Die naturwissenschaftlichen Disziplinen, selbst seit der Aufklärung aus einer unausgesprochen Naturphilosophie hervorgegangen, scheinen heute unter dem Eigendruck fortschreitender Spezialisierung einerseits und systemisch-holistischer Integrationstendenzen anderseits ihrer Verflüssigung entgegenzusehen. Waren noch am Ende des 19. Jahrhunderts Physik, Chemie und Biologie kategorial getrennt, sind durch die sukzessive Einschachtelung immer weiterer Forschungsgebiete die Abstufungen zwischen ihnen ständig kleiner und die Querverbindungen vielfältiger geworden. Doch die besonders von der analytischen Philosophie gehegte Hoffnung, dass viele kleine Probleme leichter zu lösen sind als ein großes, ist nicht aufgegangen, denn in der Realität wirft die Verbindung multipler Kleinst- und somit Scheinwahrheiten weit größere Probleme auf als die wissenschaftliche Spezialisierung und deflationierte Wahrheitsansprüche zu lösen versprachen. Richard Rorty gehörte zu den Wegbereitern einer erzählenden Wissenschaft, die sich den Ideen und Theorien verweigert und die Dinge, bzw. Ereignisse, schlicht auf die historische Zeitachse projiziert. Erst in seinem Spätwerk entlässt der Nominalist Rorty seine Leser implizit aus einer historisierenden Wissenschaft, die, wie er richtig erkennt, nichts als das Prinzip Hoffnung hinterlässt. Das aber wusste schon Hesiod als er, nachdem sich aus der Schachtel der Pandora vielfältige Übel über die Welt ergossen hatten, nur die Hoffnung in ihr beließ. Die Hoffnung ist eine Figur in historischer Zeit und entspringt einer notwendig enttäuschenden Zukunftserwartung sofern diese positiv bestimmend ist. Die Aussagen der modernen, modellbildenden Wissenschaft, im Gegensatz zu den gesetzartigen der klassischen, sind historisierend indem sie nicht zeitlos wahr sind sondern in ‚seherischer‘ Weise die historische Zukunft betreffen. Aber kann die historische Zukunft, die wir gemeinhin als unbedingt offen verstehen, gewusst werden?
Die traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen zeichnen sich je durch eine stringente sprachlich-symbolische Verfasstheit und einen sich daraus ergebenden Kanon von Theoremen, Methoden und Praktiken aus, der sich prinzipiell von dem anderer Disziplinen unterscheidet. Sie repräsentieren individuell und übergreifend widerspruchsfreies Wissen, das nicht auf die historische Zukunft verweist sondern die Phänomene im Hier und Jetzt zum Gegenstand hat. Diese Verfasstheit wird jedoch vom Standpunkt systemisch-holistischer Strömungen als dogmatisch, autoritär und nur konstruiert verworfen, weshalb das ‚neue Wissen‘, als die dynamisch-komplexe Gesamtheit aller Tatsachen, im Niemandsland zwischen den Disziplinen, über sie hinweg und durch sie hindurch erblüht – und es ist in genau in diesem Sinne undiszipliniert. Zunehmend zieren multi- inter- oder transdisziplinäre Studiengänge die Curricula der Universitäten und ebensolche Studien und Forschungen gehören inzwischen zu den notwendigen Ausweisen für den Zugang zu Fördermitteln und Exzellenzzirkeln. Während aus Sicht des Poststrukturalismus diese Entwicklung nur die konsequente Fortsetzung der Moderne ist, denn sie dekonstruiert einen gesellschaftlichen Machtfaktor, nämlich die Wissenschaft, steht in einer krisengeschüttelten Zeit nicht grundlos zu befürchten, dass über die Wissenschaften hinaus das Wissen und damit die Sprache selbst der Dekonstruktion, d.h. der Historisierung und damit der Beliebigkeit anheimfällt.
