Zum Begriff des gemässigten Historizismus

In diesem Beitrag nehme ich die Gelegenheit wahr, meinen Begriff von Historizismus zu klären.  Ohne Geschichte ist alles nichts. Dieser Beitrag ist Prof. Wang Chengbing in China gewidmet.

    Drei Kreise

    Mein Ausgangspunkt bezüglich Kultur und Individuum ist eine Art Drei-Kreise-Modell im Stil des Aristoteles (Politik) und Hegels (Ästhetik). Ich wähle folgenden Wortlaut und meine das wie immer ganz undogmatisch. Kreis 0 wäre gewissermassen die ganze Welt:

    Kreis 1: Die Epoche oder der Zeitgeist in einem Teil der Welt (sagen wir im Westen).

    Kreis 2: Die Zeit, wie sie sich in einem bestimmten geographischen Raum manifestiert (sagen wir westliche Themen in Südeuropa).

    Kreis 3: Das Individuum und kleine Gruppen von Individuen, die unter dem Eindruck des Zeitgeistes stehen, wie sie ihn in ihrer Lebenswelt vielfältig und widersprüchlich erleben.

    Soweit zur ersten Annahme. Dabei lasse ich die Möglichkeit offen, Begriffe wie Zeit, Geist, Kultur in einem höheren metaphysischen Sinne, oder in einem pragmatischen Sinne zu deuten. Das macht für uns keinen Unterschied. Interpretationshorizonte überschneiden sich ungefähr so, wie semantische Felder überlappen. Alles bewegt sich in dieselbe Richtung, aber alles auf verschiedenen Wegen. Soweit die Idee. Meinerseits werde ich das skizzierte Kreismodell nicht diskutieren. Es ist gut genug, um als Anstoss zu dienen.

    Kritische Schulen im 20. Jahrhundert

    New Criticism und New Historicism als Reaktion darauf (siehe in der Britannica). Gemeinsam mit diesen Schulen in Literatur und Geschichte vertrete ich den Standpunkt, dass Kunstwerke, literarische Stücke und allgemein Texte einen intrinsischen Wert haben (oder nicht, wenn qualitativ ungenügend, Form oder Inhalt). Das heisst, es gibt eine Ebene der Interpretation, die eine gewisse Freiheit des Zugangs erlaubt, ohne dabei zu beanspruchen, definitiv zu sein. (1) So kann ich mir als Schweizer russische Klassiker aneignen, ohne die Biographie des Autors (sagen wir jene Gontscharows) oder die russische Geschichte des 19. Jahrhunderts (Bauern, Zaren, und geistesgeschichtliche Strömungen) zu Hilfe zu nehmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass historisches Wissen ein Ballast ist, den wir abwerfen müssen, um an Höhe zu gewinnen. Höhe erlangen wir nur mit einer Basis. Nun einige Sätze zum Relativierungsvorwurf (das veraltete Relativismusproblem).  

    Mein Ansatz liesse sich vom Problem des Relativismus her begründen, was ich nicht tue. Das Adjektiv "gemässigt" meint bei mir nicht "weniger relativistisch" oder so etwas. Andererseits ist es auch nicht nötig, Fortschritt als Dogma zu behandeln. Es ist ganz klar, dass Werte, Artefakte und soziale Institutionen zunächst relativer Art sind, nämlich relativ zur und abhängig von der sozialen Situation: Gesellschaft, Geschichte, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, geltende Religion(en), klimatische und biologische Bedingungen, ethnozentrische Vorurteile, interkultureller Austausch (oder nicht) und mehr. Es besteht kein Zweifel, dass es Entwicklungen gibt, die im Interesse einer grossen Mehrheit der Bevölkerung sind (sei es direkt oder indirekt) und insofern "Fortschritt" verbürgen. Was das alles nicht heissen soll, ist die Postulierung eines affirmativen oder negierenden Dogmatismus der Art: "alles ist Fortschritt" oder "nichts ist Fortschritt", allgemeiner "alles macht Sinn" oder "nichts macht Sinn" (entsprechend mit dem Relativismus). Das bedeutet, dass wir ruhig "relativistisch" denken und an die Möglichkeit von Fortschritt glauben dürfen (sagen wir im Sinne von Francis Bacon), oder auch die Sinnlosigkeit eines Geschehens erkennen können, ohne gleich in einen positiven oder negativen Dogmatismus zu verfallen und undifferenzierte Allaussagen zu machen. In diesem Sinne ist der Relativierungsverdacht beim älteren Historismus für uns hier und jetzt nicht mehr relevant. Der eigentliche Punkt bei der ganze Diskussion ist, ob wir differenziert denken wollen oder eher nicht. (Wir nehmen einmal an, dass es ein Problem des Wollens ist, und nicht so sehr eine Frage des Könnens.) Dazu gehört auch eine gewisse Beweglichkeit der Vorstellung und des Denkens.

