Die autoritäre Seite der Volkssouveränität

Demokratien leben davon, dass in ihnen das Volk über sich selbst regiert. Doch die Legitimation politischer Entscheidungen durch den „Willen des Volkes“ ist auch offen für autoritäre Regimes, wenn die Meinung der Mehrheit zum blossen Recht des Stärkeren verkommt.

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    Die Lage ist besorg­nis­er­re­gend: In verschie­densten Teilen der Welt wird das demo­kra­ti­sche Konzept des „Willen des Volkes“ exzessiv verwendet, um natio­na­lis­ti­sche, auto­ritär-auto­kra­ti­sche oder gar offen dikta­to­ri­sche Regimes zu recht­fer­tigen. Politiker_innen und Parteien legi­ti­mieren im ‚Namen des Volkes’ Mass­nahmen, die dem rechts­staat­li­chen Verständnis einer demo­kra­ti­schen Ordnung radikal entge­gen­stehen, sofern sie der effek­tiven Durch­set­zung des Volks­wil­lens als hinder­lich erscheinen. Der oberste Rechts­be­rater des phil­ip­pi­ni­schen Präsi­denten Rodrigo Duterte brachte diesen Zusam­men­hang jüngst knapp und konzis auf den Punkt, als er verkün­dete: „Wir brau­chen einen Diktator per Verfas­sung, der nicht durch eine Revo­lu­tion oder durch einen Staats­streich, sondern durch die Wahl der Leute an die Macht kommt. Als Präsi­dent soll er alle Macht in die eigenen Hände nehmen, die Judi­ka­tive und die Exeku­tive, so dass er nicht mehr versagen kann.“

    Solche Bekennt­nisse zu einem durch Wahlen abge­stützten und natio­na­lis­tisch gerahmten Auto­ri­ta­rismus begegnen uns heute in stär­keren und schwä­cheren Spiel­arten welt­weit, sei es in Indien oder der Türkei, in Ungarn oder Russ­land, in einzelnen rechts­na­tio­na­lis­ti­schen Parteien in West­eu­ropa oder den USA. Auto­ri­ta­rismus bedeutet, eine Gesell­schaft hier­ar­chisch nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam zu orga­ni­sieren und den poli­ti­schen Plura­lismus einzu­schränken; Natio­na­lismus impli­ziert, Recht und Wert der eigenen Nation oder des eigenen Volkes über alle anderen zu stellen. Die Entwick­lung zu einem natio­na­lis­ti­schen Auto­ri­ta­rismus setzt entspre­chend immer dann ein, wenn Insti­tu­tionen zur Siche­rung des Meinungs­plu­ra­lismus, der Grund­rechte und Gewal­ten­tei­lung geschwächt werden.

    Ein langer historischer Konnex von Demokratie und Gewalt

    In der empi­ri­schen Diagnose dieses Zusam­men­hangs von Natio­na­lismus, Auto­ri­ta­rismus und formal-demo­kra­ti­scher Legi­ti­ma­tion durch den Volks­willen sind sich viele Beobachter_innen aktuell einig. Die US-ameri­ka­ni­sche Philo­so­phin Wendy Brown warnt unter dem Stich­wort des „American Night­mare“ seit Jahren davor, dass sich in den USA Neoli­be­ra­lismus und Neokon­ser­va­tismus im Namen von Demo­kratie und Frei­heit verbinden, indem sie den Markt der poli­ti­schen Kontrolle entziehen und Struk­turen eines auto­ritär-mili­ta­ris­ti­schen Sicher­heits­staats entwi­ckeln.

    Aller­dings handelt es sich bei solchen scheinbar para­doxen Zusam­men­hängen von demo­kra­ti­scher Staats­form und auto­ri­tärer Herr­schaft nicht um neue Phäno­mene. In seinem kürz­lich auf Deutsch erschienen Buch „Politik der Feind­schaft“ erin­nert der kame­ru­ni­sche Philo­soph Achille Mbembe an die „Nacht­seite der west­li­chen Demo­kratie“ in Form von Skla­verei und Kolo­nia­lismus, die alle drei zur selben „geschicht­li­chen Matrix“ gehörten. Nicht nur die antike athe­ni­sche Demo­kratie, sondern auch die USA des 19. Jahr­hun­derts waren klarer­weise ein „demo­kra­ti­scher Skla­ven­staat“, in dem sich eine Gemein­schaft der Glei­chen (Weissen) von einer Gruppe der Unglei­chen (Schwarzen) radikal unter­schied und in welcher der demo­kra­ti­sche Gleich­heits­grund­satz theo­re­tisch nur für erstere galt. Eine ähnliche Zwei­tei­lung prägte nach Mbembe auch das Verhältnis zwischen euro­päi­schen Demo­kra­tien und den von ihnen eroberten oder besie­delten Kolo­nien. Die Kolo­nien waren Orte der wirt­schaft­li­chen Ausbeu­tung, Expe­ri­men­tier­felder für mili­tä­ri­sche Massen­ver­nich­tungs­waffen und Straf­lager für uner­wünschte Bevöl­ke­rungs­gruppen aus dem Mutter­land, so dass „der innere Frieden im Westen“, wie Mbembe konsta­tiert, „zu einem grossen Teil auf Gewalt in der Ferne“ basierte.