Wissen ist in der Tat Macht oder, genauer gesagt, es ermächtigt. Wissen ermächtigt einer Welt zu begegnen, die ohne solches Wissen nicht wäre, und dieses Wissen ist aufgehoben in der (aber auch die) Sprache. Das hervorstechende Merkmal von Sprache ist ihre Partikelhaftigkeit. Sie ist korpuskular, d.h. diskret, in der Form von Worten und Begriffen, deren Schreibweise und Bedeutung typischerweise über Generationen hinweg eine gewisse Beständigkeit haben und es so erlaubt Wissen und Welten zu transportieren. Sprache kann daher das Flüssige, Werdende nicht fassen, darauf hatte schon Nietzsche mit Nachdruck hingewiesen. Die Überbrückung disziplinärer Grenzen aber führt zur Reanimation dessen, was der Verstand schon längst in den Stand des Wissens versetzt hatte und erschafft ein atmendes, nie stillstehendes, weder sprachlich noch mit den Sinnen fassbares ‚Ganzes‘. Diese Verwischung oder Aufhebung von Grenzen entspricht einer sprachlichen Entmächtigung als der Verlust der Fähigkeit der Welt zu begegnen, als Hingabe ans Komplexe. Zwar wäre mit der Aufhebung der Grenzen, das heißt mit der holistischen Projektion aller Tatsachen auf die historische Zeitachse eine Einheit gewonnen, ja ultimativ sogar die Einheit des Kontinuums, aber die Differenz wäre verloren und damit das Wissen selbst. Menschliches Wissen, da es die Differenz nicht einebnet oder überbrückt, sondern als solche wesentlich mit in seine Einheit einschließt, scheint auf einer anderen Art von Einheit als der des Kontinuums zu beruhen. Schon Schellings polarer Kräfteansatz war intendiert die Mechanik Newtons mit der Biologie zu versöhnen, als ein unendlich organisch-dynamischer, sich selbst organisierender Schaffensprozess. Die Idee scheiterte nicht zuletzt daran, dass Schelling nicht zeigen konnte, wie das Begrenzte und damit das Denkbare ohne Willkür aus dem undenkbar unendlichen Prozess hervorgeht. Auch die Dimension, in der dieser Schaffensprozess abläuft, nämlich die Zeit, blieb für Schelling ein selbsteingestandenes, tiefes Rätsel. Erst Hegel sollte erkennen, dass das Dynamische ein nur aus der Perspektive des Historikers erkennbarerer stufenartiger Übergang zwischen stationären Zuständen ist, in denen der Geist jeweils seinen Begriff erfasst hat und ganz bei sich ist, wie er sagte. Erst indem Hegel das Kontinuum und somit die kontinuierliche Zeit als Medium des Werdens verwirft, bringt er das Problem der Einheit von Einheit und Differenz auf den präzisen Punkt. Nicht als Problem ständig zerrender Kräfte und fließender Gleichgewichte, sondern als einander ablösende, dauernde Zustände; nicht als fortwährende Produktion, sondern als ein beständiges Produziertes, das sich gewissermaßen gelegentlich in ein neues Licht setzt, beziehungsweise unter einen neuen Begriff stellt. Erst dann bricht das Problem der Einheit von Einheit und Differenz in voller Schärfe auf, denn nun lautet die Frage wie, ohne die Möglichkeit des dynamischen Ausgleichs, das Wissen ultimativ different und doch Einheit sein kann. Die Antwort könnte lauten, dass die differente Einheit des Wissens darin besteht, dass es in seiner Anwendung, also performativ, einheitlich und kohärent, in seiner Hinterfragung aber ultimativ different erscheint. Wissen wir mehr als dieses Wissen uns explizit wissen lässt? Kant sagte zu diesem Thema, dass es eine urtümliche Eigenschaft menschlicher Erkenntnis sei Fragen hervorzubringen, die gleichermaßen unausweichlich und unbeantwortbar sind. Wie konnte er sich dessen so sicher sein? Gibt es Fragen, die prinzipiell unbeantwortbar sind und wenn ja, warum sollte gerade dieser Umstand auf die Einheit der Erkenntnis verweisen? Schon Platon hatte darauf aufmerksam gemacht, dass es paradox sei Fragen nach einem Wissen stellen zu können, welches man nicht besitzt, wobei die Paradoxie darin besteht, dass solche Fragen durchaus sehr gut verstanden werden können. Nun ist es so, dass jeder gewöhnliche Aussagesatz durch gezielte grammatikalische Umformung in eine Frage umgebaut werden kann, was aber auch bedeutet, dass jeder Frage schon immer ein Aussagesatz korrespondiert, denn sonst wäre sie nicht verständlich. Ist die Frage ein reines Stilmittel der Rhetorik? Ist die Frage prinzipiell nachträglich? Goethe schließlich hielt die Einsicht, dass das Phänomen schon die Theorie sei und keine weitere Nachfrage dulde, für die höchste und pflichtete damit Kant und Platon in ihrer Kritik der Frage bei: Die Götter antworten nicht auf Fragen, sagte er. Ist die Frage nach dem empirischen wie des Kantischen dass eine verbotene Frage weil sie versucht der Einheit von Einheit und Differenz auf die Schliche zu kommen?
