Eine kurze Einführung zu Tugendethik

Tugendethik: Die praktische Alltagsethik?

Was ist Tugendethik? Wie verhält sich die Tugendethik zu anderen ethischen Theorien? Und was macht sie interessant?

    Lesen Sie den ganzen Beitrag hier!

     

    Die Ethik beschäftigt sich mit der Frage, was wir tun und nicht tun sollen. Eine Antwort kann je nach dem sehr allgemein ausfallen, wie zum Beispiel: „Tu das, was möglichst viel Glück und möglichst wenig Leid verursacht.“ Die Antwort kann aber auch präziser sein, wie zum Beispiel: „Prostitution ist entwürdigend und es ist daher moralisch verwerflich, Dienste von Prostituierten anzunehmen“. Ethik wird oft dann betrieben, wenn der gegenwärtige Zustand als verbesserungswürdig empfunden wird. Daher ist Ethik oft mit einem Appell verbunden, unser gegenwärtiges Verhalten zu ändern oder sich mehr für das Gute zu engagieren.

     

    Um Antworten auf ethische Fragen zu finden, wurden verschiedene Theorien entwickelt. Zwei prominente Theorien sind bekannt unter den Namen „Deontologie“ oder „Pflichtethik“ und „Utilitarismus“. Um zu entscheiden, welche dieser beiden Theorien die bessere ist, haben Philosophen eine Reihe von Gedankenexperimenten aufgestellt. Ein sehr bekanntes Gedankenexperiment ist das Trolley-Gredankenexperiment: Stellen Sie sich vor, eine Strassenbahn ist ausser Kontrolle geraten und rollt mit hoher Geschwindigkeit auf 5 Gleisarbeiter zu, die die anrollende Bahn vor lauter Arbeit nicht kommen sehen. Die Gleisarbeiter sind zu weit weg, als dass Sie sie mit Rufen warnen könnten. Zufälligerweise befindet sich ein Weichensteller in Ihrer Reichweite und Sie könnten die Strassenbahn auf eine Bahn umleiten, auf der nur 1 Gleisarbeiter arbeitet. Wenn Sie nichts tun, dann sterben 5 Gleisarbeiter, wenn Sie die Weiche umstellen, dann stirbt nur ein Gleisarbeiter. Würden Sie die Weiche umstellen?

     

    Anhänger einer utilitarischen Ethik argumentieren, dass eine Handlung dann gut ist, wenn sie viel Glück bringt und dass eine Handlung schlecht ist, wenn sie viel Leid produziert. Der Tod eines Menschen verursacht Leid und Trauer, doch der Tod von 5 Menschen verursacht noch mehr Leid und Trauer. Da der Tod von 5 Menschen mehr Leid produziert als der Tod eines Menschen, sollten wir nach der utilitaristischen Ethik die Weiche umstellen.

     

    Was aber, wenn wir das Gedankenexperiment ein bisschen abändern? Was würde die utilitaristisch Ethik empfehlen, wenn wir statt eine Weiche stellen, eine dicke, fette Person schubsen könnten, die zufällig vor dem Gleis steht, und die mit ihrem Gewicht die Bahn zum Stillstand bringen könnte? Die utilitaristische Ethik würde in diesem Fall raten, die dicke Person zu schubsen, weil das Nicht-Schubsen der dicken Person der Tod von 5 Menschen bedeuteten würde, während beim Schubsen der dicken Person nur eine Person stirbt.

     

    Anhänger der deontolgischen Ethik argumentieren hingegen, dass es gewisse Handlungen gibt, die an sich gut oder schlecht sind, unabhängig von den Folgen, die sie nach sich ziehen. Oft genannte Beispiele für intrinsisch schlechte Handlungen sind Lügen, Stehlen, Morden oder Verletzen. Wenn wir eine dicke Person vor die Bahn schubsen, um 5 andere Menschen zu retten, dann begehen wir Mord. Und weil Mord eine Handlung ist, die intrinsisch schlecht ist, sollten wir die dicke Person nicht vor die Bahn schubsen, weil wir uns so zu Mörder machen.

