Die historische Forschung geht davon aus, dass es vor etwa hundert Jahren einen Völkermord an den Armeniern gab. Ein Auslöser für diesen Völkermord war, so wird angenommen, dass die Ideologie der sogenannten Jungtürken vor allem in ihrer zweiten Regierungsphase im Osmanischen Reich das Volk der Armenier als nicht vereinbar mit dem Bestreben nach einem (Sunnitisch-)Türkischen Nationalstaat ansahen. Ein anderer Auslöser war, dass die Armenier als interne Feinde und Landesverräter verachtet wurden, da sich einige Armenier während des Ersten Weltkriegs an die Seite des Russischen Reichs gestellt hätten. Unter der damaligen Regierung der Jungtürken wurde daraufhin die armenische Bevölkerung Kleinasiens nahezu vernichtet. Die Geschehnisse nahmen ihren Anfang, als im April 1915 hunderte armenische Intellektuelle gefangen genommen und später hingerichtet oder deportiert wurden. Schliesslich fiel die restliche Zivilbevölkerung Massakern zum Opfer oder wurde auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt, was nur wenige überlebten.
Die Auffassung, dass diese Massaker und Deportationen der armenischen Bevölkerung als Völkermord zu bewerten seien, wird vom türkischen Staat bis heute angezweifelt. Zum einen wird angezweifelt, ob die geschehene Ereignisse wirklich mit der Absicht begangen wurden, die armenische Bevölkerung Kleinasiens zu vernichten, und zum anderen wird die Authentizität oder Aufrichtigkeit von historischen Dokumenten angezweifelt, die über diesen Völkermord berichten. Stattdessen argumentiert der türkische Staat, dass es sich bei diesen Ereignissen in Wirklichkeit nur um kriegsbedingte Vertreibungen und Sicherheitsmassnahmen handelt.
Diese unterschiedlichen historischen Auffassungen machen den Konflikt um den Armenier-Völkermord aus. Angenommen, den Armenier-Völkermord hat es tatsächlich gegeben: Was wäre dann so schlimm daran, diesen zu verleugnen? Welcher Schaden wird dadurch verursacht?
Melanie Altanian ist eine Doktorandin an der Universität Bern und beschäftigt sich mitunter solchen Fragen. Unter anderem untersucht sie die Leugnung des Armenier-Völkermords aus erkenntnistheoretischer und ethischer Perspektive. In ihrem Forschungsprojekt „Genocide Denial as an Epistemic Injustice” untersucht sie die Beziehung zwischen Menschenwürde, Erinnerung und Wahrheit im Kontext von Völkermordleugnungen.
Wie können Völkermordleugnungen die Menschenwürde berühren? Ein Bericht der Vereinten Nationen sieht vor1, dass die Opfer eines vergangenen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, wie Völkermord, unter anderem folgende Rechte oder Garantien haben sollen:
- Ein Recht auf Gerechtigkeit → die Verantwortung des Staates, dass die Verbrecher rechtlich bestraft werden.
- Ein Recht auf Wissen → die Möglichkeit, Wissen über das Verbrechen, seine Ursachen und Erfahrungen, die dabei gemacht wurden, erwerben zu können.
- Ein Recht auf Reparation → die Wiedergutmachung von Schaden, nicht nur materieller Art, sondern auch symbolischer, wie zum Beispiel offizielle Entschuldigungen oder öffentliche Unterstützung.
- Eine Garantie des Nichtwiederauftretens des Verbrechens → die Erstellung einer Atmosphäre, die verhindert, dass Verbrechen gleicher Art wieder auftreten.
Im Kontext des Armenier-Völkermords, wie ist es nun um die Rechte und Garantien der Opfer bestellt?
Wurden die Verbrecher des Völkermords juristisch zur Verantwortung gezogen?
Mit Hilfe einer historischen Untersuchung stellt Melanie Altanian fest, dass es zwar durch ein nach Ende des Ersten Weltkriegs eingerichtetes Kriegstribunal zu einzelnen Verurteilungen von Verantwortlichen für die Gräueltaten gekommen ist, doch diese wenigen Verurteilungen nicht ausreichend sind, um von einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit zu sprechen. Dies insbesondere, da diese Urteile nach der Regierungsübernahme durch die türkische Nationalbewegung als null und nichtig erachtet wurden, sowie die verurteilten Hauptverantwortlichen des Völkermords ins Exil geflüchtet sind.