Wenden wir uns zunächst einem alltäglichen Gegenstand zu – dem Automobil. Das Automobil hat eine große Anzahl verschiedener Prädikate: es kann unter anderem schwer, lang, schnell, teuer und silbern sein oder aber leicht, langsam, kurz, preisgünstig und rot. Doch auch kurze Automobile können teuer sein und schnell, genauso wie lange und schwere Automobile rot sein können. Die Prädikate, die wir dem Automobil zuschreiben, sind – erstaunlicherweise – innerhalb weiter Grenzen frei kombinierbar. Mit und ohne Navigation, Stoff oder Ledersitze, vier oder sechs Zylinder, mit oder ohne Schiebedach, all das ist optional ohne dass sich andere Prädikate deswegen ändern müssten. Bemerkenswerterweise hat niemals jemand die Frage gestellt wie das Rote mit dem Schnellen oder das Kurze mit der Navigation zusammenhängt. Im Gegenteil – ihre kategoriale Trennung ist uns selbstverständlich. Intuitiv scheinen wir die Welt so aufzuteilen oder zu bestimmen, dass ihre Prädikate frei und unabhängig voneinander erkennbar und gegebenenfalls wählbar sind, was jede Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Prädikaten des Automobils genauso sinnlos macht wie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sehen, Hören und Fühlen sowie zwischen Physik, Chemie und Biologie. Die Prädikate des Automobils (wie die Sinne und die elementaren Wissenschaften) haben keinen gemeinsamen Maßstab, sie sind Absolute Differenz und können sich genau aus diesem Grund zu perfekter, d.h. der Widersprüchlichkeit prinzipiell enthobener Einheit versammeln. Die Welt ist denkbar und existiert als die dem Widerspruch per se enthobene Einheit der Kategorien. Ohne solche Kategorien, die jedes gemeinsamen Maßstabs entbehren, wäre nichts erkennbar, denn alles wäre mit allem vernetzt, voneinander abhängig, unbegrenzt und somit unsagbar komplex und unanschaulich. Einem solchen Zustand sprachlicher Entmächtigung scheint Hegels in die Zeit gefallenem, nicht-begreifendem Geist zu korrespondieren. Sprachverwirrungen sind uns aber schon aus der Bibel bekannt und Apokalypsen, wie die des Johannes oder Hieronymus Bosch, waren seit jeher künstlerisch-visionärer Ausdruck der latenten Katastrophe eines sich buchstäblich in Bewegung setzenden Wissens, in dem die Kategorien sich auflösen und die Einzeldinge beginnen ein komplex-absurdes Eigenleben zu entwickeln.