    Es gibt in vielen Zusammenhängen prinzipiell zwei Standpunkte, nämlich jener "von innen" und jener "von aussen" (etwa in der Ethnologie). Diese beiden Perspektiven schliessen sich keineswegs aus. Wenn ich sage: "Im Zimmer ist es dunkel wie in der Nacht, aber draussen ist heller Tag", dann verwickle ich mich weder in Widersprüchlichkeit, noch in Relativismus, noch sage ich etwas Absurdes. Gleich diesem Beispiel ist es durchaus möglich und sogar geboten, einen "intra-epochalen" von einem "inter-epochalem" Zugang zu unterscheiden. Das eine verbietet das andere nicht. So ist etwa das kommunistische China eine Wirklichkeit in der jüngeren Geschichte und in der Gegenwart. China lässt sich bis zu einem gewissen Grad "absolut" als Aspekt der Geschichte der kommunistischen Partei Chinas interpretieren und verstehen. Dann gibt es aber auch den Übergang zu früheren Epochen (und zu anderen Teilen der Welt). Eine "inter-epochale" Betrachtung kann interessante Vergleichsmöglichkeiten bieten und ist vemutlich dazu geeignet, das heutige China besser zu verstehen, ganz egal, wie man zum Kommunismus steht. Damit sind wir noch lange keine "Relativisten", und wir rechtfertigen mit der Geschichte Chinas überhaupt nichts, es sei denn, wir beginnen tendenziös pro oder contra zu werten. Als Wissenschaftler suchen wir Abstand von subjektiven Gefühlen und vom Wertdenken und bemühen uns, zwischen einer Innen- und Aussenperspektive (komplex, vielschichtig, widersprüchlich) ein akzeptables Gesamtbild zu erkennen - eine repräsentatives Panorama, das dem wissenschaftlichen Diskurs dienlich ist, denn es geht uns um Wissenschaftlichkeit, Freiheit und Redlichkeit.