    Dass demo­kra­ti­sche Staaten rassis­ti­sche, kolo­niale und impe­riale Gewalt­po­li­tiken aktiv geför­dert oder zumin­dest „tole­riert“ haben, wie es Mbembe nennt, ist histo­risch evident. Für die Erkun­dung aktu­eller Formen demo­kra­tisch gerahmter Auto­ri­ta­rismen und Natio­na­lismen entschei­dend ist aller­dings die Frage, wie sich Gewalt und Ungleich­heit bis heute weiter erhalten – und zwar gerade weil sie formal demo­kra­tisch legi­ti­miert werden. Dabei geht es nicht nur darum, die post­ko­lo­nialen Konti­nui­täten im Konzept von Volk und Nation frei­zu­legen, sondern auch zu verstehen, warum das Konzept ‚Wille des Volkes‘ über­haupt eine legi­ti­ma­to­ri­sche Kraft entwi­ckeln kann, unbe­sehen davon, was er legi­ti­miert.

    Paradoxien demokratischer Legitimation: das Beispiel des Schweizer Frauenstimmrechts

    Diese Frage scheint trivial und wird in der Alltags­po­litik oft über­gangen, obwohl sie für das jeweils konkrete Verständnis von Demo­kratie und demo­kra­ti­scher Legi­ti­ma­tion entschei­dend ist. Dies lässt sich am Beispiel des Schweizer Frau­en­stimm­rechts verdeut­li­chen. Das allge­meine Stimm- und Wahl­recht für Schweizer Frauen wurde auf natio­naler Ebene 1971 einge­führt. Spätes­tens seit den 1890er-Jahren wurde die poli­ti­sche Rechts­un­gleich­heit zwischen den Geschlech­tern von kriti­schen Frau­en­ver­bänden aufge­griffen und poli­tisch bekämpft. Die Frau­en­ver­bände argu­men­tierten mit dem Geist der Verfas­sung, der den poli­ti­schen Einbezug der Frauen notwendig mache; der Bundesrat dagegen beharrte auf einer Volks­ab­stim­mung. Immer wieder lehnte es das männ­liche Stimm­volk sowohl auf kanto­naler wie auf natio­naler Ebene ab, den Schweizer Frauen die poli­ti­schen Rechte zuzu­ge­stehen. Die Willkür im Umgang mit den Grund­rechten der Schwei­ze­rinnen war ekla­tant, poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung, Peti­tionen und Streiks waren die Folge, und dennoch vermochte dieser Umstand das Konzept der Schweizer Volks­sou­ve­rä­nität in Theorie und Praxis nicht nach­haltig zu erschüt­tern. 1951 machte Natio­nalrat Peter von Roten noch kritisch auf die Para­doxie aufmerksam, „dass man [bei einer Volks­ab­stim­mung über das Frau­en­stimm­recht] aus diesem Volk gerade die eine Hälfte ausschliesst, welche durch diesen Entscheid betroffen wird“, und er forderte, dass die Schweizer Frauen bei dieser Abstim­mung über ihre eigenen Rechte betei­ligt werden sollten.

    Doch diese funda­men­tale Proble­ma­ti­sie­rung wurde nicht weiter aufge­griffen. Zwar wurde das Frau­en­stimm­recht schliess­lich auf Bundes- und ab 1990 auf kanto­naler Ebene durch­gängig einge­führt, blieb aber demo­kra­tie­theo­re­tisch unre­flek­tiert. Noch im Hand­buch der Schweizer Politik von 2006 gilt die Einfüh­rung des Frau­en­stimm­rechts im Hinblick auf die insti­tu­tio­nelle Entwick­lung der Volks­rechte als eine nur „gering­fü­gige Modi­fi­ka­tion“ und ist keiner grund­sätz­li­chen Über­le­gungen (mehr) wert. Erst in den 1990er-Jahren taucht das demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­ons­pro­blem im Zusam­men­hang mit „grund­rechts­pro­ble­ma­ti­schen Volks­in­itia­tiven“ wieder auf, wird aber in der Forschung als „neueres Phänomen“ bezeichnet und bezugslos zur Vergan­gen­heit disku­tiert: das Thema trifft die Schweizer Politik und Wissen­schaft entspre­chend unvor­be­reitet.