Der Streit zwischen Nominalisten und Realisten (den heutigen Idealisten) ist so alt wie die Philosophie. Die Frage ob die Einzeldinge (das Pferd) oder die Universalien (Pferde) wahre oder nur abgeleitete Existenz beanspruchen können war weder von Platon noch von Aristoteles eindeutig entschieden worden und wurde im Laufe der Geschichte immer wieder neu gestellt. Im 12. Jahrhundert wurde der sogenannte Universalienstreit durch Petrus Abélard mittels der Formel universalia in rebus beigelegt, nach der die Universalien (Kategorien) weder vor noch nach, sondern in den Einzeldingen sind, was Dingen und Universalien gleiche Berechtigung verschaffte. Der philosophische Waffenfrieden war jedoch nur von relativ kurzer Dauer, denn der Nominalismus hatte sich bereits mit dem Empirismus gegen den Realismus verbündet und sollte bald die vorherrschende Weltanschauung werden. Erst der Empirismus brachte eine entscheidende Wendung in den uralten Streit, indem er die sinnliche über die sprachliche Evidenz stellte und die Logik über die Vernunft. Beginn und Ende dieser Periode, die später Renaissance genannt werden sollte, sind nach Meinung der Historiker genauso so schwer zu bestimmen wie ihr charakteristisches Merkmal, was daran liegen mag, dass es sie überhaupt nie als solche gegeben hat. Eher könnte man von zwei gegenläufigen Tendenzen sprechen: auf der einen Seite von einem empirischen Nominalismus, der sich sukzessive über Klerus und Adel zu einer Volksbewegung entwickelt hatte, in der die von Ockham behauptete Nichtexistenz der Universalien und Roger Bacons Forderung nach sinnlicher Evidenz rasch in einen sinnlich-subjektiven, antidogmatischen und antiautoritären Welterschaffungswettbewerb umschlug. Die Einzeldinge, nun sich selbst überlassen, begannen alsbald sich in Bewegung zu setzen und ineinander zu verwickeln. Boschs Apokalypsen, in denen sich Mensch mit Tier, Gut mit Böse und überhaupt alles mit allem vermengt, Cervantes Don Quixote und Brants Narrenschiff künden von der gedanklichen Fehlkonstruktion und vom Scheitern des ersten Gesellschaftsexperiments der Neuzeit, dem einerseits die Universalien nichts galten und dem andererseits die Einzeldinge in ihrer temporalen Komplexität und zentrifugalen Tendenz entgleiten mussten oder schon entglitten waren. Dürers Melencolia I ist Ausdruck der Desillusionierung des Renaissance Humanismus. Als dem Nominalismus entgegengesetzte Strömung kann der langsame Aufstieg einer neuen Denkweise gesehen werden, die als docta ignorantia bekannt werden sollte und manchen als der Ursprung moderner Philosophie gilt. Mit ihr nimmt Nikolaus von Kues (Cusanus) die Sokratische Skepsis in eigener Interpretation wieder auf. Zwar ist auch sie antidogmatisch, aber nicht subjektiv und antiautoritär, denn das skeptische Subjekt ist nicht das individuell sinnliche, sondern das in der Sprache verfasste und der Sprache verpflichtete, sozusagen das spätere Kantische Subjekt. Der Cusaner ist skeptisch gegenüber der Logik des Aristoteles, der Möglichkeit reiner Sinneserfahrung und der Existenz der Zeit: Wahre Zeit ist zeitlose Zeit. Er erkennt, dass menschliche Erkenntnisfähigkeit nicht in der logisch-zeitlichen Deutung und Extrapolation der Sinneserfahrung liegt, sondern eher in einer Art Anschaulichkeit, die er coincidentia oppositorum nennt. In ihr fallen die fragend unvereinbaren Kategorien der Erfahrung ohne Zwang zu widerspruchsloser Anschauung zusammen. Cusanus erkennt, dass das Wissen konstitutiv auf Nichtwissen beruht. Dabei ist seine docta ignorantia (wissende Unwissenheit) nicht pessimistischer Ausdruck des Nicht-Wissenkönnens, der Relativität des Wissens oder der Schwäche menschlichen Intellekts überhaupt, sondern die Bedingung des Wissens selbst. Das Wissen begegnet in der Anschauung und es wird durch Nichtwissen gewusst – nicht durch Konstruktion. Es zeigt sich in rationaler Sagbarkeit. Damit aber entzieht es sich der Logik, die in ihren Prämissen das auseinander trägt was die docta ignoratia längst aussagt um es – mit Parmenides Worten – nach Art des wandernden Wissens, welches allein den Sterblichen gegeben ist, wieder zusammenzusetzen. Die Logik, indem sie die Dinge prozessual nach affirmativen Regeln (Algorithmen) verbindet, hintertreibt die sprachliche Anschaulichkeit. Die Humesche Regel aber, das zeitliche Wenn…dann, verlegt das Sein in die vermeintlich erlebbare historische Zukunft, die doch nie sein wird, und zwingt so zum fortwährenden Ver-recht-fertigen des Nichtgelingens; was im ständigen Fluss des Konstruierens und Entsorgens nicht mehr vorkommt ist die Fülle und Selbstevidenz des Seins. Des Cusanus Rückzug aus der ‚Zeit‘ in die Anschauung kündet vom Ende des Renaissance Humanismus und vom Anbruch einer neuen Ära, die das Denken über das Tun stellen sollte – und das Wort über das Bild.