    Texttreue und das Vergessen der Wirklichkeit

    Textualität verbürgt keine unmittelbare Realität. Texte sind Medien einer Kultur, und zunächst durchaus Teile der materiellen Kultur. Solange eine Steininschrift nicht entziffert werden kann, ist sie materielle Kultur, nicht anders als die Ruinen von Persepolis. Textualität lässt über Generationen virtuelle Räume entstehen, die man mit Architektur- oder Theatergeschichte vergleichen könnte. Die Sprache politisch "fortschrittlicher" Architekten erinnert uns zuweilen daran, wie weit Sprache von spontanem Erleben sein kann. Ein nichtssagender Bau soll angeblich "durchsichtig", "funktional" und "demokratisch" sein, wo gewöhnlich Sterbende nur einen graues Gebäude für Büros sehen. Das einzig Frische ist der Grundstein im Boden. Wenn wir an philosophische Kategorien denken und dabei geschichtsvergessen und wirklichkeitsfremd einem extremen Textualismus fröhnen, kann es gut sein, dass wir uns in einer intellektuellen Welt bewegen, die keine Bedeutung für die Lebenswelt hat. Wie einseitige Textualität, partielles Wissen / Verstehen und theoretische Fehlschlüsse zusammenhängen, mag das Beispiel der Geschichte der westlichen Buddhismusforschung illustrieren: Textstellen vom Typ P verleiten Gelehrte dazu, eine Kategorie Q zu postulieren, die dann durch Textstellen des Typus Q belegt werden sollen, wobei die Interpretation besagter Textstellen möglicherweise tendenziös ist (auf einem theoretischen Dogma beruht). Die zunächst einleuchtende Gegenüberstellung von P und Q als Lehrsätze oder Kategorien wird dann zum obligaten Schema (zur geltenden Lehrmeinung), so dass die weitergehenden Argumentation von einer falschen oder zumindest sehr einseitigen Auslegung der Texte ausgeht, was vermutlich kein gutes Resultat zeitigen wird. (2) Nun ist so ein Basteln und Zurechtrücken bei einem umfassenden Satz überlieferter Texte und Kommentare sicher möglich, nur müssen wir uns immer klar sein, was im Unterschied zu einer konstruierten Wahrheit eine "organische" Theorie sein kann (nach Goethe und Bergson). Eine lebensfähige, entwicklungsfähige Theorie ist gleichsam ein "lebendiges Abbild" des Gegenstandes in der Welt (nicht primär in Büchern), etwas, das den Forschenden mit Liebe und mit einer intuitiven Gewissheit beflügelt und weiterforschen lässt, wobei gefundene oder vermutete Gedankenfiguren auch irgendwie "in der Welt" sind, nämlich in der Geschichte. (3) Das klingt alles ein wenig biegsam und wenig solide, also gar nicht meine Art zu denken und zu sprechen. Allerdings haben es Goethe und seine Epigonen so nicht gemeint. Ich meine es eher in einem persönlichen, mystischen Sinn, im Gegensatz zu einem äusserlichen Bezug, wo es nur um Geld, Ehre und lautes Sprechen geht. Zugegeben, nicht alles was glänzt, ist Gold, und nicht alles was quietscht ist eine Maschine. Es kann gut sein, dass ein Puzzle nach uneigennütziger, redlicher Forschung ein stimmiges Bild ergibt. Denn es gibt auch noch die andere Seite der Medaille. Wer gerne behauptet (also nicht aufzeigt), alles sei nur "zufällig" richtig, und gute Textstücke liessen sich halt "glücklich einrichten", und in Wirklichkeit sei alles anders, ist uns definitiv eine Definition von "glücklicher Zufall" schuldig. Auch deswegen, weil Sätze der Art "Die Sonne scheint nicht, weil es Wolken gibt" empirisch falsch sind. Die Sonne scheint eben doch, aber nicht direkt in unser Gesicht, dort, wo wir gerade stehen. Denn die Wolken über uns sind nicht "zufällig" sichtbar. Dafür gibt es einen guten Grund. Das Spiel mit dem Zufall ist auf Dauer schwierig aufrecht zu erhalten.

    Erstes Beispiel (mit Texten): Nehmen wir einmal an, eine kleine Gruppe von Forschern hege die Vermutung, dass Ananda und Johannes auf irgendeine Weise zusammenhängen (die Lieblingsjünger von Buddha und Jesus). Das versuchen sie irgendwie etymologisch oder textanalytisch herzuleiten und zu begründen. Wenn wir Vergleiche ziehen, dann arbeiten wir mit Analogiebildungen. Analogien sind proportional angemessene Vergleiche, also keine symbolischen Vergleiche, wie etwa "der Schlaf ist ein kleiner Tod" (oder umgekehrt), oder die römische Weisheit "Liebe ist ein Krankheit" (Ovid). Diese Hyberbolen sind keine klassischen Analogien. (Am besten verstehen wir solche Beispiele als "symbolische Vergleiche".) Eine perfekte Analogie ist jene des Pythagoras (Staub und Atome) und jene von Galileo Galilei (Jupitermonde und Planeten, wie unsere Erde). Bei analogen (proportional vergleichbaren) Textstellen genügt indessen nicht die Verwandschaft des Ausgedrückten oder der Mittel des Ausdrucks. Es bedarf noch eines Konnektors, also eines Dritten, das der Analogie eine gewisse Kompaktheit und Glaubwürdigkeit verleiht. In unserem Beispiel könnten das andere Textfragmente sein, die zeitlich und örtlich "nicht zu weit entfernt" von den Textstellen sind, die uns zur Annahme bezüglich Ananda und Johannes geführt haben (mein Beispiel, wie gesagt). Aber eben, "Zufall" dispensiert uns nicht von einer Erklärung. "Zufall" kann zu einer Enthaltung in Bezug auf die eine oder andere Lehrmeinung führen, aber kann keinesfalls als Ersatz für eine rationale Erklärung gelten.