     

    Schau dir das Video von Filosofix (SRF) über dieses Gedankenexperiment an:

    https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/filosofix/darf-man-opfern-um-zu-retten-gedankenexperiment-strassenbahn

     

    Gedankenexperimente, wie das eben genannte Trolley-Gedankenexperiment, sind anregend und spannend. Sie dienen hervorragend zur Einführung von ethischen Problemen und liefern jede Menge Gesprächsstoff. Aber es fällt auch schnell auf, dass diese Gedankenexperimente oft sehr lebensfremd sind. Unser Leben ist voller Ungewissheiten. Die meisten von uns werden selten in eine Situation hineinkommen, in denen sie so klar über Leben und Tod entscheiden können, wie in diesem Trolley-Gedankenexperiment. Auch sind die Folgen unserer Handlungen in vielen Fällen kaum vorhersehbar. Inwiefern sind diese Gedankenexperimente und die damit verbundenen ethischen Theorien hilfreich, Entscheidungen im alltäglichen Leben zu treffen?

     

    Tugendethik

    Dies bringt uns zu einer dritten ethischen Theorie, der Tugendethik. Im Unterschied zur Pflichtethik und zum Konsequentialismus fokussiert die Tugendethik weniger auf Handlungen oder auf die Folgen einer Handlung, sondern auf den Charakter einer Person. Im Zentrum der Tugendethik steht der Begriff der tugendhaften Person, einer Person, die exzellente Charaktereigenschaften besitzt. Klassische Beispiele für exzellente Charaktereigenschaften, sogenannte Tugenden, sind Weisheit oder Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Selbst-Beherrschung. Die Tugendethik versucht ethische Fragen zu beantworten, indem sie fragt, was eine tugendhafte Person in einer bestimmten Situation tun würde.

     

    Eine häufig genannte Kritik an die Tugendethik ist, dass die Tugendethik nicht in der Lage ist, konkrete Antworten zu liefern. In der Tat, verglichen zum Konsequentialismus oder zur Pflichtethik, bietet die Tugendethik keine Regeln oder Prinzipien an, die man „mechanisch“ auf ethische Probleme anwenden könnte, wie im Beispiel des Trolley-Gedankenexperiments. Aber vielleicht liegt genau in diesem angeblichen Mangel die Stärke der Tugendethik.

    Wir alle haben von Menschen gehört, die Aussergewöhnliches zustande gebracht haben. Wir alle kennen Geschichten von Menschen, real und fiktiv, die wahren Mut bewiesen haben und die sich trotz Lebensgefahr für die Schwachen eingesetzt haben. Wer von uns hat den Mut und das Durchhalte-Vermögen von Mahatma Ghandi, der sich für die Ärmsten der Inder eingesetzt und sich mit dem britischen Imperium angelegt hat? Wer von uns besitzt die Selbst-Beherrschung und Besinnung von Nelson Mandela, der trotz Apartheid, erfahrenen Strapazen und nach 27 Jahre Gefängnis nicht zur Gewalt gegen Weisse ausgerufen hat? Und wer von uns besitzt die Weisheit eines Jesus Christus‘ oder die Klugheit eines Albert Einsteins?

    Selbst wenn man persönlich diese eben genannten Menschen nicht schätzt, wird jeder von uns Menschen kennen, deren Charaktereigenschaften man selber bewundert. Und wollen wir nicht selber auch diese besonderen Charaktereigenschaften erwerben? Wollen wir nicht auch klüger und weiser werden? Wollen wir nicht auch mutiger und selbst-beherrschter sein?

    Was der Tugendethik fehlt, nämlich eine konkrete Anleitung zu was eine Handlung gut oder falsch macht, macht sie wieder gut, in dem sie uns eine Orientierung gibt, wie wir besser im Leben werden können, nämlich, durch das Aneignen von guten Charaktereigenschaften, die wir in besonderen Menschen erkennen oder durch das Abgewöhnen von schlechten Charaktereigenschaften, die wir wiederum in schlechten Menschen sehen.

    Der Chef, der einfach so Frauen einen schlechteren Lohn anbietet, als gleich-qualifizierten Männern, ist nicht nur deshalb schlecht, weil er Leid in Form von Frustration verursacht, sondern auch, weil er schlechte Charaktereigenschaften besitzt: Er ist unweise, ignorant und voreingenommen. Er denkt nicht über Dinge nach, wie wir es von einer klugen und weisen Person erwarten würden.

