Hat die Wahrheit ein hässliches Gesicht?

„Der Urs hat mir ein Bein gestellt“ – „Das ist nicht wahr!“ – „Doch, so war es!“ – Das Geschrei der Kinder ertönt laut über den Schulhof. Und es nervt.

    Nicht weniger nervt so mancher Streit zwischen Erwachsenen. Während der Angeklagte vor Gericht behauptet, er sei zum Tatzeitpunkt verreist gewesen, bestreitet die Staatsanwältin das vehement. Umweltschützer streiten sich mit einer Industrievertreterin, ob ein neuer Farbstoff die Gesundheit gefährdet. Und in der Politik wird darüber gestritten, ob die niedrige Arbeitslosigkeit Folge eines neuen Gesetzes oder bloss ein saisonaler Effekt ist.
    Immer geht es darum, wer Recht hat. Es geht um die Wahrheit. Zwei Behauptungen stehen im Raum. Weil sich beide widersprechen, können nicht beide wahr sein. Die Wahrheit duldet keinen Widerspruch. Daher kann nur eine der Parteien Recht haben.


    Die Wahrheit hat also ein hässliches Gesicht, so scheint es: Sie führt zu Streit. Wohlgemerkt dreht sich nicht jeder Streit um die Wahrheit. Wenn sich die Mitglieder einer Familie darüber streiten, in welcher Reihenfolge sie morgens duschen, dann geht es nicht um die Wahrheit, sondern um Interessen. Aber es gibt auch den Streit um die Wahrheit.
    Vielleicht können wir daher einigen Streit vermeiden, wenn wir die Wahrheit nicht mehr so wichtig nehmen. Wir würden dann keine Wahrheit mehr beanspruchen. Die Wahrheit wäre uns egal. Dafür gäbe es weniger Streit.


    Eine Position, die in diese Richtung geht, wird vom amerikanischen Philosophen Richard Rorty vertreten. Einer seiner Aufsätze trägt den sprechenden Titel „Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“. (1) Darin beschäftigt sich Rorty mit philosophischen Wahrheitsansprüchen. Er argumentiert, dass das Zusammenleben der Menschen nicht auf wahren philosophischen Ansichten beruhen muss, z.B. darüber, was der Mensch ist. Umgekehrt sollten wir darauf verzichten, philosophische Wahrheitsansprüche geltend zu machen, wenn das ein demokratisches Zusammenleben erschwert.


    Ich denke dagegen nicht, dass wir allgemein auf Wahrheitsansprüche verzichten sollten oder dass wir uns nicht mehr um die Wahrheit zu kümmern sollten. Und der Streit selbst hat eigentlich mit der Wahrheit nicht viel zu tun. Aber der Reihe nach.
    Zunächst lassen sich bestimmte Auseinandersetzungen um die Wahrheit gar nicht vermeiden. Das Gericht muss herausfinden, ob wahr ist, dass der Angeklagte verreist war. Und natürlich interessiert uns die Wahrheit über einen neuen Farbstoff. Denn je nachdem, ob er die Gesundheit gefährdet, können wir damit unseren Zaun streichen oder nicht.


    In Streitigkeiten wie den genannten geht es um wichtige Sachfragen. Es geht etwa darum, wo der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat war. Interessanterweise können wir die Gegenstände der Streitigkeiten ausdrücken, ohne die Wahrheit zu erwähnen: Es geht eben um den Aufenthaltsort des Angeklagten. Damit gilt, etwas überspitzt ausgedrückt: Es geht um die Sache, nicht um die Wahrheit.


    Welche Rolle spielt dann aber die Wahrheit in so manchem Streit? Nun, sie ist nicht Gegenstand des Streits, sondern Bewertungsmassstab. Wenn der Angeklagte sagt, er sei verreist gewesen, und die Staatsanwältin das bestreitet, dann stehen zwei Ansichten zu einer Sachfrage im Raum. Es geht dann darum, welche von beiden Ansichten wahr ist. Beide Parteien orientieren sich an diesem Massstab.


    Diesen Bewertungsmassstab wenden wir nicht nur im Streit an. Wir beziehen uns auch auf ihn, wenn wir etwas für wahr halten. Und das tun wir immer dann, wenn wir etwas glauben oder davon überzeugt sind. Wenn ich etwa glaube, dass der Farbstoff die Gesundheit gefährdet, dann halte ich das für wahr.


    Was wir für wahr halten, bestimmt mit über unser Handeln. Wenn sich Sonja zum Beispiel vorgenommen hat, einen Kaffee zu trinken, und glaubt, dass sie diesen nur noch von der Kaffeemaschine im Keller erhält, dann wird sie dorthin gehen. Umgekehrt könnte Sonja ohne die Überzeugung, dass es Kaffee nur noch von der Maschine im Keller gibt, gar nichts tun. Sie müsste ihr Vorhaben, einen Kaffee zu trinken, aufgeben.


    Nun ist nicht alles, was wir für wahr halten, auch wahr. Sonja könnte sich etwa darin irren, dass es im Keller eine Kaffeemaschine gibt. Ihr Gang in den Keller wäre dann umsonst. Es ist also nicht nur so, dass wir für unser Handeln Überzeugungen brauchen. Es gilt auch: Ohne wahre Überzeugungen bleibt unser Handeln erfolglos. Wir brauchen also Wahrheit im Sinne von wahren Überzeugungen.


    Gerade deshalb sind wir auch irritiert, wenn die Überzeugungen einer anderen Person nicht mit unseren übereinstimmen. Denn das könnte ein Hinweis darauf sein, dass wir uns irren. Wir müssen uns dann mit der anderen Ansicht auseinandersetzen.


    Bei einer solchen Auseinandersetzung wird es nun immer dann besonders hässlich, wenn besondere Interessen im Spiel sind. Der Angeklagte hat z.B. ein offensichtliches Interesse daran, dass er ein Alibi vorweisen kann. Die Staatsanwältin braucht vielleicht dringend einen Erfolg, um in der Karriereleiter aufzusteigen. Und im Streit über den Farbstoff sind sogar kommerzielle Interessen im Hintergrund. Es erstaunt daher nicht, wenn die Auseinandersetzung heftig wird.


    Dass das nicht so sein muss, zeigen Auseinandersetzungen in den Wissenschaften. Dort geht es oft um die Frage, ob eine neue Hypothese wahr ist. Bei Diskussionen darüber versucht man, kommerzielle und ähnliche Interessen auszuklammern, so gut das geht. Manchmal kann der akademische Streit sogar lustvoll und mit Humor ausgetragen werden.


    Es ist also nicht die Wahrheit, die ein hässliches Gesicht hat. Das hässliche Gesicht zeigen wir Menschen, wenn wir uns zu sehr ins Zeug legen – oft aufgrund von bestimmten Interessen. Diese sollten wir zurückstellen, wenn wir darüber streiten, welche Ansicht wahr ist. Denn ohne wahre Überzeugungen bleibt unser Handeln erfolgos.

     

     

    Quellen

    1. Rorty, R., Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, Zeitschrift für Philosophische Forschung, 42 (1988), 3-17.

     

    Frage an die Leserschaft

    Wie sollten wir mit Situationen umgehen, in denen wir beispielsweise als Patient zwei Fachmeinungen von zwei hervorragenden Ärzten gegenüberstehen, die sich aber gegenseitig widersprechen, also beide die Wahrheit ihrer Aussage/Diagnose beanspruchen? Gibt es einen Ausweg? Wie sollen wir welchem Arzt vertrauen schenken?