Wie der Text uns bindet

"Es geht im Sozialen nicht um ein Band, das ver-bindet/verbändelt [...], sondern es geht um den Text, der sich zwischen uns entfaltet und uns bindet."

    Mit dem Zerfall der Selbstverständlichkeiten, die in der Moderne und Spätmoderne sozial verbindlich waren, tauchen in der Postmoderne nun allenthalben Fragen nach dem „sozialen Band“ auf, also nach dem, was „uns“ ver-bindet. Die Korrosion lebensweltlicher Geltungen in den Gesellschaften der Gegenwart ist inzwischen unübersehbar geworden und lassen den Ruf nach den vormals verbindenden Werten erschallen. Dieser Ruf durchzieht nicht nur die neuen Populismen, die zuweilen offen faschistisch, immer aber reaktionär sind in dem Sinne von Reaktion, der die Reaktionäre seit der Französischen Revolution kennzeichnet: die Ablehnung des eingetretenen politischen und sozialen Zustands und die Propagierung der Wiederherstellung alter Zustände. Dieser Ruf ist aber ebenso zu hören in den Beschwörungen der bedrohten Werte von Demokratie, Menschenrechten u. dgl.

     

    Im Hintergrund dieses Verunsicherungs-Managements steht unbefragt einerseits die Grundüberzeugung des Sozialliberalismus, nach der, wenn jeder nur an sich dächte und nur für sich sorgte, sich doch logisch zwingend ergäbe, dass dann an alle gedacht wäre. Dagegen, wenn jeder an die Anderen dächte und an die Nächsten und Fernsten, d.h. unter der Universalisierung der Selbstlosigkeit, niemandem geholfen wäre. Um ein Bild zu verwenden: wenn jeder dem Beispiel von St. Martin folgte und seinen Mantel zerschnitte, um eine Hälfte wegzugeben, dann hätte jeder nur einen halben Mantel und müsste frieren. Durch eine florierende egoistische Volkswirtschaft wäre dagegen dafür gesorgt, dass jeder sich einen ganzen Mantel leisten könne. Dass ein solcher Individualismus von Hobbes bis Rawls Nonsens ist, hätte eigentlich seit Marx bekannt sein können. Im Hintergrund steht aber andererseits auch die Gegenposition, nämlich dass es ein Etwas gäbe, das vor aller Individualität und allem sozialliberalen Egoismus weihevoller als diese wäre und das den Individuen erst Wert und Würde verliehe. War dieses Etwas ehemals die Kirche oder die Gemeinde, so rückten später die Ideen der Brüderlichkeit, der Gemeinschaft oder des Volkes, gar der Volksgemeinschaft in die unbesetzte Stelle ein. Am krassesten haben die Totalitarismen den Vorrang des Einen, großen Ganzen ausgedrückt und die Aufopferung aller Individualität den Menschen abverlangt: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles.“ Beide Hintergrundideologien eint trotz aller sonstigen Gegensätzlichkeit doch, dass sie substantialistisch denken. Seit Cassirers „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“, seit Heideggers Strukturontologie, seit dem Strukturalismus und dem Funktionalismus, seit der Systemtheorie Luhmanns und seit der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes sowie der pluralen Sozio-Ontologie des „Être-en-commun“ Nancys, kurz, seit allen Varianten postmodernen Denkens ist ein solcher Substantialismus obsolet geworden.1

     

    Dazu kommt, dass sowohl der Individualismus als auch eher kryptisch der Kollektivismus das eigentlich Soziale, konstituiert durch die Position des Dritten jenseits von Intersubjektivität und der Einheit des Kollektiven, nicht kennt.2 Der Blog „Liebe und Gemeinschaft“ rief noch diese Vermeidung des Dritten aus und verführte zu einem großen oder einem kleinen Substantialismus, als habe man sich entscheiden, ob Liebe geeignet sei, „Gemeinschaft“ zu gründen oder nicht, als ginge es darum, eine „Gemeinschaft“ zu haben, die uns durch ein „Band“ verbindet; sei es Liebe oder ein anderes Etwas. Da war Ferdinand Tönnies schon weiter als der Gemeinschaftskult des 20. Jahrhunderts; er unterschied bekanntlich Gesellschaft und Gemeinschaft nicht mehr substantiell, sondern funktional als zwei Formen der Willensartikulation, die er als Wesenswille und Kürwille bezeichnete.3 Angesagt aber wäre nicht länger eine substantialistische Sozialbändelung durch einen Sozialvertrag von Individuen oder ein verbindendes großes Ganzes, eine konstituierte oder eine konstituierende Gemeinschaft, sondern angesagt wäre eine Medialitätszentrierung, der Mitte und des Zwischen.4 Und diese Mitte, dieses Medium, dieses Zwischen ist kein bestimmtes Etwas, sondern der rein relationale Prozess des „Être-en-commun“, des Gemeinsam-Seins, eine Ontologie nicht der Dinge oder des Menschen, sondern des reinen existentialen Mitdaseins, wie Heidegger es beschrieben hat. Dieses Zwischen oder Mit gewinnt seine Kontur nicht als ein Seiendes, sondern rein relational, wie ja auch die Wörter „zwischen“ und „mit“ Präpositionen sind und keine „Ding“-Wörter.