Shakespeare war der geniale Vorbote einer neuen Generation von Dichtern und Denkern, und die Idealfigur einer neuen Zeit, die ihm vorgeschwebt sein mag, könnte der Vertraute Hamlets, Horatio, gewesen sein; ehrlich gegen sich und andere, loyal, intelligent, in sich selbst ruhend, seinen Intuitionen vertrauend und seine Passionen kontrollierend ist er schon der skeptisch-rationale Denker, der bald mit Descartes in die Welt treten sollte. Hamlet dagegen, zwar der gleichen Zeit aber nicht der gleichen Welt zugehörig, ist Ziele verfolgend, oft wankelmütig, logisch-berechnend, auch täuschend und von Leidenschaften getrieben. Hamlet muss sterben – Ho-ratio aber leben. Kann Shakespeare als Herold des Rationalismus gesehen werden? Im England seiner Zeit grassierte die Angst vor dem ‚Machiavillain‘, d.h. vor dem italienischen Schurken, der Wissen, Tradition und Kontinuität in Gefahr gebracht hatte. The time is out of joint könnte Shakespeares Metapher für dieses in die Zeit gefallene Wissen gewesen sein. Beispielhaft für zahlreiche Stellen, die ein von neuerer Forschung unterstelltes explizites Verhältnis Shakespeares zum Problem der Zeit nahelegen, mag eine Passage aus Macbeth stehen: Life’s but a walking shadow, a poor player / That struts and frets his hour upon the stage / And then is heard no more. It is a tale / Told by an idiot, full of noise and fury, / Signifying nothing. Die einzige Realität für Shakespeare scheint die Szene gewesen zu sein, das Dasein im Hier und Jetzt des Wissens und die jederzeit ambiente Möglichkeit dieses Dasein logisch-wollend zu hintergehen. Alles darüber hinausgehende, Vergangenheit und Zukunft, ist ihm bloß konstruiert, fabuliert und nichts bezeichnend; die Zeit als Illusion oder, genauer, als Erfahrung der Desillusionierung. Der Versuch der Annullierung der Zeit, die Hinwendung zur Zeitlosigkeit und damit zum anschaulich Wissbaren, sollte das Kernmerkmal des Rationalismus werden. In ihm sollten die inkommensurablen Prädikate dessen was ist wieder in zwangloser Einheit zusammenfallen. Gott, der Mensch und die Welt sind nicht getrennt denkbar und Spinoza bemüht gar einen Beweis nach geometrischer Methode um zu zeigen, dass dies nicht anders sein kann. Auch Leibniz und Descartes waren Mathematiker und von letzterem ist bekannt, dass er die Logik des Aristoteles rundweg ablehnte zu Gunsten eines widerspruchsfreien ‚geometrischen‘ Denkens. Descartes hinterließ uns nicht nur den aus logisch-zeitlicher Sicht problematischen Körper-Geist Dualismus, sondern auch das auf der gleichen ‚Geometrie‘ beruhende Kartesische Koordinatensystem. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass sich seine Achsen weder einander bedingen noch aufeinander reduzieren lassen; es ist sozusagen nichts von Y in X, die Achsen sind orthogonal oder ‚rein‘ im Sinne Kants. Gleichzeitig sind sie sich nicht so ultimativ und unproduktiv fremd wie etwa die Elemente der Aristotelischen Denkfigur von Form und Inhalt, denn sie können einander zu Fläche und Raum ergänzen. Dabei bleiben sie zwar was sie sind (nämlich inkommensurabel), können sich aber doch zu einem Ganzen völlig neuer Art fügen welches in ihnen selbst nicht enthalten ist. Der Rationalismus war der Sieg über den Nominalismus-Empirismus, d.h. des gleichzeitigen, widerspruchsfreien Denkens oder Anschauens der gesamten sich zeigenden Welt über deren Auflösung in multiple, unbestimmbar verkettete und sich endlos verzweigende logische Prozesse in der Zeit. Er führte nicht nur zurück zum Waffenstillstand des Abélard, sondern machte darüber hinaus deutlich in welcher Weise sich der Nominalismus und der Realismus (Idealismus) gegenüberstehen, nämlich irreduzibel, wechselseitig konstitutiv und aufgehoben in rationaler, d.h. sprachlicher Einheit. Der rationale Wissensfrieden sollte aber wiederum nur von bescheidener Dauer sein; dem zeitlich-psychologisch aufgeladenen Empirismus Humes und der Eigendynamik der Französischen Revolution konnte sich der Rationalismus nicht dauerhaft widersetzen. Das zweite große Gesellschaftsexperiment der Neuzeit nahm etwa zur Zeit Goethes seinen Lauf. Und wenn er im Faust in der Studierstubenszene die Logik als inadäquate Denkweise disqualifiziert, ja lächerlich macht, kann man ihn in rationaler Tradition stehend sehen und somit einen Standpunkt einnehmend, der es ihm erlaubte eine Geistesströmung, die angehende Moderne, als Fehlentwicklung zu bemerken und zu kritisieren.