    Die Geschäftsfrau, die unbekümmert Geschäfte mit Kinderarbeit macht, ist nicht nur deshalb schlecht, weil sie Leid in Form von Misshandlung und Armut verursacht, sondern auch, weil sie schlechte Charaktereigenschaften besitzt: Sie ist skrupellos, opportunistisch und besessen von Geldgier. Sie nimmt die Bedürfnisse, Interessen und Rechte Anderer nicht wahr, wie wir es von einer fairen und gerechten Person erwarten würden.

    Selbst wenn sich beim sexistischen Chef noch nie eine Frau beworben hat oder selbst wenn die skrupellose Geschäftsfrau bisher nie Geschäfte mit Kinderarbeit gemacht hatte, sind sie, aus der Sicht der Tugendethik, immer noch kritisierbar. Was bei der Tugendethik zählt ist nicht, ob die Personen bereits etwas Schlechtes oder Gutes getan haben, sondern, ob sie geneigt wären, in der jeweiligen Situation das Richtige oder das Falsche zu tun. Menschen mit schlechten Charaktereigenschaften sind dazu geneigt, schlechte Dinge zu tun, während Menschen mit guten Charaktereigenschaften dazu geneigt sind, gute Dinge zu tun.

    Die Orientierung an Charaktereigenschaften hilft uns vielleicht wenig, wenn es um die Frage geht, ob wir einen Menschen töten dürfen, um 5 andere zu retten, wie im Beispiel des Trolley-Gedankenexperiments. Aber die Orientierung an Charaktereigenschaften hilft uns, so denke ich, Entscheidungen in Alltagssituationen zu treffen, wo konsequentialistische oder deontologische Überlegungen weniger hilfreich sind.

    Beispiele:

    Wenn wir uns die Preise im Kleidergeschäft ansehen und bemerken, wie günstig sie doch sind, sollte es uns, als kluge Person, nicht wundern, ob die Preise nicht ein bisschen zu günstig sind? Wäre es nicht die Eigenschaft einer naiven oder ignoranten Person, sich überhaupt keine Gedanken über die möglichen Gründe für günstige Kleider zu machen? Wäre eine intelligente Person nicht von uns enttäuscht, wenn wir so unkritisch durchs Leben gehen?

    Wenn die Fleischindustrie jährlich mehrere Milliarden von Tieren in Massentierhaltungen schlachtet, sollten wir uns hier nicht vielleicht Sorgen machen, ob die Tiere dort wirklich so gut behandelt werden, wie es in Werbungen immer dargestellt wird? Ist es nicht ein schöner Zufall, dass alle Menschen, die sich so sehr Sorgen um das Wohl der Tiere machen, auch gleich in der Fleischindustrie arbeiten? Ist dieser Zufall nicht ein bisschen zu schön um wahr zu sein? Sollten wir als aufmerksame und kritische Personen nicht so gutgläubig sein und uns vielleicht besser informieren?

    Wenn vor unseren Augen eine Ungerechtigkeit geschieht und wir nur wegsehen und vorbeilaufen, sollten wir uns nicht vielleicht schämen, dass wir so passiv sind? Verurteilen wir nicht selber Menschen hart, die feige und tatenlos sind? Was würden unsere Helden von uns denken, deren Mut wir so sehr bewundern, wenn wir einfach permanent jede Verantwortung von uns weisen? Machen wir uns das Leben nicht zu einfach, wenn wir die Schuld immer nur anderen zuschieben?

    Wenn wir im Diskurs alle Gegenmeinungen pauschal als komisch, dumm oder idiotisch abwinken, ohne uns ausreichlich mit ihnen beschäftigt zu haben, sind wir dann wirklich besser als diejenigen, die unsere Meinungen pauschal missbilligen? Ist ein Beharren auf die eigene Meinung nicht die Eigenschaft eines Sturkopfes oder eines Denkfaulen? Wären die grossen Denker und Wissenschaftler, deren Weisheit wir so sehr bewundern, nicht enttäuscht von uns, wenn wir jedes Gespräch von Anfang an mit Verschlossenheit begegnen?