Woran forschen Philosophinnen und Philosophen in der Schweiz?

Über "Barbaren" und "Terroristen"

Das Forschungsprojekt von Leire Urricelqui, Doktorandin an der Universität Luzern

 

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    Am 7. Januar 2015 wurde ein Terroranschlag in Paris (Frankreich) auf die Redaktion der Satirezeitschrift “Charlie Hebdo” verübt.1 Bei diesem Anschlag wurden 12 Menschen getötet und 11 verletzt. Als Reaktion auf diesen Anschlag kam es in Frankreich, aber auch in anderen Ländern, zu Solidaritätsbekundungen und Nutzer von sozialen Netzwerken wie Facebook drückten ihre Solidarität mit den Opfern aus, indem sie Slogans wie „Je suis Charlie“ posteten oder die Flagge von Frankreich als Hintergrund für ihr Profilbild verwendeten.2

     

    6 Monate später kam es am 20. Juli zu einem Terroranschlag in Suruç (Türkei), bei dem ein Selbstmordattentäter 34 Menschen tötete und 76 weitere verletzte.3 Im Vergleich zum Anschlag in Paris war die Reaktion in Europa auf diesen Anschlag eher mild. Weder kam es zu vielen öffentlichen Solidaritätsbekundungen, noch verwendeten Nutzer von sozialen Netzwerken die türkische Flagge als Hintergrund für ihr Profilbild.

     

    Aber warum war die Reaktion auf den Anschlag in Paris grösser als auf den Anschlag in Suruç? Lag es daran, dass Paris im Zentrum von Europa liegt, während Suruç am Rande von Europa liegt? Lag es daran, dass die Medien mehr über den Anschlag in Paris berichteten, als über den Anschlag in Suruç? Oder lag es daran, dass die Opfer in Suruç keine Christen, sondern Muslime waren?

     

    Die genauen Ursachen zu finden, warum eine Reaktion auf einen Terroranschlag grösser war als auf einen anderen, ist natürlich eine schwierige, wenn nicht sogar eine unmögliche Aufgabe. Unzählige Faktoren können hierfür eine Rolle spielen. Dennoch kann man sich folgende Frage stellen: Warum ist der Tod von manchen Menschen weniger bedauernswert als der Tod von anderen? Warum löst der Tod von gewissen Menschen eine Welle von sozialen Bewegungen aus, während der Tod von anderen kaum Beachtung findet?

     

    Leire Urricelqui ist Doktorandin an der Universität Luzern und geht solchen Fragen nach. Im Rahmen ihres Forschungsprojektes „Lives that do(n't) matter” untersucht sie diskursive Formen, die systematisch das Leben gewisser Menschen als weniger lebens- und bedauernswert darstellen.

     

    Der Ausgangspunkt für Leire Urricelquis Forschung ist der Begriff des "Barbaren", der seinen Ursprung im antiken Griechenland hat: Für die alten Griechen hörte sich die Sprache der Nicht-Griechen wie "barbarbar" an, woraus später das Wort "Barbar" entstanden ist. Obwohl das Wort "Barbar" anfänglich ein Wort für Nicht-Griechisch-Sprechende war, wurde dieses Wort mit der Zeit in abwertender Weise verwendet, nämlich für die Bezeichnung von kulturell Unterlegenen.

     

    Anhand von Beispielen erklärt Leire Urricelqui, wie die Bezeichnung eines Menschen als Barbar dazu führte, dass das Leben des als Barbar bezeichneten Menschen als weniger lebenswert dargestellt wurde. Im Folgenden seien zwei Beispiele erwähnt.

     

    Der Barbar als der „Unverständliche“

    Nach Aristoteles unterscheidet sich der Mensch vom Tier darin, dass der Mensch Sprache und Vernunft besitzt. Wenn Tiere Geräusche machen, dann verfolgen Tiere damit oft einen bestimmten Zweck, zum Beispiel, um andere Artgenossen auf Gefahren aufmerksam zu machen (siehe Erdmännchen) oder um Partner anzulocken (siehe Singvögel). Doch im Unterschied zum Menschen haben ihre Geräusche keinen Inhalt, beziehungsweise, die Geräusche bezeichnen nichts oder sie stehen nicht für einen Gegenstand oder für eine Handlung.

     

    Als aber die Barbaren mit den Griechen zu kommunizieren versuchten, dann begegneten die Griechen Laute, die für sie unverständlich, undeutlich und bedeutungslos waren. Die »Sprache« der Barbaren erinnerte die Griechen weniger an einer menschlichen Sprache, sondern mehr an die inhaltslosen Geräusche, die Tiere von sich geben. Leire Urricelqui vermutet, dass dieser "falsche" Gebrauch von Sprache bei den Griechen ein Gefühl der Unheimlichkeit erweckte, ein Gefühl der Fremde und somit ein Gefühl der Angst und der Bedrohung. Der Barbar war dann also kein Tier, er war aber auch nicht ganz Mensch, weil er die (griechische) Sprache nicht beherrschte.