Goethe glaubte, oder hoffte, von der Nachwelt als Wissenschaftler erinnert zu werden. Stattdessen wurde er Deutschlands größter Dichter. Wenn Shakespeare ein explizites und klares Verhältnis zur Zeitlichkeit nachgesagt wird, streitet Heidegger Goethe ein solches ab. Vielleicht ist es aber einfach so, dass die Zeit für Goethe genauso wenig Relevanz hatte wie für Shakespeare, dass also beide implizit eine negative Theorie der Zeit vertraten. Im Fragment ‚Die Natur‘ sagt Goethe: Vergangenheit und Zukunft kennt sie [die Natur] nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Und auf seiner Italienreise gilt seine Aufmerksamkeit nicht den Topoi der Renaissance oder der römischen Antike, sondern den griechischen Ruinen und Tempeln. Die Nichtzeit, die in Platons Ideenlehre zum Tragen kommt, scheint zu sein, was Goethes Interesse magisch anzieht und in den Wahlverwandtschaften entwirft er eine eigene Theorie des Gedächtnisses und des Erinnerns, die des Zeitbegriffs entbehrt. Wenn also Goethe in Heideggers Opus Magnum keine Erwähnung findet, dann nicht weil er keine Theorie der Zeit, sondern weil er eine zeitlose Theorie der Erfahrung hatte. Unter diesem Gesichtspunkt kann Goethes Faust als die Beschreibung des Hereinbruchs der Zeit über die Statik barocken Daseins auf der Folie des Niedergangs der Renaissance verstanden werden. Steht Goethe etwa nicht auf Seiten der Romantik sofern diese von Friedrich Schlegel beschrieben wird als die Zeit, die wie keine vor ihr so stark, und so nah, so ausschließlich und allgemein an die Zukunft angewiesen worden, als unsere jetzige? Viele Äußerungen Goethes lassen darauf schließen, dass er den Romantikern gleichermaßen meisterlich und skeptisch gegenüberstand wie später Einstein einer Generation junger Quantenphysiker. Unter diesem Aspekt erscheint sein Faust nur vordergründig als Aufbruch in neue Zeit, während sich im Hintergrund die Apokalypse verdichtet als der Sturz des Hegelschen Geistes aus seinem Begriff in die mannigfaltig explodierende Zeit. In seinem Drang mehr zu wissen als es zu wissen gibt verschreibt sich der hochgelehrte Faust der Hölle und stürzt sich mit Mephistopheles ins Rauschen der Zeit und ins Rollen der Begebenheit. Im Urfaust liest sich diese Stelle noch als romantischer Aufbruch: Ich fühle Muth, mich in die Welt zu wagen / All Erdenweh und all ihr Glück zu tragen, / Mit Stürmen mich herum zu schlagen / Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen. Erst in Faust I erkennt Goethe das faustische Element im Wollen des Kontinuums, in der Einebnung begrifflicher Grenzen und des damit verbundenen Eintritts in die historische Zeit. Obwohl schon in Faust I angelegt, zögert er die Apokalypse noch ein halbes Leben lang hinaus. Erst im Alter ist er ihr sicher genug und bringt sie in Faust II zur Ausführung. In einer an Hieronymus Bosch erinnernden Phantasmagorie von Inhalten, Bezügen, Stilen und Metriken führt er seinen Zeitgenossen die angehende Moderne mit den Mitteln, die sie ihm selbst an die Hand gegeben hatten, als eine zusammenhangslose Folge des Scheiterns vor Augen.