    Zweites Beispiel (ohne Texte): Selbst wenn wir die Inhalte von Platons esoterischen Lehren nicht eruieren können, so lässt sich dennoch abschätzen, was dort und damals unter den bekannten Voraussetzungen denkbar und annehmbar ist: vielleicht eine universale Harmonielehre, oder eine Theosophie, die Teile des kommenden Spätplatonismus "zufällig" antizipiert oder damit verglichen werden könnte. Oder etwas, was man bereits "gnostisch" nennen könnte. Eine politische Revolutionstheorie scheint dagegen extrem unwahrscheinlich zu sein, oder eine rassistische Anthropologie zur Rechtfertigung der Sklavenarbeit, oder sonst etwas Unsägliches und Unerträgliches. Eine vergleichbare Situation präsentiert sich uns mit den Lehren und Praktiken im Druidentum der kontinentalen Kelten, wenn wir als Schweizer zunächst diesen Standpunkt einnehmen. Es gibt also so etwas wie starke und schwache Vermutungen, interessante und uninteressante Hypothesen, auch wenn Intuition und das Gefühl für Zahlen, Funde, Texte und "organische" Relationen immer eine private Sache bleiben wird. Die Energie und Motivation der Forschenden spielt eben doch eine Rolle, und sei es nur der Redlichkeit wegen. 

    Die allgemeinen Fälle

    Gegeben seien die Texte / Fragmente A und B, mit C als vermuteter Quelle oder Urtext (es können auch mehrere sein). In einfacher Fromulierung sind prinzipiell folgende Textbezüge möglich:

    A ist ein positiver / negativer Bezug auf B.

    B ist ein positiver / negativer Bezug auf A.

    A und B gehen auf C zurück, egal wie die Autoren C bewerten.

    A oder B geht auf C zurück. (B oder A) ist nicht direkt aus dem Urtext entstanden, sondern indirekt über (A oder B).

    Wenn A das Vorbild B literarisch in Ton und Inhalt imitiert, dann sprechen wir auch von positivem Bezug. (4) Nun zum angenommen Urtext: entweder gibt es einen lebensweltlichen Bezug eines historischen Autors, oder der besagte Autor arbeitet ausschliesslich mit Quellenmaterial (reine Textualität). Das ist da eine. Das andere ist, wenn früh Fiktion entsteht und mit der Zeit als Tatsache angesehen wird, so dass Sindbad der Seefahrer uminterpretiert wird und plötzlich in Geschichtsbüchern landet (siehe auch das Gedankenexpirment weiter unten). Weiter gibt es glaubwürdige Texte, die sich jedoch nicht ganz als faktisch erweisen lassen, weil Zweifel bestehen und Vergleichsmöglichkeiten fehlen, sagen wir das Alexanderbuch von L. F. Arrianus. Der Clou dieser Aufstellung ist, dass Textbezüge nur historisch richtig nachvollzogen werden können. Das ist der Kernpunkt meines "gemässigten Historizismus", wobei ich gleich hinzufügen muss, dass es durchaus nicht ausgemacht ist, was denn in einem gegebenen Fall "adäquate historische Betrachtung" sein soll. Deshalb liegt praktisch eine zweite Spur vor, die wir zusammen mit der ersten Spur klären und "sauber halten" sollten: der Text mit seinem Inhalt (soweit wir ihn vestehen) einerseits, parallel dazu der historische Rahmen, der nicht nur aus Fakten besteht, sondern auch aus Methoden, Theorien und Tendenzen, die immer wieder hinterfragt werden sollten, solange wir den Anspruch haben, Wissenschaft zu betreiben (gegen Dogmatismen). Analogien sind als Illustrationen und Einstiegsmöglichkeiten hilfreich, und so stelle ich an dieser Stelle eine Analogie zur Biologie auf, die mir nahe liegend scheint und allgemein verständlich ist:

    Text + Geschichte + Transmissionswege verhalten sich in etwa so wie Gene + Evolution + biochemische Steuermechanismen. Würden wir einfach nur Gene und die Genetik herauspicken und als Disziplin künstlich isolieren (verabsolutieren), würden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit zu falschen Schlüssen kommen (etwa zu einem absoluten "genetischen Atomismus" analog zum Individualismus in der Psychologie und in den Geisteswissenschaften). Transmissionswege sind eminent wichtig. Einerseits, weil eine Transmission gelingen oder nicht gelingen kann (verlorene Schriften, stark veränderte Abschriften, ferner Missbrauch). Andererseits, weil die Rezeption und Transmission in einem religiös-ideologischen Umfeld (so auch heute) das Resultat eines zeitgebundenen Steuermechanismus sind: die Auf- oder Abwertung eines Textes / eines Autors, bis hin zu Zensur und Verbot.

    Gedankenexperiment nach einem historischen Vorbild

    Angenommen ein postapokalyptischer Kopist stösst auf eine schlechte Übersetzung einer Fussnote, die Marx attribuiert wird. Nehmen wir an, die verloren gegangene Fussnote wollte etwas Harmloses von der Art besagen: "Die Zahl 7 hat deshalb einen hohen Symbolwert, weil die Woche 7 Tage hat." Der Anlass zu dieser Fussnote ist für immer verloren. Nun hat unser Kopist im Untergrund leider eine schlechte Übersetzung erwischt, mjzugleich träumt er von einem künftigen irdischen Paradies als Kompensationen für die trostlose Wirklichkeit, in der er sich befindet. Man mag sich das ungefähr so zurechtlegen. Am Ende sieht bei unserem Kopisten Marx' Fussnote so aus: "Die Zahl 7 bedeutet so viel wie Abchluss oder Neuanfang." Dazu fügt der Kopist im Stil mittelalterlicher Kommentatoren folgende Glosse hinzu: "Es scheint mir klar zu sein, was der Autor damit sagen wollte. Der Autor wollte damit andeuten, dass nach 7 Generation die grosse Revolution kommt." Wie sich heraustellen wird, bildet diese tendenziöse Meinung die Grundlage einer sozialen Bewegung, die sich einen grossartigen Namen gibt (es fällt mir jetzt gerade keine passende Benennung ein). Diese revolutionäre Bewegung gewinnt an Moment und wird in der nahen Zukunft zu einer von zwei führenden politischen Parteien. So weit so gut. All das kann man sich lebhaft vorstellen. Was soll dieses Beispiel uns vorführen?

    1. Zum einen haben wir die problematische Textbasis, die wirkungsstark wird, weil der Autor und dessen Kommentator (unser isolierter Kopist) von Wissenschaft und öffentlicher Meinung als "gut und wichtig" gewertet werden. Eine negative Wertung wäre freilich auch denkbar, aber wir bleiben jetzt bei unserem Beispiel mit der linksintellektuellen Tendenz.
    2. Die Textbasis ist Teil oder Grundlage einer mündlichen und schriftlichen Überlieferung, die mit einer Werthaltung verbunden ist, diese begründet oder verstärkt.
    3. Besagter Text und damit verbundenenes Wertdenken führen zu einer historischen Entwicklung, die über die Textbasis hinaus eine objektive Wirklichkeit begründen (Politik, Geschichte, Kultur).
    4. Der Irrtum in der Überlieferung und die gesellschaftlichen Wirkungen davon (direkt oder indirekt, es ist nie einfach) sind keine Zeichen von "Manipulation" und "Unterdrückung", selbst dann nicht, wenn der Kopist in seine Followers eine politische Tendenz zeigen. Die adäquate Einschätzung der gesamten Entwicklung wäre "Freiheit und Risiko", nicht "Macht und Unterdrückung" (und letztendliche Befreiung durch eine Elite).

