoteles eine noch fühlbare Kontinuitiät der Konzeption der Liebe als eines Agens positiven Schöpfungsdranges. Der ontischen Stufenleiter von Schöpfungsarten entspricht die Stufenleiter, in der der Geist, von der Liebe zu immer gesteigerten Gestalten und Formen der Welt fortgezogen, sich schließlich der Ideen, und unter ihnen der Idee der Ideen, der Idee des Schönguten selbst bemächtigt. …“

    Nach Platon und Aristoteles findet er diesen Faden besonders bei Augustinus:

    „Die Füllesteigerung in der Gegebenheit des Gegenstandes bei zunehmender Liebe und Interesse, ist ihm (Augustinus) nicht bloß eine Tätigkeit des erkennenden Subjekts, das in den fertigen Gegenstand eindringt, sondern gleichzeitig eine Antwortreaktion des Gegenstandes selbst: ein „Sichgeben“, ein „Sicherschließen“ und „Aufschließen“ des Gegenstandes, d.h. ein wahrhaftes „Sichoffenbaren“ des Gegenstandes. Das ist ein Fragen gleichsam der Liebe, auf das die Welt antwortet, indem sie sich erschließt und darin selbst erst zu ihrem vollen Dasein und Wert kommt.“

    Und von Augustinus geht er weiter zu Bruno, Pascal und Spinoza, die alle auf je ihre Weise diese Metaphysik der Liebe durch neue Gedanken bereicherten. Schließlich gelangt er zum Fazit:

     „Gewiss sind diese Ansätze nur wenige, und auch diese wenigen wurden nie ausgebaut. Aber schon dass sie da sind, ist darum von großer Tragweite …“ (Scheler 1991: 82ff.).

    Anders, doch ähnlich wie bei Lotze waren auch die politischen Situationen zu Schelers Zeit nicht förderlich zur Weiterführung dieser Ansätze „von großer Tragweite“. Erst nach den beiden Weltkriegen oder Weltkatastrophen regten sich wieder Denkansätze in dieser Richtung, sowohl in ontologischer als auch erstmals in fachwissenschaftlicher Perspektive.

    In ontologischer Hinsicht war es Teilhard de Chardin, welche ohne Bezug zu Lotzes oder Schelers Denkansätzen doch letztlich identische Gedanken entwickelte. Im seinem Buch „Die menschliche Energie“ führt er unter anderem aus:

    „Liebe ist die universellste, erstaunlichste und mysteriöseste aller kosmischen Energien. Nach Jahrhunderten zögerlicher Anstrengungen haben die gesellschaftlichen Institutionen sie äußerlich eingedämmt und kanalisiert. Diese Situation ausnutzend haben Moralisten versucht, sie Regeln zu unterwerfen. … In der Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit geben die Menschen vor, sie nicht zu kennen, obwohl sie überall unter der Oberfläche ist. Riesig, allgegenwärtig und ununterbrochen scheint diese ursprüngliche Kraft allen Hoffnungen zu widerstehen, sie zu verstehen und zu beherrschen. Sie ist überall unterhalb unserer Zivilisationsoberfläche lebendig. Wir sind uns ihrer bewusst, aber wir bitten sie nur darum, uns zu amüsieren oder uns nicht zu schaden. … Kann die Menschheit wirklich weiter leben ohne sich zu fragen, wie viel Wahrheit und Energie sie verliert, indem sie ihre unglaubliche Kraft der Liebe vernachlässigt? … Wir beherrschen bereits den Wind, das Meer und die Atomkraft. Doch die Zeit wird kommen, in der wir auch die Energien der Liebe meistern. Das wird unser Leben so sehr verändern wie einst die Meisterung des Feuers.“ (Chardin 1966: 23 ff.)

    Fachwissenschaftlich war es zeitlich fast parallel zu Chardin der Soziologe Pitirim Sorokin, Gründer und erster Leiter des Harvard-Instituts für Soziologie, welcher das Thema für die Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft konkretisierte. Im erstmals 1954 in Boston erschienenen Buch „The Ways and Power of Love: Types, Factors, and Techniques of Moral Transformation“ untersucht er und zeigt er, inwiefern alle wirklich bedeutenden sozialen Innovationen der Menschheitsgeschichte von einer Motivation ausgingen, die man nicht allein als Empathie oder Sympathie verstehen, sondern nur mit dem stärkeren und umfassenderen Begriff Liebe bezeichnen kann.