     

    Die Liebe gehört zur Sphäre der Authentizität. Genau dadurch, als Extrem authentischer Intersubjektivität, ist Liebe ungeeignet, das Soziale zu begründen oder zu festigen;5 denn das Soziale braucht bekanntlich den Dritten, Liebe aber tendiert dazu, ihn so auszuschließen, als wäre er nicht da. Lässt Liebe den Dritten zu, ist es eben keine echte Liebe mehr. Anders gesagt: die Liebenden scheren aus, ihre Liebe bedroht das soziale Band, ja tendenziell ist Liebe amoralisch.6 Sie ist, wie Derrida sagt, das „Prinzip der absoluten Unordnung.“ Auch Niklas Luhmann betont, dass Liebe unverantwortlich sei.7 Im Diskurs der Systemtheorie gesprochen, ist der Geliebte die Totalität von Umwelt, die der Liebende benötigt. Liebe lässt sich daher weder moralisieren noch sozialisieren. Sie entzieht sich dem Kommunikationsmodus postmoderner Gesellschaften, der den Typ des Anschlusses vorsieht. Das bürgerliche Zeitalter hatte einen anderen Kommunikationstyp für Liebe vorgesehen, nämlich den liebend verstehenden Eingriff in die andere Seele, der sich letztlich auch dem kommunikativen Text entzieht und im tiefen Blick in die anderen Augen die andere Seele durchdringt – ohne Medialität, Liebe als reinste Unmittelbarkeit. Es ist klar, dass ein solches Unternehmen scheitern muss, und romantische Liebe ist vor allem unerfüllte Sehnsucht, unglückliche Liebe. Zum Auffangen dieses Scheiterns hält die Gesellschaft die Veralltäglichung bereit: die Ehe, mit Eltern, Schwiegereltern und Nachkommen sowie diversen Hilfseinrichtungen und –programmen im absichernden Hintergrund.

     

    Aber die verschiedentlich vorgetragene These, dass Liebe ein asoziales Gefühl sei, leidet erstens darunter, dass sie vielleicht gar kein privat gehabtes und dann geäußertes „Gefühl“ ist. In erotischen sozialen Prozessen zählt nicht die Wahrheit eines in den psychischen Tiefen zu vermutenden Gefühls, sondern die Wirksamkeit z.B. eines Kompliments. ‚Ich liebe dich‘ ist keine wahrheitsfähige Aussage über die Realität eines Gefühls, sondern ein performativer Akt, der in den Simulationsraum der Verführungen einlädt. Also selbst Gründungsworte wie „Ich liebe dich“ gründen in Wirklichkeit nichts, kein Etwas, dem außerhalb des kommunikativen Textes etwas von Dauer oder ein Ort entspräche. Im Ereignis des So-Redens spielt das Selbst seine Rolle, ohne dass an der Ernsthaftigkeit des Rollenspiels ein Zweifel aufkommen müsste. Aber weder gibt es hinter dem Selbst im Text einen Meinenden, der auf diese Weise seine existentielle, außertextuelle Wahrheit ausspräche, noch erzeugt dieser Text im Zwischen von Selbst und Anderem eine überdauernde Identität, eine Quasi-Person. Die These leidet zweitens unter der allzu geläufigen Ambiguität des Begriffs „sozial“, der einerseits das meinen kann, was konstitutives Merkmal ist. In diesem Sinne ist Liebe asozial, weil sie auf Intersubjektivität setzt, d.h. immer noch von einer Subjektzentrierung ausgeht; das Soziale aber gründet nicht in Intersubjektivität oder einer Verkettung von Intersubjektivitäten, weil Liebe den Dritten entweder gar nicht kennt, nicht berücksichtigen kann, oder ihn dezidiert aus der Liebesbeziehung ausschließt. Wenn man aber „sozial“ und „intersubjektiv“ begrifflich gar nicht zu trennen wüsste, dann kann man keinen angemessenen Zugang zu der Frage finden, ob Liebe sozial sei und sogar ein „Band“. Aber „sozial“ wird im Alltagssprachgebrauch und manchmal auch in den normativ verfahrenden Sozialphilosophien auch normativ verstanden, danach ist derjenige „sozial“, der gut zu seinen Mitmenschen ist; in dieser laxen Sprachverwendung wäre dann Liebe allerdings „sozial“, weil sie eine Form des Gutseins zu der/dem Geliebten ist.

