Philosophische Aufarbeitung der Frage

Wo beginnt Gewalt?

Vor der Diskussion am 1. September in der Dampfzentrale im Rahmen der Gesprächsreihe "Philosophieren …" gehen wir der Frage "Wo beginnt Gewalt?" auf den Grund.

    Gedankenexperiment

    Eine gesichtslose Gestalt trat vor Lisa: „Du darfst nicht mehr blau tragen!“. Lisa fürchtete sich und tat wie ihr geheißen wurde. Wochen später: eine gesichtslose Gestalt trat vor Lisa: „Schneide deine Haare! “ Lisa fürchtete sich und tat wie ihr Geheißen wurde. Wochen später: Eine gesichtslose Gestalt trat vor Lisa: „Du darfst nicht mehr außer Haus gehen!“ Lisa fürchtete sich und tat wie ihr geheißen wurde. Wochen später: Eine gesichtslose Gestalt trat vor Lisa und trat sie zu Boden.

    (Quelle: SJC)


     

    Zur Frage "Wo beginnt Gewalt?"

    Bevor wir uns mit dem Problem der Gewalt befassen, müssen wir einige konzeptuelle Unterschiede vornehmen, um die Verwechslungsgefahr bei der Verwendung des philosophischen Vokabulars auszuschließen. Daher werden wir die drei Begriffe Kraft, Macht und Gewalt unterscheiden.

    Kraft ist eine physische oder moralische Fähigkeit, die von Hannah Arendt - einer deutschen Philosophin des 20. Jahrhunderts, die sich für den Begriff der Gewalt in der Politik interessierte - als "Energie, die bei physischen oder sozialen Bewegungen freigesetzt wird (i)" beschrieben wird. Kraft ist daher nicht gewalttätig an sich und nicht mit einem positiven oder negativen moralischen Wert verbunden. Wenn dieser Begriff oft mit Gewalt verwechselt wird, liegt das daran, dass die beiden eng miteinander verbunden sind. Tatsächlich können wir Gewalt als missbräuchliche Anwendung von Kraft definieren. Daher könnten wir von Gewalt sprechen, wenn die Kraft anormal oder unausgewogen erscheint, sei es in einer natürlichen oder sozialen Situation.

    Tatsächlich kann Gewalt verschiedene Formen annehmen und verschiedene Akteure umfassen. Wir sprechen von einem gewaltigen Wind, von der Gewalt eines Krieges aber auch von der Gewalt einer Geste. Ebenso kann Gewalt, wenn sie eine Handlung charakterisiert, verbal, physisch oder psychisch sein. Jean-Claude Poizat unterscheidet in seinem Essay Gewalt und Machtverlust(ii) jedoch zwischen natürlicher und menschlicher Gewalt.  Er erklärt, dass natürliche Gewalt nur ein Ereignis in der Umwelt ist, also die Aktion von biologischen oder physikalischen Kräften, die auf Naturgesetze reagieren.  Wird bei der Beschreibung von Naturereignissen der Gewaltbegriff verwendet, handelt es sich in Wirklichkeit um eine "metaphorische Umsetzung" dessen, was der Mensch wahrnimmt, wenn er selbst Opfer eines gewalttätigen Aktes wird: ein Gefühl von Bedrohung oder Schaden. Wenn also ein Tornado einen Baum entwurzelt, tut er diesem nicht wirklich Gewalt an. Der Zuschauer dieser Szene wird den Tornado jedoch als gewalttätig empfinden. Gewalt bezieht sich daher insbesondere auf die übermäßige Ausübung von Kraft von einem Individuum zum anderen, so dass das zweite Individuum in seiner körperlichen oder moralischen Unversehrtheit geschädigt wird oder sich verletzt fühlt. De facto scheint Gewalt in direktem Zusammenhang mit einer sozialen Beziehung zu stehen und hat daher eine moralische und politische Bedeutung. 

    Macht ist auch eine Ausübung von Kraft. Im Gegensatz zu Gewalt wird sie jedoch von Hannah Arendt als Zustimmung der verschiedenen Akteure zur Machtstellung definiert. Um Macht auszuüben sollten wir die Möglichkeit erhalten haben, sie im Namen der Personen auszuüben, die sie uns gewährt haben. De facto ist die Macht eines Politikers möglich, weil er oder sie gewählt wurde. Hannah Arendt argumentiert, dass Macht nur real ist, wenn sie kollektiv vereinbart wird. Macht ist daher kein individuelles Gut, da sie an die Anerkennung durch eine Gruppe von Individuen gebunden ist. Um eine klare Unterscheidung zwischen Gewalt und Macht zu treffen, fügt Arendt hinzu, dass Gewalt zwar "Macht zerstören kann, aber völlig unfähig ist, sie zu schaffen" (iii). Gewalt scheint daher eine direkte Manifestation von Machtversagen oder Machtüberschuss zu sein.

