1989 wurde das sog. Basler Übereinkommen getroffen, am 5. Mai 1992 trat es in Kraft. Dieses Übereinkommen, so erklärt der vollständige Titel, beschließt die „Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung“. In der Präambel lernen wir, das Abkommen sei verfasst „im Bewusstsein des Risikos einer durch gefährliche Abfälle […] und ihre grenzüberschreitende Verbringung verursachten Schädigung der menschlichen Gesundheit und der Umwelt“. Die Vereinbarung sei beschlossen „in dem festen Willen, durch strenge Kontrollen die menschliche Gesundheit und die Umwelt […] zu schützen“. Das sind schöne Worte. Es muss uns daher reichlich verwirren, wenn im Jahre 2015 zum Beispiel aus Agbogbloshie in Accra, Ghana, berichtet werden konnte, dass dort Menschen „Knäuel aus alten Kabeln ins Feuer [werfen], um das Plastik von den Kabeln abzuschmelzen und an das Kupfer zu gelangen, mit dem sich etwas Geld verdienen lässt. Die Flammen werden mit Schaumstücken aus alten Kühlschränken angeheizt, die Fluorchlorkohlenwasserstoff enthalten – dieses klimaschädliche Gas wird durch die Hitze freigesetzt und mischt sich mit anderen Chemikalien zu einem giftigen Cocktail, den die Bewohner des Stadtteils mit jedem Atemzug in sich aufnehmen.“ (Dannoritzer 2015, 86) Der Elektroschrott, wie den vielfach vorhandenen Inventaraufkleber zu entnehmen ist, stammt zu großen Teilen aus Europa, auch aus Deutschland oder der Schweiz, die beide das Basler Abkommen ratifiziert haben.
Wie aber können der krankmachende Alltag in Agbogbloshie und das gesundheitschützende Basler Abkommen gleichzeitig Wirklichkeit sein? Die traurige Antwort darauf muss etwas damit zu tun haben, dass der in der Konvention annoncierte „fest[e] Wille“ die Gesundheit und die Umwelt zu schützen sich recht eigentlich gar nicht auf die menschliche Gesundheit überhaupt oder auf die Umwelt überhaupt bezieht, sondern auf eine näherhin zu bestimmende Gesundheit und auf eine näherhin zu bestimmende Umwelt. Das Abkommen – müssen wir das nicht aus der Realität von Agbogbloshie schließen? – bezieht sich auf unsere Gesundheit und unsere Umwelt, und durchaus nicht auf die Gesundheit der ghanaischen (und aller anderen) Menschen und durchaus nicht auf den Schutz der ghanaischen (und der sonstigen) Umwelt. Gewiss, das alles ist ein Prozess und braucht seine Zeit. Aber es ist unbestreitbar, dass bis heute die Verantwortung für unseren Abfall nicht angemessen übernehmen. Unser Müll gelangt nicht aus Zufall bis nach Ghana, darin reflektiert sich ein systemisches Versagen von Politik und Gesellschaft.
Die westliche Welt hat sich sehr daran gewöhnt zu übersehen, dass ihre Lebensform nur dann Wirklichkeit bleiben kann, wenn eben diese Lebensform für die nicht-westliche Welt niemals Wirklichkeit werden kann. Wir können Rosa Luxemburgs Analyse des Kapitalismus ausweiten und feststellen, dass der westliche Wohlstand immer auf die gleichzeitige Existenz von extremer Armut angewiesen ist (Luxemburg 1913, 286). Wir haben uns an die vielen Vorteile westlichen Wohlstands gewöhnt, so sehr, dass wir es für eine unerhörte Einschränkung unserer Freiheit, ja unserer Natur halten, wenn zu bedenken gegeben wird, dass unsere Freiheit faktisch die Unfreiheit Anderer bedeutet. Diese Einsicht ist reichlich unbekömmlich. kaum jemand scheint der Brutalität dieser Einsicht ruhigen Gewissens zustimmen zu können. Und so haben sich eine Vielzahl von westlichen Legenden ausgebildet – vom Neoliberalismus bis zur Meritokratie –, die uns Ruhe verschaffen können: Wer es nicht zu unserer Form von Wohlstand gebracht hat, hat eben nicht das Zeug dazu gehabt. Wer es zu etwas bringen will in der Welt, der muss eben wie der Westen sein – man lese nur einmal die Empfehlungen im New European Consensus on Development von 2017 nach. Das ist freilich, genauer betrachtet, ein wenig hilfreicher Rat, denn der Westen lebt in Wohlstand, weil er unterdrückt hat und weiterhin unterdrückt und im Gleichen diese Unterdrückungspraxis vor sich selbst in einer Weise verschleiert, dass es den westlichen politischen Führern immer wieder gelingt, sich weiterhin als die moralische Hüter der Welt zu begreifen. Welch ein Irrsinn also diese unsere Praxis den von uns unterdrückten Anderen im globalen Süden anzuempfehlen. Unsere westliche Bigotterie ist beschämend. Die jüngsten Ereignisse geben erneut Anlass zur Scham.