     

    Kurze Zwischenbemerkung zum Begriff des kommunikativen Textes: Dieser Begriff versucht, die Mitte, das relationale Zwischen als Prozess zu konzeptualisieren. Daher ist er durch drei Dimensionen strukturiert zu denken: die Zeit als Garant der Prozessualität, das Soziale als Relationalität von Selbst, Anderem und Drittem in jeweils wechselnden Besetzungen und Umbesetzungen, und Sinn als der leere Topos, worum es jeweils epistemisch oder normativ geht.8

     

    Gehen wir jedoch medialitätszentriert von dem Zwischen-uns, dem kommunikativen Text aus, dann ergibt sich ein ganz anderer Blick auf Liebe, nämlich in der Form, die Olivia Mitscherlich-Schönherr in dem Blog „Liebe und Gemeinschaft“ als „Erotisches Philosophieren“ bezeichnet und was die Frühromantiker „Symphilosophieren“ genannt haben.9 Das ist in beiden Fällen keine (intersubjektive) Zweier-Beziehung, sondern als gemeinsames Philosophieren von der Mitte zwischen uns her und auf Einschluss hin angelegt. Wenn Olivia Mitscherlich-Schönherr am Ende ihres Beitrags den „Leser“ in das erotische Philosophieren einbeziehen (verwickeln, verführen) will, dann ist dieser „Leser“ kein in intersubjektiver Manier bestimmter Einzelner, und die Beziehung zu ihm schließt ein, nicht aus. Der „Leser“ bleibt im erotischen oder Symphilosophieren, wenn es gelingt, nicht Leser, als Teil-Haber wird er seinerseits in stetem Positionswechsel des kommunikativen Textes von Selbst und Anderem (sowie Drittem) zum Autor. Diese Liebe ist kein subjektives Gefühl (beantwortet vom Geliebten oder unglücklich liebend), sondern diese inklusive Erotik hat ihren Ort im Zwischen des kommunikativen Textes.

     

    Fazit: Es geht im Sozialen nicht um ein Band, das ver-bindet/verbändelt, und die subjektive Liebe ist schon gar nicht dazu geeignet, es zu stiften; sondern es geht um den Text, der sich zwischen uns entfaltet und uns bindet (einbindet) – im Sinne von Hölderlins „…seit ein Gespräch wir sind…“


     1 E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Hamburg 2000 (Gesammelte Werke VI); M. Heidegger: Sein und Zeit. Frankfurt a. M.1977 (Gesamtausg. II); H. Rombach: Substanz System Struktur: Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft. Freiburg 1965/66; K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie. Bielefeld 2012; J.-L. Nancy: singulär plural sein. Berlin 2004; Plurale Sozio-Ontologie und Staat, hrsg. v. K. Röttgers. Baden-Baden 2018.

    2 Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf, J. Fischer, G. Lindemann. München 2010, bes. p. 33-71: „Tranzendentaler Voyeurismus“.

    3 F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 3. Aufl. Darmstadt 1991.

    4 Medium.- In: Handbuch Kulturphilosophie, hrsg. v. R. Konersmann. Stuttgart, Weimar 2012, p. 347-355.

    5 I. Bachmann: Der Gute Gott von Manhattan.- In: dies.: Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays. München 1964, p. 1986-242.

    6 J. Derrida: Politik der Freundschaft, p. 346; cf auch J. Evola: Metaphysik des Sexus. Frankfurt a. M.. Berlin, Wien 1983.

    7 N. Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt a. M. 1982.

    8 Genauer und mit weiteren Differenzierungen K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Bielefeld 2012, sowie als Fortführung ders.: Kategorien der Sozialphilosophie II (work in progress), auffindbar über: http://www.fernuni-hagen.de/roettgers/aktuelles.shtml

    9 K. Röttgers: Symphilosophieren.- In: Philos. Jb. 88 (1981), p. 90-119; auch in ders.: Texte und Menschen. Würzburg 1983. p. 84-118, sowie immer noch das klassische Werk von A. Schlagdenhauffen: Frédéric Schlegel et son groupe. La doctrine de l’Athenaeum (1798-1800). Diss. Paris 1934.