    Vier Punkte, die deutlich machen, dass wir die Historie benötigen, um Texte richtig einzuordnen (der Vektor von Ursprung zu Wirkung). Zugegeben, das klingt trivial, und es ist auch nur die halbe Wahrheit. Denn falsche Gründe sind so gut wie korrekte Vorannamen, wenn es darum geht, künftiges Denken und Verhalten zu formen und mitzubestimmen. Praktisch bedeutet das, dass wir uns in der Analyse "entpersonalisieren" und uns aller tendenziösen Wertungen enthalten sollten, selbst dann, wenn wir uns tief und intensiv nach einer Zentralregierung und einem irdischen Paradies sehnen. Religiöse Gefühle dürfen nicht die Sicht auf Ursache und Wirkung vernebeln - und wenn sie es tun, dann soll das ein eigener Forschungsgegenstand werden. Persönliche Meinungen, Sehnsüchte und Wünsche sollen durchaus einen Platz haben. Es geht nicht darum, die freie Rede, die grosse Sehnsucht und das imaginative Denken zu verbieten. Nur muss sreng darauf geachtet werden, dass persönliche Standpunkte in den Medien, im Unterricht und in Schriften aller Art als solche signalisiert werden. Es geht nur darum, mehr ist nicht notwendig.

    Mein dystopisches Beispiel wurde von einem historischen Fall inspiriert, bei dem - vermutlich nicht ganz unabsichtlich - eine Stelle in einem apokryphen Evangelium falsch zitiert wurde (Thomas, eines der gnostischen Evangelien). Falsches oder tendenziöses Zitieren und Kommentieren kann man zu einem gegebenen Zeitpunkt vielleicht nicht mehr einwandfrei herausstellen, muss aber dennoch als Eventualität offen bleiben. Texte trügen auch. (5)

    Die zwei Whiskeys und die Höllenglut

    Mit einer gesunden Portion Ironie (und wieder im Andenken an meinen verehrten Doktorvater Herr Prof. Andreas Graeser) möchte ich das Gesagte mit etwas Eis auf den Punkt bringen: es gibt einen Whiskey mit Gesundheitsrisiko und einen ohne. Der Whiskey ohne Gesundheitsrisiko ist der unmittelbare Eindruck: Farbe, Geschmack, das Glas in der Hand, die Stimmung im Raum, der Wunsch nach mehr ... mehr von allem. Dieses "absolute" Getränk ist das, was wir im Geschäft kaufen oder an der Bar geniessen. Im Sinne des New Criticism kann es aus sich und seinen Wirkungen selbst verstanden werden. Richtig, aber nicht ganz. Denn es gibt noch das Milieu und die anonyme soziale Umwelt, also die nationale Gemeinschaft, die wegen gesetzlich verordneter Solidarität für ein krankes Individuum aufkommen muss. Nun, nicht alles ist negativ, wenn es um starke Getränke geht. Da gibt es auch noch die Geschichte der Destillation (wie das Wort "Alkohol" selbst aus der muslimischen Welt, auch eine Ironie), die Tradition der Herstellung und die Wirtschaftsgeschichte in Bezug auf alkoholhaltige Getränke. Hier wäre das Recht des New Historicism mit dem Unterschied, dass ich mit meinem "gemässigten Historismus" weniger philologisch und textzentrisch vorgehen möchte, was aber von Ferne keinen grossen Unterschied macht. Als aktiver keltophiler Schweizer muss ich natürlich auch noch erwähnen, dass die Etymologie des Wortes "Whiskey" so viel wie "Lebenswasser" bedeutet (in q-keltischen Sprachen), was ja auch in der französischen Sprache in diesem Sinne für starken Alkohol verwendet wird (Fruchtschnaps).