Da Schlegel in seiner Definition der Moderne schon alle Superlative verbraucht hat, kann unsere Zeit ihr nichts Wesentliches hinzufügen. Zu seiner Zeit – und durch ihn selbst benannt – hieß die Romantik, oder die dahinterstehende moderne Geisteshaltung, noch Historismus. Der alte Begriff macht deutlicher als der neue, was genau in der Romantik geschieht, nämlich die Übersetzung des Seins ins Werden und die Hinwendung zur geschichtlichen Gestalt. Newton war sich noch ausdrücklich im Klaren darüber gewesen, dass seine Gesetze der Bewegung keine Aussagen über die historische Zukunft machen, sondern Objektverhältnisse in mathematisch-philosophischer Zeit angeben, von der er sagte, dass sie, genau wie der absolut-unendliche Raum, keinesfalls unter die Beobachtung unserer Sinne kommt. Dieses Wissen ist schon bei Hume, dem Historiker, verloren und der geschichtlichen Interpretation der Kausalität, also der zeitlichen Folge von Ursache und Wirkung, gewichen. Mit All knowledge degenerates into probability nahm die konstruktivistische Logik (und mit ihr die Geschichtswissenschaft) einen ungeahnten Aufschwung, der erst mit Gödels Theoremen formal in sich zusammenbrechen sollte. Der Glaube aber, dass die historische Zukunft nicht die Domäne der Hoffnung, sondern die berechenbare Verlängerung der Vergangenheit ist, war schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts tief in die europäische Gesellschaft eingedrungen, und die Vergangenheit war schon seit Darwin zur wissenschaftlichen Kolonisierung freigegeben. Als Einstein 1922 in einem berühmten Rededuell vor der Pariser Philosophischen Gesellschaft Bergson die Zeit als Gegenstand der Philosophie/Psychologie absprach und sie im Geiste Newtons alleinig der Physik zuwies, war ihm offensichtlich nicht klar, dass die Zeitlichkeit nicht nur in die Künste und die Geisteswissenschaften, sondern längst auch in die Naturwissenschaften eingezogen war. Das sinnliche Subjekt der Renaissance war nicht nur wieder auferstanden, es hatte sich mit der Psychologie auch empirischer Wissenschaftlichkeit versichert. Zwar gewann Einstein die Redeschlacht, der Krieg gegen die Zeit aber war schon verloren.
Springen wir von hier in die Jetztzeit: in eine nominalistisch-empirische, konstruktivistische ‚bottom-up‘ Wissenschaft; in einen entmenschlichten Naturalismus, in eine als Pythia sich gerierende Informationstechnologie; in gesellschaftliche Zukunftsmodelle, deren Einwohner typischerweise pheromongesteuerte Ameisen oder monoton kreisende Fischschwärme sind; in Neurolaboratorien, in denen Geist aus Materie destilliert wird und ins Multiversum, dessen Zweck einzig darin besteht schwarze Löcher und somit weitere Universen zu produzieren. Wir finden uns schließlich wieder in einer Zeit, in der der mentale Upload ins Internet oder die Kreuzung aus künstlicher Intelligenz und Gentechnologie nicht als Apokalypse, sondern als ultimative Steigerung einer unersättlichen faustischen Rauschhaftigkeit erscheinen, als totale Entgrenzung. Auch das dritte große künstlich-künstlerische Gesellschaftsexperiment der Neuzeit, das im heißen Sommer 1968 seinen Anfang nahm, ist gescheitert, und im Erkennen dieses Scheiterns bäumt es sich zum großen Finale auf, nämlich zur Idee der sukzessiven Abwicklung des Menschen in einer transhumanen Gesellschaft. Welche Sprache lässt solches denken? Welche Sprache ist es, die den Mensch als der Natur unwürdig abschaffen oder doch auf das Niveau von Ameisen oder Fischen reduzieren will? Es ist eine denk-entmächtigte Sprache, der die