    Normative Demokratietheorien und die Kontingenz des Politischen

    Viele norma­tive Demo­kra­tie­theo­rien gehen auf die legi­ti­ma­to­ri­sche Ambi­va­lenz der Volks­sou­ve­rä­nität darum nicht näher ein, weil sie grund­sätz­lich annehmen, dass jedes demo­kra­ti­sche Plebiszit, das auto­ri­täre, sexis­ti­sche oder rassis­ti­sche Poli­tiken legi­ti­miert, eine Verkeh­rung demo­kra­ti­scher Grund­prin­zi­pien bedeutet. Der deut­sche Philo­soph Jürgen Habermas verweist in diesem Sinn auf die syste­ma­ti­sche „Gleich­ur­sprüng­lich­keit“ von indi­vi­du­ellen Grund­rechten und demo­kra­ti­scher Volks­sou­ve­rä­nität, die sich wech­sel­seitig bedingen. Miss­achtet der ‚Wille des Volkes‘ egali­täre Grund­rechte, so schneidet er sich von seinen eigenen norma­tiven Grund­lagen ab und voll­zieht einen perfor­ma­tiven Wider­spruch zwischen Sagen und Tun. Ein solcher Selbst­wi­der­spruch muss nach Habermas als Ausdruck einer herr­schafts­förmig verzerrten Willens­bil­dung bezeichnet werden.

    Für das Verständnis der Volks­sou­ve­rä­nität als poli­ti­sche Legi­ti­ma­ti­ons­figur ist mit dieser Diagnose aller­dings wenig gewonnen. Denn das Krite­rium der norma­tiven Kohä­renz unter­stellt, dass ein Volk nur dann als demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­ons­grund­lage anzu­er­kennen wäre, wenn es das will, was es vernünf­ti­ger­weise wollen soll. Dieses Ansinnen der Vernunft bedeutet, mit Hannah Arendt gespro­chen, das „Ende der Politik“. Denn zur Politik gehört nach Arendt gerade die Kontin­genz und Willkür von Entschei­dungen, das heisst das Ringen um sich stetig wandelnde Mehr­heits- und Minder­heits­ver­hält­nisse in einem umkämpften Feld von Macht. Wird Politik dagegen an philo­so­phi­schen Vorgaben des Guten und Vernünf­tigen gemessen, dann verliert sie ihre spezi­fi­sche Qualität – sie ähnelt mehr einem philo­so­phi­schen ‚Wissen‘ als einem gemein­samen poli­ti­schen ‚Handeln‘.

    Die bleibende Aktualität einer alten Frage

    Tatsäch­lich bietet Arendts Verständnis der Politik als Ausdruck gemein­samer Hand­lungs­macht den besseren Ausgangs­punkt, um zu verstehen, warum ‚der Wille des Volkes‘ eine legi­ti­mie­rende Kraft haben kann, unbe­sehen davon, was er will – und seien es Poli­tiken der Gewalt und Ungleich­heit. Diese beun­ru­hi­gende Dimen­sion der Macht des Volkes hängt damit zusammen, dass die Volks­sou­ve­rä­nität selber eine auto­ri­täre Seite haben kann, wenn das Volk seine eigene legi­ti­ma­to­ri­sche Kraft als souve­räne Macht inter­pre­tiert. Die auto­ri­täre Dimen­sion der Volks­sou­ve­rä­nität zeigt sich also nicht (nur) daran, dass der Wille des Volkes einen auto­ri­tären Führer ‚will‘, sondern dass er sich selbst auto­ritär auslegt und inter­pre­tiert. Dies geschieht immer dann, wenn ein Volk seinen eigenen (Mehrheits-)Willen als hier­ar­chi­schen Befehl versteht, dem unbe­sehen der Plura­lität poli­ti­scher Meinungen unbe­dingter Gehorsam zuteil werden muss, und wenn es die Umset­zung dieses Befehls im Modus unge­teilter Macht durch­setzen will und dabei sowohl Minder­hei­ten­rechte als auch Macht­tei­lung und -kontrolle ablehnt.

    Theo­rie­ge­schicht­lich ist der Begriff der Volks­sou­ve­rä­nität demnach ambi­va­lent, weil er eine Denk­figur ist, die kollek­tive Selbst­be­stim­mung mit Macht- und Herr­schafts­formen verknüpft. Dass ein Volk seine Macht auto­ritär auslegt, ist dabei weder zwin­gend noch notwendig, immer aber möglich. Im Wissen darum und ange­sichts der aktu­ellen Konjunktur demo­kra­tisch legi­ti­mierter Auto­ri­ta­rismen und Natio­na­lismen sollte darum die alte Frage wieder auf die Agenda gesetzt werden, die vor 250 Jahren Jean-Jacques Rous­seau an Thomas Hobbes gerichtet hatte und die sich auch an heutige Spiel­arten auto­ri­tärer Demo­kra­tien adres­sieren lässt: Was unter­scheidet letzt­lich den souve­ränen Willen des Volkes vom blossen Recht des Stär­keren? Mit dieser Frage kommen wir der entschei­denden Proble­matik demo­kra­ti­scher Legi­ti­ma­tion einen wich­tigen Schritt näher.