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, in welchem Ausmaß wir bereit sind, unser Leben zu verändern, wenn es nicht mehr um Umwelt und Gesundheit des Anderen, sondern um unsere höchst eigene Gesundheit geht. Es ist schlichtweg verblüffend zu sehen, was alles möglich ist, wenn es um unsere Gesundheit geht. Man möchte das bitte nicht falsch verstehen: Es ist wundervoll, schlechthin wundervoll zu sehen, was alles getan werden kann, was alles getan wird, um unsere Menschenleben zu schützen. Es ist nur leider, auf einen zweiten Blick, bestürzend zu begreifen, wie vergleichsweise wenig getan worden ist und getan wird, um andere Menschenleben zu schützen.
Aber – und hier wollen wir von der Scham zur Chance übertreten – wir sollten, sind wir auch auf Umwegen zu dieser Erkenntnis gelangt (und die Pandemie kann einer dieser Umwege sein), alles tun, nicht wieder zu vergessen, was vielen von uns alles möglich ist. Viele von uns können auf so vieles verzichten! Viele von uns können weniger reisen, weniger konsumieren, weniger ausbeuten! Wir dürfen diese praktische Erkenntnis nicht wieder hergeben. Es ist bislang ein merkwürdiges Signum unserer Gegenwart gewesen, dass wir noch nicht verstanden haben, welch grandiose Gelegenheit zur moralischen Neubestimmung und Selbstbestimmung sie vielen von uns offeriert.
Wir betonen natürlich: Dies gilt – traurigerweise – nicht für jeden von uns. Der westliche Kapitalismus hat es nicht einmal vermocht (und wird es nie vermögen) der ganzen westlichen Welt zu Wohlstand zu verhelfen. Auch im Westen sind die Vergessenen, Verachteten, Verarmten geschaffen worden. Aber, hat auch nicht jeder von uns die Gelegenheit zur moralischen Revolution, so ist diese Gelegenheit doch vielen von uns gegeben und gewiss haben von diesen noch lange nicht alle ihre Chance ergriffen.
Noch einmal also: Hat es jemals eine solch herrliche Gelegenheit zur moralischen Revolution gegeben? Wir könnten den Verzicht, zu dem uns die COVID-19-Pandemie heute gezwungen hat, schon morgen als neue Freiheit verstehen: Wir haben die wundervolle Gelegenheit, uns neu zu bestimmen. Nicht als solche, die verzichten müssen, denen Urlaubsreise oder der Luxuseinkauf nicht gegönnt sind, sondern als solche, denen zunächst klargeworden ist, dass Verzicht möglich ist, denen sodann klargeworden ist, dass dieser Verzicht recht eigentlich gar kein Verzicht ist. Wir verzichten in der Corona-Quarantäne eben nicht, nein, wir halten einfach das Gut der Gesundheit für wertvoller. Wir verzichten nicht auf das eine Gut, wir wollen schlichtweg das andere Gut mehr. Wir sehen, dass wir um willen dieses Gutes die Logik des neoliberalen Kapitalismus boykottieren können. Wir können Corona diese Einsicht abtrotzen, dass es möglich ist, bestimmte Dinge nicht zu tun – wenn es um uns selbst geht. Vielleicht war uns diese Reichweite unserer Freiheit, der Freiheit sich dem westlichen Imperialismus zu verweigern, einfach nicht bewusst! COVID-19 kann uns, wenn wir es annehmen wollen, helfen, das zu verstehen! Und mehr noch, denn es gibt keinen Anlass, hier Halt zu machen. Jetzt, da wir gesehen haben, was wir für uns tun können und was die Politik für uns tun kann, sollte es kein Halten mehr geben, dasselbe auch für den nächsten Menschen zu fordern und zu verwirklichen, und dann für den ferneren und fernsten Menschen. Wir müssen Gerechtigkeit wollen und das heißt, eben auch Ungerechtigkeit emphatisch nicht zu wollen. Es ist doch kein Verzicht auf das neue Kleidungsstück oder die Reise, es ist ein Fanal unserer neubegriffenen freien Selbstbestimmung als solche, die Ungerechtigkeit nicht mehr wollen! Fangen wir an!
Referenzen
„Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung“, (Stand 1.Juni 2017), https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19890050/201706010000/0.814.05.pdf, abgerufen am 15.4.2020
Dannoritzer, Cosima: „Giftige Geschäfte mit alten Geräten“, in: Le Monde diplomatique, Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hgg.): „Atlas der Globalisierung. Weniger ist mehr“, Le Monde diplomatique, taz Verlags- und Vertriebs GmbH, Berlin, 2015, 86-89
Luxemburg, Rosa: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ (Gesammelte Werke, Band VI), Vereinigung Internationaler Verlags-Anstalten G.m.b.H., Berlin, 1923