Universalien, Kategorien und Begriffe zugunsten einer dinglichen Rechtverfertigungslogik, die sie selbst schon lange nicht mehr durchschaut, abhanden gekommen sind. Es ist eine Sprache, die den zweifellos beeindruckenden quantitativen Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechnologie (Moores Law) naiv auf qualitative Fortschrittsankündigungen wie etwa denkende, lernende oder fühlende Maschinen, postbiotisches Leben oder sich selbst organisierende Artefakte ausdehnt. Im antiautoritären, das heißt, nicht-auf-die-Sprache-hörenden-Wollen des sinnlichen Subjekts stellt sich das (fälschlich) nonkonformistisch interpretierte Anything Goes Feyerabends jedoch zunehmend als ein rien ne va plus heraus und die Zeit als Symptom des permanenten Scheiterns an einer begrifflichen Realität, die sich genauso hartnäckig zeigt, wie sie als Konstruktion geleugnet wird. Auch im dritten großen Gesellschaftsexperiment der Neuzeit hat sich die ‚Zeit‘ als nicht stichhaltig erwiesen, sondern als medialer Bluff.
Wenn heute Wissenschaftler nach dem Biologischen im Chemischen und nach dem Geist in der Materie suchen als hätte sich Heraklit nie über seine Zeitgenossen beschwert, dass sie nicht verstünden wie das Getrennte schon miteinander verbunden ist, zerren sie die Sprache in den Fluss, in den man in der Tat nicht zweimal steigen kann. Denn in die Neuzeit übersetzt sagt Heraklit, mit Hegel, dass die Einzelwissenschaften erst dann sich überhaupt zu einem Kreis und zu einem Ganzen fügen können, wenn sie sich gegenseitig negieren, d.h. maximal getrennt und nicht mehr aufeinander reduzierbar sind. Platon sagt das mit gewogeneren Worten: So, wenn die ganze Seele dem philosophischen Element zugetan ist und sich nicht zerteilt, folgt daraus, dass jedes Element seine Arbeit tut und gerecht ist. Es ist genau in diesem Sinne Absolut-nicht-falsch zu denken, dass z.B. das biologische Element (die Zelle) aus chemischen Elementen (Molekülen) besteht, und dass beide Elemente sich im philosophischen Element widerspruchsfrei und wirkmächtig zusammenfinden. Erst bei analytischer Hinwendung zum chemischen und biologischen Element, d.h. bei der Hinterfragung ihrer Relation, werden sie ungerecht gegeneinander, wie Anaximander sagte, und geben sich Schuld und Buße nach ihrer Anordnung in der Zeit, was wir heute mit Ursache und Wirkung, d.h. Kausalität im Sinne Humes, übersetzen würden. Genau hier verliert der Geist seinen Begriff und fällt, so Hegel, notwendig in die historische Zeit, d.h. in den logischen Prozess. Und genau an diesem Punkt wird die Wissenschaft zum Feind des Wissens, indem sie längst gegebene Antworten (Goethe: das Phänomen ist schon die Theorie!) in Fragen verwandelt, deren ‚Zweitbeantwortung‘ zwangsläufig in ein zeitlich-komplexes Schema mündet, welches die Inkommensurabilität der Kategorien durch Verletzung ihrer Grenzen unterläuft und damit die Anschaulichkeit des Wissens dekonstruiert. Schon die griechische Tragödie reflektierte die Überschreitung von Grenzen als ein Vergehen gegen die zeit-lose Ordnung der Götter, die den Frevler wohl zu strafen wussten. In Abwesenheit einer mit Blitz und Donner strafenden Instanz avancierte die Tragödie in der Form des wandernden Wissens Sterblicher zum Dauerzustand der Moderne, wobei den Missetätern mittels der Erfindung von Investition und Wachstum sozusagen ein Moratorium gewährt wurde. Offensichtlich leben wir in Zeiten endender Moratorien – die modernen Götter fordern nicht nur die Zinsen sondern auch das Kapital zurück. Die Sprache trägt nicht mehr.