Claudio Weiss, Lebensqualität schaffen - Wahre Werte wirksam machen - im eigenen Leben, in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft

Werte stellen die Weichen für Lebensqualität

Ein Interview von Sven Strunk (Chemiker, Management-Philosoph und mehrfacher Buchautor) mit Claudio Weiss (Philosophischer Psychologe, Leadership-Entwickler und Laufbahn-Berater).

    Sven Strunk (SSt): Claudio, warum beschäftigst Du Dich mit Werten?

    Claudio Weiss (CW): Weil wir Menschen wertende Wesen sind. Alles, was uns begegnet, bewerten wir, bewusst oder unbewusst.

    SSt: Gilt das nicht auch für Tiere?

    CW: Dem kann ich nur zustimmen, wenn ich etwa an unsere Cockerspaniel-Hündin Sophy denke. Sophy bewertet alles, was sie riecht, und zwar danach, ob sie es mag oder nicht.

    SSt: Was unterscheidet dann Sophys Werten von menschlichem Werten?

    CW:  Im Prinzip überhaupt nichts. Der Psychologe Jonathan Haidt hat schön herausgearbeitet, wie die frühesten Menschen auf alles, was stank oder widerlich aussah, mit Ekel reagierten. Das hat sie vor Krankheit geschützt und ihr Überleben gesichert. Umgekehrt war beispielsweise klares Quellwasser heilig, weil es auch heilsam war.

    SSt: Und was ist dann das spezifisch Menschliche, wie wir etwas werten?

    CW: Tiere werten in erster Linie danach, ob etwas ihrem Körper gut tut oder nicht. Sophy wertet eindeutig auch emotional, wenn sie etwa auf meine strenge oder freundliche Stimme reagiert. Menschliches Werten ist jedoch massiv kognitiv vermittelt. So schämen wir uns vielleicht für ein Lustgefühl, weil wir es als unanständig interpretieren. Das Beispiel zeigt, dass unsere kognitiv vorgenommenen Wertungen in hohem Masse von unserer Sozialisation und Kultur abhängig sind.

    SSt: Sind also unsere menschlichen Werte nichts als soziale Übereinkünfte?

    CW: In der Praxis trifft das wohl vielfach zu. Gerade damit hat sich ja der Philosoph Urs Sommer auseinandergesetzt. Er wehrt sich gegen eine "Werte-Ontologie", die Werten eine metaphysische, von lebendigen Menschen letztlich unabhängige Wirklichkeit zuspricht. Ich glaube aber nicht, dass Werte, wie Urs Sommer annimmt, lediglich "Lebewesen sind, die unserer lebendigen Phantasie entspringen".

    SSt: Sondern?

    CW: Man kann nachzeichnen, wie sich Werthaltungen aus individuellen und kollektiven Erfahrungen, aber auch aus Glaubenssystemen und Ideologien bilden und verfestigen. Schlimm wird es, wenn Glaubenssätze Werthaltungen produzieren, die schreckliches Leid verursachen. So berufen sich Terroristen, die Selbstmordanschläge verüben, genauso auf Werte wie Ärzte ohne Grenzen, die Menschenleben retten.

    SSt: Du spielst damit auf den Untertitel Ihres Buches an, in dem Du von "wahren" Werten sprichst. Gibt es denn auch "falsche" Werte?

    CW: Ob ein Wert sich als "wahr" oder "falsch" erweist, lässt sich nur empirisch, also rückblickend, feststellen. Hier gilt der biblische Satz über wahre und falsche Propheten: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen."

    SSt: Und was sind die Früchte von wahren Werten?

    CW: Das gelingende, glückliche Leben von möglichst vielen Menschen. Heute wird es gern auch behandelt unter dem Stichwort Lebensqualität. Deshalb habe ich für mein Buch den Titel Lebensqualität schaffen gewählt. Denn wahre Werte erhalten und steigern die Lebensqualität vieler Menschen, unsere Nachkommen eingeschlossen. Wahre Werte bezeugen zudem ihre Wahrheit durch Bewährung, nicht durch Beschwörung.

    SSt: Du machst also einen Unterschied zwischen verbal verkündeten und tatsächlich gelebten Werten. Woran erkennt man letztere?

    CW: Sag mir, wofür Du Dein Geld ausgibst, und ich sage Dir, was Deine Werte sind. Budgets, sei es von Haushalten, von Geschäftsleitungen, von Regierungen, sind unverzerrte Wertespiegel. Unsere Wahlhandlungen, wohin wir unsere Energie und Aufmerksamkeit stecken, womit wir unsere frei verfügbare Zeit verbringen, berichten ungeschönt von unseren tatsächlichen Werten. Sie teilen auch mit, wie wir unterschiedliche Werte gegeneinander gewichten, ob wir beispielsweise kurzfristige Gewinnmaximierung mehr wertschätzen als die Stiftung von Kundennutzen. Die Wahrheit eines Wertes besteht zudem oft nicht in seiner blossen Existenz, sondern in seiner angemessenen Gewichtung in Relation zu anderen Werten.

    SSt: Kannst Du dafür ein Beispiel nennen?

    CW:  Heimatliebe ist gewiss eine Tugend, die lokale Lebensqualität fördert. Wenn aber Heimatliebe wichtiger wird als ein friedliches Zusammenleben der Völker, dann wird diese Tugend überhöht. Mit unter Umständen verheerenden Folgen. In der Steinzeit, als unser Planet noch ganz dünn besiedelt war, bestand diese Gefahr noch nicht.

    SSt: Dein Beispiel macht deutlich, dass Werte abhängig von historischen Bedingungen und Entwicklungen sind. Gibt es aus Deiner Sicht universell und zu allen Zeiten gültige, gleichsam übergeordnete Werte?

    CW: Als philosophierender Beobachter des Lebens komme ich nicht umhin, abstrakte Lebensprinzipien zu identifizieren, die immer schon und überall zur Erhaltung von Leben und zur Steigerung von Lebensqualität beigetragen haben. Es ist wohl auch kein Zufall, dass solche Lebensprinzipien in allen Weisheitstraditionen und Gesundheitslehren der Menschheit auffindbar sind. Ihnen widme ich mich intensiv in meinem Buch. Ein Beispiel dafür ist das Prinzip des rechten Masses oder der Balance. Die alten Griechen sagten dazu mädén agàn, nichts im Übermass. Eine Rückbesinnung darauf ist vielleicht eine wirksame Wertemedizin gegen den derzeit weit verbreiteten Wertewahn vom sich unendlich beschleunigenden Wachstum.

    SSt: Gibt es für Dich so etwas wie einen Wert aller Werte?

    CW: Ja, es ist das Ur-Ja des Lebens zu sich selbst, ohne das es nämlich gar keine Lebendigkeit gäbe. Ist das nicht Liebe im weitesten Sinne? Hier treffe ich mich mit dem Grossen Ja des zeitgenössischen Philosophen Christoph Quarch, wie er es aus der Philosophie Platons herausgeschält hat.

    SSt: Du bist ja von Haus aus Psychologe und nicht Philosoph. Was ist Dein Verhältnis zur Philosophie?

    Ich war immer schon philosophierender Psychologe, bin ich doch von der Philosophie zur Psychologie gekommen. Gerade meine Untersuchung von Werten schlägt die Brücke von lebensphilosophischen Einsichten zu lebenspraktischen Problemlösungen. Genau darum geht es in meinem Buch.