    Doch auch dieser konkrete Anfang einer Sozialwissenschaft, welche den Begriff der Liebe über romantische Beziehungen hinausgehend thematisiert, wurde erst einmal wieder fast völlig verdrängt. Sorokins Schüler Talcott Parsons, der ihm als Leiter des Harvard-Instituts für Soziologie folgte, etablierte die Anfänge einer System-Sozial-Theorie und machte Sorokins Theorie fast vergessen.

    So kamen weitere Forschungen der Bedeutung der Liebe für gesellschaftliche Evolution erst wieder nach der Jahrtausendwende auf. Der Neurobiologe und Systemforscher Umberto Maturana fasste sie 2010 zusammen im Buch „The Origin of Humaness in the Biology of Love“. Er zeigt, dass die Menschheitsgeschichte von zwei sehr verschiedenen Evolutionslinien gekennzeichnet ist: einer Linie der Liebe und einer Linie der Dominanz; und kommt wie zuvor bereits Sorokin zum Ergebnis, dass alle wirklich bedeutsamen sozialen Innovationen in der Linie der Liebe gelangen. Sowohl Sorokins als auch Maturanas Buch sind bisher nicht ins Deutsche übersetzt, das zeigt die nach wie vor Verdrängung des Themas durch den wissenschaftlichen Mainstream.

    Spannend ist, dass wiederum parallel zu Maturana aus ganz anderen Wissenschaften deutliche Stimmen für eine Erforschung der Liebe kamen. Dennis und Donella Meadows schrieben folgende Sätze:

    „In unserer Suche nach Wegen zur Ermutigung friedlicher Veränderungen eines Systems, das sich seiner eigenen Transformation ganz natürlich widersetzt, haben wir viele Mittel ausprobiert. Die offensichtlichsten haben wir ausgeführt – rationale Analyse, Daten-Sammlung, Systemdenken, Computermodellierung und klare Worte. Dies sind die Mittel, die alle, der in Wissenschaft und Ökonomik ausgebildet sind, automatisch begreifen. Sie sind nützlich, notwendig, aber nicht ausreichend. Wir wissen nicht, was ausreichend sein wird. Aber unsere Schlussfolgerung kommt zu anderen Mitteln, die unserer Erfahrung  nach nicht optional, sondern essentiell sind für jede Gesellschaft, die langfristig zu überleben hofft. … Es sind: Visionsbildung und Vernetzung, Wahrheitserzählung, Lernen und Lieben. … In der industriellen Kultur ist es nicht erlaubt, über Liebe zu sprechen, außer im romantischen und trivialen Sinn. …    Individualismus und kurzsichtige Interessen sind die größten Probleme der gegenwärtigen Gesellschaften, und die tiefste Ursache ihrer Nichtnachhaltigkeit. Liebe und Mitgefühl, in sozialen Formen institutionalisiert, sind die bessere Lösung. Eine Kultur, die an diese besseren menschlichen Qualitäten nicht glaubt, diese nicht diskutiert und entwickelt, leidet an einer tragischen Begrenzung ihrer Möglichkeiten. ... Die Menschheit muss lernen, die Idee eines lebendigen Planeten für zukünftige Generationen zu lieben.“ (2004: 269 ff.)

    An all diese Vorarbeiten dieser und anderer Forscher anknüpfend und diese für verschiedene Bereiche menschlicher Existenz weiterdenkend, veröffentlichten Gerald Hüther, Anselm Grün und ich erst vor kurzem ein Buch welches zumindest das Thema weiter verdeutlicht: „Liebe ist die einzige Revolution. Drei Impulse für Ko-Kreativität und Potenzialentfaltung“.

    Abschließend lässt sich resümieren, dass Lotzes Anfänge einer umfassenden Ontologie und Theorie der „lebendigen Liebe“ alles andere als eine mystische Marotte, sondern eine mutige Intuition war, die weit in die Zukunft reicht.


    Literatur:

    Lotze, Rudolf Hermann: Mikrokosmos. Leipzig 1888

    Hüther, Gerald/ Hosang, Maik / Grün, Anselm: Liebe ist die einzige Revolution. Drei Impulse für Ko-Kreativität und Potenzialentfaltung. München 2017

    Maturana, Umberto: The Origin of Humaness in the Biology of Love. Charlottesville 2008.

    Meadows, Dennis und Donella: Limits to Growth: The 30-Year Update. Chelsea 2004

    Scheler, Max: Liebe und Erkenntnis. In: Von der Ganzheit des Menschen, Bonn 1991

    Teilhard de Chardin: Die menschliche Energie. Olten 1966