Der Tod ist uns nicht geheuer. Keiner von den Lebenden hat ihn bereits erlebt und noch ist keiner von den Toten zurückgekehrt, um uns davon zu berichten. Bereits 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung hat es in der antiken Philosophie Überlegungen zum „schauerlichsten aller Übel“1 gegeben. Ein so schauerliches Übel ist der Tod wohlmöglich aufgrund der Ungewissheit, die wir mit ihm verbinden. Dabei ist nicht ungewiss, dass der Tod kommen wird, sondern wir wissen nicht, was das eigentlich heißt. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Sagen und Legenden und mindestens ebenso viele religiöse Vorstellungen vom Tod, an die die Menschen glauben. Doch wir wissen nicht, was es heißt, tot zu sein, so wie wir wissen, was es heißt, an einen Eiszapfen zu fassen oder ein Stück Schokolade zu schmecken. Wenn wir von allen Vorstellungen absehen, die sich in Religionen, Sagen und Legenden finden lassen, bleibt ein schnödes „nichts“ übrig – Totsein, das heißt einfach nur, dass man eben nicht mehr ist.
So hat es bereits der alte Grieche Epikur gesehen und fand genau darin einen guten Grund, warum wir uns nicht vor dem Tod fürchten müssen, denn wenn wir ihn nie erfahren können, so wie wir die Kälte eines Eiszapfens oder den Geschmack von Schokolade erfahren können, dann geht uns der Tod gar nichts an. Und wenn wir einmal tot sind, dann werden wir keinerlei Empfindungen mehr haben, mit denen wir die Erfahrung des Todes machen könnten, insofern müssen sich auch die Toten nicht um ihn kümmern. Da wir den Tod immer verpassen, brauchen wir uns nicht vor ihm zu fürchten.
Auch wenn Epikurs Argument stichhaltig ist, bleibt es für viele Menschen ein Problem, dass ihr Leben endlich ist und sie diese Welt eines Tages verlassen müssen. Es gibt, unabhängig davon, ob es gut oder schlecht, sinnvoll oder sinnlos ist, den Tod als ein Übel zu betrachten, Gründe, warum es naheliegend ist, dass wir es tun: Ein Grund ist, dass es eine Diskrepanz zwischen unserem Wissen und unserer Vorstellungskraft gibt, das heißt, wir können das Wissen um unsere eigene Endlichkeit nicht mit einer Vorstellung davon füllen, wie es ist, nicht (mehr) zu sein.
Mit unserem Bewusstsein sind wir zu zweierlei fähig: Zu einem Denken, mit Hilfe dessen wir von uns selbst abstrahieren können und dazu, Dinge erleben und erfahren zu können. Letzteres, der phänomenologische Aspekt unseres Bewusstsein, ist nicht wegzudenken. Wir können uns nicht die Welt denken, ohne dass wir es sind, die sich die Welt denken. Der Versuch, sich den eigenen Tod vorzustellen, bringt uns in einen existenziellen Konflikt, denn gewissermaßen setzen wir uns selbst als etwas Absolutes, obwohl wir wissen, dass wir jetzt zufällig da und bald zufällig nicht mehr da sind.
Das Problem, das wir mit dem Tod haben, ist aber nicht nur, dass wir uns ihn nicht vorstellen können, das trifft vielleicht auch auf andere, vollkommen uninteressante Dinge zu. Problematisch ist auch, dass wir dieser Ungewissheit, die der Tod für uns bedeutet, ausgeliefert sind. Sterbenmüssen heißt, keine Wahl zu haben und keinen Ausweg zu finden. Anders als bei vielen anderen Dingen in unserem Leben, werden wir – wie es derzeit aussieht – keine Lösung dafür finden, die dieses Problem umgeht. Wir werden also durch den Gedanken an den Tod nicht nur in der grundsätzlichsten Weise in Frage gestellt, es steht sogar schon die Antwort auf diese Frage fest.
Wenn wir uns einer Sache nicht sicher sind, ist eine Möglichkeit mit dieser Unsicherheit umzugehen, dass wir nach Anerkennung streben. Diejenige, die darüber unsicher ist, ob sie eine gute Schwimmerin ist, fragt eine professionell ausgebildete Person um deren Einschätzung. Schenkt diese ihr positive Anerkennung für ihre sportliche Leistung, dann ist die Unsicherheit der Schwimmerin wahrscheinlich behoben. Anerkennung verbinden wir gewöhnlich mit positiven Rückmeldungen, mit einem Lob von guten Leistungen, schönen Charakterzügen oder ähnlichem. Anerkennung bedeutet aber auch noch etwas anderes, denn zunächst ist Anerkennen nicht eine positive Bewertung, sondern heißt, dass etwas annehmend zur Kenntnis genommen wird. Wenn man ein Gesetz anerkennt, bedeutet das nicht, dass man das Gesetz gut findet, sondern dass man es wahrnimmt und berücksichtigen wird. Dementsprechend kann Anerkennung auf Aspekte unseres Lebens zielen, die nicht in einer positiven Weise bewertet werden, die aber darin zur Kenntnis genommen werden, dass sie eine Bedeutung für uns haben. Dies gelingt vor allem dann, wenn man aufgrund einer Erfahrung, die man teilt, versteht, um welche Bedeutung es geht. Beispielsweise wenn man gemeinsam in einen Sturm auf hoher See gekommen ist und sich nachher wechselseitig versichert, wie heftig und eindrücklich dieses Erlebnis war.
Anerkennung kann also nicht nur der aktive Teil unseres Lebens erfahren, unsere Handlungen und die Leistungen, die wir hervorbringen, sondern auch der Teil, in dem wir Dinge erleiden, die uns widerfahren. Anerkennen können wir uns im Erleiden der Ungewissheit des Todes, weil wir die Erfahrung teilen, dass wir uns das Nichtsein der eigenen Existenz nicht vorstellen können. Wir teilen eine schauerliche Ungewissheit, die wir eigentlich gar nicht fürchten müssen und die uns trotzdem so sehr beunruhigen kann.
Wenn wir uns wechselseitig darin anerkennen, dass wir dem Sterbenmüssen ausgeliefert sind, ändert das von außen betrachtet nichts. Tot werden wir alle eines Tages sein. Aber wir erleben eine Erwiderung auf die grundsätzlichste Weise, in Frage gestellt zu werden, dadurch, dass ein anderer uns in unserem endlichen Sein anerkennt. Dieses Erleben schenkt uns eine Gewissheit, vergleichbar mit der Kälte des Eiszapfens oder dem Geschmack von Schokolade. Viel ist das vielleicht nicht, aber es ist doch immer noch besser als nichts.
1Epikur: Von der Überwindung der Furcht, übersetzt von Olof Gigon, dtv Artemis Verlag, München 1991, S. 101.