    Lassen Sie uns nun einen genaueren Blick auf den Begriff der Gewalt werfen. Dale Jacquette (1953-2016), Professor am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie der Universität Bern, erklärt, dass es allgemein anerkannt ist, dass ein Gewaltakt seinen Täter nicht als gewalttätige Person definiert, außer wenn die Person vorsätzlich gewalttätig ist (iv). Stellen Sie sich vor, wir leben (ohne es zu wissen) im selben Gebäude wie eine Bande von Banditen. Durch den Versuch, das Licht im Keller einzuschalten, drücken wir unwillkürlich einen Knopf, der die Zerstörung des benachbarten Gebäudes auslöst. Es wurden mehrere Opfer gezählt. Wenn wir uns der Existenz eines solchen Knopfes oder der Folgen unseres Handelns in keiner Weise bewusst waren, können wir dann fest sagen, dass wir einen Gewaltakt begangen haben? Es scheint ein bisschen extrem zu sein, eine solche Aussage zu machen. Wenn wir uns im Gegenteil der Folgen einer solchen Handlung bewusst gewesen wären, wäre es korrekt gewesen, von einer gewalttätigen Handlung zu sprechen - selbst wenn die Handlung des Knopfdrucks an sich nicht gewalttätig ist. Es war eine Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die die Zerstörung des Gebäudes verursachte. Um von Gewalt sprechen zu können, sind Bereitschaft und Absicht unerlässlich.

    Also können wir sagen, dass Gewalt nicht nur durch die Ausübung übermäßiger individueller Gewalt definiert wird, sondern auch durch vorsätzliches Handeln, bei dem sich der Täter der Folgen und Auswirkungen seines Handelns bewusst ist. Sie kann verschiedene Formen annehmen, die alle eine Verletzung des Gewaltopfers beinhalten.

    In dem uns vorliegenden Gedankenexperiment trifft Lisa auf eine gesichtslose Gestalt, die dennoch alle Gesichter von Gewalt zeigt. Wir können uns den vehementen Ton der Silhouette vorstellen, ihre übermäßige Kraft hören. Wir verstehen die Folgen der Anwendung der Befehle der Silhouette auf Lisa. Wenn Lisa zum Beispiel aufgrund der Silhouette nicht mehr hinausgehen soll, schränkt sie die Bewegungsfreiheit der Figur mit Worten ein und beeinflusst damit direkt ihre körperliche Unversehrtheit. Wir können Lisas Angst vor dieser bedrohlichen Kreatur spüren. Wir erkennen die Unverhältnismäßigkeit der Macht, welche die gesichtslose Gestalt über Lisa ausübt, selbst wenn sie nie ihre Zustimmung zur Machstellung gegeben hat. Vor dem letzten Auftauchen begeht die Silhouette keine Handlung, die "an sich" als gewalttätig bezeichnet werden kann. Erst bei der letzten Begegnung übertrifft die Gewalt die Bedrohung und die Silhouette übt bewusst eine Körperkraft aus, welche direkt die körperliche Integrität von Lisa verletzt. So werden die Worte performativ. Wo beginnt also die Gewalt?

     

     

     



    Bibliographie

    i ARENDT Hannah, Du mensonge à la violence. Essais de politique contemporaine., trad. de Guy Durand, Paris : Calmann-Lévy, 2014 p.145
    ii POIZAT Jean-Claude, « La violence ou la déréliction du pouvoir », in : Le philosophoire, n°30, 2008, p.43-48
    iii QUELQUEJEU Bernard, « La nature du pouvoir selon Hannah Arendt. Du ‘pouvoir-sur’ au ‘pouvoir-en-commun’ », in : Revue des sciences philosophiques et théologiques, tome 85, pp. 511-527
    iv JACQUETTE Dale, « Violence as Intentionally Inflicting Forceful Harm », in : Revue internationale de philosophie », n°265, 2013, pp. 293-322