    Versuchen wir, nachdem die Eiswürfel im Whiskeyglas geschmolzen sind, anhand des neoklassichen Gemäldes von John Martin (englische Romantik, ein Zeitgenosse Turners) eine praktische Anwendung vorzuführen. Es seien zunächst mögliche psychologische Assoziationen erwähnt, um die es hier eigentlich nicht geht: Traum, Bilder aus der Mythologie, Symbolik von Feuer und roter Farbe, erinnerte Szenen aus der Lektüre (Bibel, Geschichte, Literatur, hier John Milton und sein Epos), passende Musik aus dem 19. Jahrhundert, bei furchtsamen, abergläubischen Menschen kommen noch Ängste und negative Gefühle hinzu, vielleicht auch Ekel und Abneigung, und wohl noch anderes. Was ästhetisch zuerst ins Auge fällt, ist die bedrohliche Atmosphäre mit dem Kontrast Glut / Nacht, hell / dunkel, auch heiss / kalt. Dann wird man mit dem Auge wohl der Fassade des monumentalen Baus folgen (der in London stehen könnte und vermutlich ein Vorbild hat). Zuletzt bildet der Betrachter kognitive Assoziationen: Gebäude und Glut / Feuer (Ort, weshalb, Feuer anstatt Wasser, architektonisch möglich oder nicht), das Gebäude und die königliche Figur mit emporgehobenen Armen, das Wissen um Miltons Satan im "Verlorenen Paradies" und die Akzeptanz oder Verwunderung, dass hier Satan wie ein junger römischer Aristokrat auftritt, sagen wir, wie Kaiser Nero in seinen besten Jahren. Man kommt auch ohne Milton gelesen zu haben zum Schluss, dass da ein Gebäude in der Dunkelheit errichtet wurde, das irgendwie "im Interesse" des Protagonisten sein muss: der Palast oder das Parlament Satans, ganz im englischen Stil. Bei der letztere Art von Assoziation bewegen wir uns bereits jenseits von Kreis 3, denn wir berühren Themen der Literatur, der Architektur, der Mythologie, der Religion, die Frage nach dem Bösen, wie sie im Abendland gestellt und beantwortet wird (was historisch 1900 Jahre zurück und danach gut nachvollziehbar ist), indirekt auch die Frage nach Strafe, Gerechtigkeit und dem Plan Gottes. Ob ich nun bewusst solche kulturellen Punkte aufgreife oder nicht, ich bewege mich immer in ihrer Nähe. (Mein Intellekt erfindet nichts neu.) Das kulturelle Erbe lässt sich nicht verleugnen, auch wenn man sich "mit aktivem Desinteresse" bemüht, es zu ignorieren (aus Eitelkeit oder linker / aufklärerischer Besserwisserei). Mein persönliches Bewusstsein - mein Glaube, mein Wissen, mein Potenzial zu lernen und zu wachsen - spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Ich bin als Individuum in der Masse der heutigen und der vergangenen Generationen lediglich ein "Vehikel des Geistes" (frei nach Hegel), oder ein individueller Träger der Kultur, mit allen Höhen und Abgründen, die jene in sich bergen mag. Ich bin weder schuldig, noch in einem positiven Sinn verantwortlich für das kollektive Gut namens "abendländische Kultur" oder "westlicher Geist". Ich bin sozusagen ein Opfer der Geschichte - nicht unbedingt ein Blutopfer oder ein Mensch befallen von Dämonen (Störungen in Körper und Seele), aber dennoch, seit der frühen Kindheit ein Empfänger und zunächst einmal passiv und völlig "ausgeliefert". Es wird eine Lebensaufgabe sein, Aspekte der sozialen und kulturellen Umwelt zu erkennen, zu bewerten und entsprechend zu selektieren, so dass aus Wissensstücken, Gefühlsepisoden und den Fetzen der Vergangenheit eine neue Person entsteht, nämlich das Selbst, das sich in seiner unvermeidlichen Beschränktheit selbst schafft - oder darin versagt und psychisch untergeht. Damit komme ich wieder zu einem meiner bekannten antiken Themen, nämlich Demut und Nachsichtigkeit, als Gegenteil  von Hybris und Anklage (wie im Beitrag zur Metaphysik vom 27. März angeklungen). Hybris und Anklage - wenn ich das so spontan hinschreibe, entsteht bei mir unweigerlich die Assoziation mit dem unglücklichen Satan und dem Mythos des Bösen: eine Geschichte von Macht, Eifersucht, verletztem Stolz und Rache an der Welt. Menschlich, historisch, tragisch, unausweichlich.

