In meinem Artikel „Kleidet Sich der Mensch?“, erschienen am 25.07.2018 auf dem Schweizer Portal für Philosophie, habe ich versucht der so gängigen Sichtweise auf das Kleiden als ein menschliches Benutzen von Kleidern entgegenzuwirken. Ich konzipierte hingegen das Kleiden als Mensch-Kleid Interaktion, in dem Mensch und Kleid gleichwertige Rollen zukommen. Beispielsweise ist es nicht allein der Mensch, der seinen Arm und damit stets zugleich den Ärmel seines Oberteils hebt, sondern es ist ebenso das Oberteil (als Kleid), welches dem Menschen, der sich gerade in ihm befindet, bestimmte Bewegungen gewährt und andere versagt.
Die Ebenbürtigkeit von Mensch und Kleid vertrete ich weiterhin, allerdings bin ich ins Zweifeln gelangt über die Frage, ob Mensch und Kleid tatsächlich zuerst unabhängig voneinander existieren um dann im Kleiden zu interagieren. Anders formuliert stelle ich mir die Frage, ob es wirklich „den Menschen“ und „das Kleid“ außerhalb des Kleidens gibt, und ob das Kleiden wirklich das Resultat der Mensch-Kleid Interaktion ist. Trifft es nicht eher die Realität die Reihenfolge umzukehren, und das Kleiden an den Anfang zu setzen, welches dann Mensch und Kleid prägt?
In meinen Recherchen bin ich auf die Neumaterialistin Karen Barad gestoßen, die explizit den heutigen philosophischen Trend negiert, alles und jeden als „Interaktion“ darzustellen. Die von Barad gebotene Alternative ist die sog. „Intra-Aktion“. Mag der Unterschied auch schwindend gering wirken, seine Folgen sind beachtlich. Beide Präfixe stammen aus dem Lateinischen, doch während inter- „dazwischen“ bedeutet, steht intra- für „innerhalb“. Das Kleiden als Interaktion befindet sich in einem Zwischenraum, der durch das Zusammenstoßen von Mensch und Kleid entsteht, während die Intra-Aktion sich in Mensch und Kleid manifestiert. Es sind also nicht Mensch und Kleid, die das Kleiden vollbringen, sondern es ist das Kleiden als Phänomen, in das sowohl Mensch als auch Kleid immer schon verflochten sind, und das seine Akteure auf bestimmte Weisen sein und handeln lässt. Das Kleiden macht Mensch und Kleid, nicht umgekehrt.
Das Kleid kann nicht außerhalb des Kleidens existieren, denn es wird erst durch das Kleiden zu dem, was es ist. Ist das Kleid noch nicht im Kleiden verflochten, ist es vielleicht erst ein Stück Stoff, ein Noch-Nicht-Kleid. Fällt das Kleid aus dem Kleiden heraus, wird es nicht mehr als solches wahrgenommen. Es ist nun kein Kleid mehr, sondern eine andere Art von Ding, ein Nicht-Mehr-Kleid, etwa ein Putzlappen. Dies zeigt auch, dass bspw. die von Ida Taavitsainen fotografierten und von uns gemeinsam im Artikel „Die Handlungsfähigkeit des Kleides“ (hier erschienen am 24.08.2018) diskutierten Kleider sich allesamt noch im Kleiden befinden. Und auch der heutige uns gängige Mensch befindet sich nie außerhalb des Kleidens. Er kann zwar aus dem Kleid treten, d.h. seine Kleider ablegen, sich ausziehen, doch kann er nicht aus dem Kleiden treten. Ist der Mensch fern vom Kleid, so wird dieser Zustand als ein Fehlen des Kleides wahrgenommen. Nacktheit wird bedauert oder freudig begrüßt — auf jeden Fall fällt sie als solche auf, und befindet sich daher weiterhin innerhalb des Kleidens.
So zeigt sich die Unmöglichkeit des Status des Nicht-Kleidens, was beweist, dass das, was landläufig als „der Mensch“ und „das Kleid“ wahrgenommen wird, eigentlich stets ein Mensch-im-Kleiden sowie ein Kleid-im-Kleiden ist. Das Kleiden ist also kein Resultat des Zusammentreffens von Mensch und Kleid, es ist keine Interaktion, sondern eine Intra-Aktion, durch die der Mensch zum Menschen und das Kleid zum Kleid wird. Ontologisch gibt es also weder Mensch noch Kleid, sondern allein das Kleiden.