Wird garantiert, dass den Opfern und den Nachfahren der Opfer keine Verbrechen der gleichen Art widerfahren werden?
In Anbetracht der offiziellen türkischen Geschichtserzählung weist Melanie Altanian darauf hin, dass die Armenier von den Türken als innere Feinde oder gar als nationale Verräter wahrgenommen wurden. Sie vermutet, dass dieses Bild der Armenier als Verräter heute noch Auswirkungen hat und dass Armenier immer noch als eine Gefahr für die angebliche türkische Einheit angesehen werden. Dies bedeutet natürlich nicht, dass ein nächster Völkermord unmittelbar bevorsteht, dennoch scheint diese Atmosphäre nicht geeignet zu sein, eine Garantie an die Nachfahren der Opfer zu gewährleisten, keine Angst vor Wiederauftreten von Gräueltaten gegen sie zu haben.
Wird der Schaden an den Armeniern wieder gut gemacht?
Melanie Altanian bringt Beispiele dafür, die zeigen, dass Reparationen an den Armeniern heute noch ein zentrales Thema sind: Zum einen gibt es heute noch Forderungen seitens der Armenier, armenisches Eigentum, das vom türkischen Staat konfisziert wurde, zurückzugeben. Diese Forderungen werden zumeist abgelehnt. Zum anderen werden Bestrebungen, Monumente oder Denkmäler, die an den Armenier-Völkermord erinnern sollen, vom türkischen Staat kritisiert und grösstenteils, sowohl national als auch international, unterbunden. Als in Genf ein Denkmal hätte errichtet werden sollen, intervenierte die Türkei und der Bau des Denkmals wurde eingestellt.2 Es scheint, als wäre die türkische Regierung nicht daran interessiert, Reparationen materieller oder symbolischer Art zu liefern.
Verletzung der Menschenwürde durch Völkermordleugnung
Die von Melanie Altanian hervorgebrachten Punkte deuten darauf hin, dass eine Völkermordleugnung indirekt die Menschenwürde der Opfer verletzen kann: Erstens, durch die Leugnung des Völkermords wird der Bau von Denkmälern und Monumenten verhindert oder erschwert, was den Opfern ihr Recht auf Wissen einschränkt oder verwehrt. Zweitens führt die Leugnung indirekt dazu, dass Opfer ihr Recht auf Reparation nicht einlösen können. Und drittens müssen die Armenier, zum Teil wegen der Völkermordleugnung, um die Garantie des Nichtwiederauftretens des Verbrechens fürchten.
Darüber hinaus schreibt Melanie Altanian, dass eine Völkermordleugnung noch auf eine vierte Art die Menschenwürde verletzen kann: Da die Völkermordleugner einerseits die Wahrheit der historischen Dokumente oder Befunde und andererseits die Aufrichtigkeit von Erinnernden ungerechtfertigterweise ablehnen, werden die Opfer beleidigt, indem man sie als „schlechte Erinnernde“, respektive unfähige epistemische Akteure zurückweist. Indem Erinnerungen der Opfer pauschal und kategorial als politisch motiviert oder als anti-türkisch gedeutet werden, schliesst man sie aus der epistemischen Gemeinschaft aus und verwehrt ihnen das Recht auf gesellschaftliche Teilnahme.
Eine Lösung des Konflikts?
Auf den ersten Blick scheint es, dass dieser Konflikt mit Methoden der Geschichtswissenschaft beigelegt werden könne. Könnte man nicht eine Kommission, wie es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert, aus türkischen, armenischen und internationalen Historikern einberufen, die den Konflikt wissenschaftlich beenden könnten?
Abgesehen davon, dass im Jahre 2005 eine solche Konferenz nach zweimaliger Absage und unter heftigen Gegenprotesten in Istanbul stattfand, und dass sowohl türkische, armenische als auch internationale Historiker sowie Genozidwissenschaftler von einem Völkermord ausgehen, ist die Forderung nach einer weiteren Historikerkommission auch aus anderer Sicht fragwürdig. So weist Melanie Altanian darauf hin, dass der Konflikt mit wissenschaftlichen Methoden alleine nicht beizulegen ist. In einem Klima von Misstrauen und Missgunst, in dem die Wahrheit sämtlicher historischen Befunde sowie die Glaubwürdigkeit der Opfer und ihrer Nachfahren grundlegend angezweifelt wird, braucht es ihrer Meinung nach auch andere Wege, um das Wissen um den Völkermord ans Licht zu bringen.