    Verstehen oder nicht verstehen

    Meine Auffassung von Historizismus kann als Synthese von Geschichte und Text verstanden werden. Die Geschichtsvergessenheit ist eine der grossen akademischen Fehlleistugen seit dem Zweiten Weltkrieg. Es würde sich ausnahmsweise lohnen, als Arbeitshypothese eine Art "Verschwörungstheorie" aufzustellen, die besagt, dass die Verbannung des historischen Bewusstseins unter anderem auch damit zu tun hatte, dass man Deutschland die alleinige Kriegsschuld für zwei Weltkriege geben wollte. Das war vielleicht der Anfang der Geschichtsvergessenheit im 20. Jahrhundert. Abgesehen von der deutschen Diktatur und deren Verbrechen fällt die Frage der Kriegsschuld nicht eindeutig aus (es gab auch andere Nationen, die expandieren wollten). Ich lasse diesen Gedanken einmal so im Raum stehen. 

    "Geschichtslosigkeit" ist praktisch ein Synonym von "Unwissenschaftlichkeit", wenn es um historische und kulturelle Dinge geht, also Kunst, Philosophie, Literatur, Staatskunde, alle anderen Aspekte der Gesellschaft wie Sitte, Recht usw. Es ist einfach nicht möglich, etwas gleichzeitig "zu verstehen" und "nicht zu verstehen" und auf neue (modische) Art umzuinterpretieren, weil man "nicht wirklich" an Ursprung und Wirkung interessiert ist. Bessere Geschichtsstudenten betreiben ihr Studium nicht, weil sie ein Diplom haben wollen, sondern weil sie intuitiv verstehen, dass die Vergangenheit der Schlüssel ist zu allem, was darauf folgt. Sie haben ein Gefühl für das Angemessene und ein Bewusstsein von Alternativen.

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    (1) Das beinhaltet auch eine psychologische Komponente, durch welche ein Text oder ein Werk persönlich eingefärbt wird und so eine intensive private Bedeutung bekommt, die nicht direkt vermittelbar ist (analog zum Glauben).

    (2) Siehe Mahayana (Buddhism) in der www.britannica.com (zum Historismus auch Leopold von Ranke).

    (3) Was ich innerlich nachvollziehen kann, ist irgendwie in meiner Seele angelegt, was Platon auch wusste, nur sehe ich den Grund dafür in unserer eigenen Geschichtlichkeit.

    (4) Es gibt ferner noch die zwei relativ uninteressanten Fälle mit und ohne Bezug: Etwas scheint positiv zu sein, ist aber negativ (kein Bezug). Umgekehrt scheint etwas negativ zu sein, ist aber tatsächlich positiv (es besteht ein Bezug).

    (5) Das verlorene Evangelium des Gnostikers Marcionus finde ich auch sehr interessant (Kontext Lukas, Paulus, Marcionus). Mein Hauptinteresse an der Universität war die Antike, deshalb interessiere ich mich auch für Mythologie, Keltologie und Religionsgeschichte.