     

    Leire Urricelqui vermutet, dass die Vorstellung des Barbaren als der "Unverständliche" oder als der "Unheimliche" unter anderem dazu führte, dass eine Linie zwischen lebenswerten und nicht lebenswerten Leben von Menschen gezogen wird. Der Begriff „Barbar“ impliziert ein Verständnis von Menschsein und damit auch ein Verständnis von Nicht-Menschsein. Dieses Verständnis von Nicht-Menschsein kann wiederum zur Legitimation von Gewalt an „Nicht-Menschen“, also an Barbaren verwendet werden. Das bedeutet, dass die alleinige Verwendung des Begriffes „Barbar“ schon dazu führen kann, der Tod von gewissen Menschen als weniger schlimm darstellen zu lassen, weil die Verwendung dieses Begriffes die Unterscheidung zweier Arten von Leben ermöglicht, die unterschiedlich lebenswert sind.

     

    Der Barbar als der „ewige Aussenseiter“

    Als sich die Bürger der verschiedenen griechischen Stadtstaaten unter der Führung von Athen und Sparta erfolgreich gegen die Perser zur Wehr setzten (siehe Perserkriege), entstand ein Sinn für die griechische Einheit und gemeinsame Identität, die es vorher unter den Griechen nicht gegeben hat. Diese neue Identität führte zu einer Trennung zwischen den Griechen und den Barbaren, wobei Barbaren nicht mehr nur „Nicht-Griechisch-Sprechende“ waren, sondern neu auch diejenigen waren, die nicht zu den Griechen gehörten.

     

    Leire Urricelqui ahnt, dass durch diese Trennung zwischen Uns (die Griechen) und Denen (die Barbaren) eine Sichtweise entstanden ist, die wieder zwischen lebenswerten und nicht lebenswerten Leben unterscheidet. Indem die Barbaren als Aussenseiter angesehen werden, die nicht zu uns gehören und es auch nie tun werden, gibt es auch Leben, die nicht bedacht werden müssen. Wenn also Barbaren umgebracht werden, dann wird der Tod dieser Barbaren als weniger schlimm erlebt, weil Barbaren eben schon aus begrifflichen Gründen nicht zu „uns“ gehören.

     

    Und heute?

    Mit der Untersuchung des Begriffes "Barbar" in der Antike erhofft Leire Urricelqui Einsichten zu erhalten, die nützlich sein können, um heutige diskursive Formen zu analysieren. Wir reden heute zwar weniger von Barbaren, doch sind neue Begriffe entstanden, die in ähnlicher Art und Weise das Leben gewisser Menschen als nicht oder weniger lebenswert darstellen. Als Beispiel nennt Leire Urricelqui den Begriff des Terroristen, der heute die Funktion übernimmt, „unheimliche und unverständliche“ Menschen zu bezeichnen, die nicht zu „uns“ gehören.

     

    Ein mögliches Anwendungsgebiet für Leire Urricelquis Forschung könnte dieses Beispiel aus Amerika sein: Laut Sarah Ruiz-Grossman, eine Reporterin bei Huffpost, assozieren US-Amerikaner Terror meistens mit extremen Islamisten, obwohl die meisten Terroristen in Amerika keine Islamisten sind.4 Ruiz-Grossman bemerkt auch, dass amerikanische Medien sehr schnell nicht-Weisse oder Muslime als Terroristen einordnen, während sie weisse und nicht-muslimische Amerikaner nur langsam und vorsichtig als Terroristen bezeichnen. Statt von Terroristen zu reden, spricht man bei weissen Tätern stattdessen von Menschen mit mentaler Behinderung. Woher kommt diese Vorsicht? In Verbindung mit Leire Urricelquis Forschung könnte man eine Parallele des Begriffs „Terrorist“ mit dem Begriff „Barbar“ sehen: Genauso wie der Barbar einer ist, der per Definition nicht zu „uns“ gehört, ist auch der Terrorist einer, der per Definition nicht von hier ist. Wenn also Amerikaner Zivilisten umbringen, dann „können“ diese Amerikaner keine Terroristen sein, weil Terroristen, wie die Barbaren, „unheimliche Aussenseiter“ sind, also eben nicht Amerikaner. Eine mögliche Konsequenz eines solchen Begriffes von „Terrorist“ ist, dass die Leben fremder Menschen als weniger lebenswert dargestellt werden und somit einfacher Gewalt gegenüber diesen Menschen legitimiert werden kann.


    Möchten Sie mehr über dieses Thema und über Leire Urricelquis Forschungsprojekt erfahren?

    Mehr Informationen über das Forschungsprojekt „Lives that do(n't) matter” finden Sie auf der folgenden Webseite der Universität Luzern: https://www.unilu.ch/fakultaeten/ksf/institute/philosophisches-seminar/mitarbeitende/Leyre-urricelqui-ma/

     

    Dieses Forschungsprojekt ist ein Teil des Projektes "Fremd- und Vieltuerei. Zur Verwirklichung demokratischer Freiheit in Formen des Nicht-Identischen" unter der Leitung von Prof. Christine Abbt.

     


     

    2 Eine Anleitung von giga.de, wie man ein “Frankreich-Profilbild” erstellt: http://www.giga.de/unternehmen/facebook/news/frankreich-profilbild-bei-facebook-als-zeichen-der-anteilnahme/