Leserbrief: ‘Die Pandemie und ihre Paranoia: Intellektuelle in der Krise’

Tagesanzeiger Freitag 29.05.20, S. 20

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    Guido Kalberer beschwert sich bitterlich über das «Versagen der Philosophie» angesichts der Corona Krise. Obwohl sie doch «das Ganze im Blick haben sollte», hätte sie nichts Bedeutenderes zu sagen gehabt als die «Durchschnittsbürger». Kalberers vernichtendes Urteil bezieht sich ausschliesslich auf Stellungnahmen aus der Ecke der Postmoderne und der Kritischen Theorie. Seine diesbezügliche Enttäuschung kann man teilweise nachvollziehen. Die zeitgenössische Philosophie beschränkt sich aber nicht auf die von ihm aufgeführten üblichen Verdächtigen—männlich, betagt, ständig beschworen und von den Medien notorisch überschätzt. Zahlreiche im kritischen Denken geschulte Philosoph*Innen haben sich ausführlich zu Sars-Cov-2 geäussert, oft kontrovers, aber fast immer erhellend. Dabei werden ganz verschiedene Aspekte beleuchtet, von der Risikoanalyse über die Abwägung gesundheitlicher, grundrechtlicher und wirtschaftlicher Interessen bis zur Natur von Verschwörungstheorien und Fragen der Gender-Gerechtigkeit bei home office und home schooling. Gerade die von Kalberer vermissten, empirisch belegbaren Daten kommen ausführlich zur Sprache. Er hätte sich nur an das Philosophische Seminar der UZH wenden oder Blogs wie praefaktisch.de und die Covid 19 & Philosophy Bibliography konsultieren müssen. Stattdessen führt er salbungsvoll ein Zitat von Foucault an, dessen Botschaft nun wirklich auch von vielen Durchschnittsbürgern stammen könnte. Kalberers Auslassungen zur Philosophie rufen Georg Christoph Lichtenbergs berühmten Kommentar in Erinnerung: «Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen».