„Social Distancing“

Bedingungen von Freiheit und Verantwortung in Zeiten der Pandemie

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    Dieser Beitrag ist zuerst auf dem Blog der Universität Oldenburg erschienen. Das Original finden Sie hier.

     

    Ein paradigmatisches Schlüsselwort der gegenwärtigen Pandemiebekämpfung ist der biopolitische terminus technicus des „social distancing“. Damit wird Distanz als eine Strategie angeführt, die das soziale „Bezugsgewebe“ (Hannah Arendt) infektionsreduzierend neugestalten soll. Wie ist aber der Begriff der Distanz zu verstehen und was sind die Konsequenzen dieser Neugestaltung?

    Distanz ist eine beliebte und vielfältig verwendete Metapher. Während der Begriff ursprünglich den Abstand zwischen zwei Punkten bezeichnet, wird er heute vielfach für Abstandsverhältnisse verwandt, bei denen zugleich aber ein Bezug zwischen zwei räumlich getrennten Entitäten besteht. Dabei wird zumeist das Auf-Abstand-Gebrachte erst in Gänze deutlich, erkenn- und verstehbar. Für Hans Blumenberg ist der Distanzbegriff gar so bedeutsam für die menschliche Kulturbildung, dass er seine (phänomenologische) Anthropologie ganz auf die Distanzmetapher aufbauen kann. Er erklärt die kognitiven und kulturellen Leistungen des „Distanzwesens“ Mensch aus dessen Aufrichtung in der Steppe, aus der damit wachsenden Visibilität im doppelten Sinne des Weiter-Sehen-Könnens, wie auch des Gesehen-Werdens. Zudem sind Menschen „exzentrisch positioniert“ (Helmuth Plessner), sie wissen darum, gesehen zu werden und müssen dieses Bild, das andere von ihnen haben, in ihr Selbstbild integrieren. So leitet der Distanzbegriff über zum politischen Zusammenhang unseres Fremd- wie Selbstverhältnisses. Wir verstehen uns selbst „mit anderen Augen“. Dies ermöglicht uns, Erfahrungen über Distanzen zu sammeln und Gesehenes weiter zu vermitteln. Dafür brauchen wir die Distanz geschützter Räume. „Die Kinder der Höhle“, so Blumenberg, „die niemals das Recht der Stärkeren und das der jagenden Ernährer für sich geltend machen konnten, erfanden den Mechanismus der Kompensation. Sie sicherten nicht das Leben, aber lernten ihm alles zu geben, was es lebenswert machen würde.“

    Distanz ist somit nicht nur räumliche Abstandnahme, sondern vielmehr der Modus, in dem wir kognitive Beziehungen zu unseren Gegen-ständen herstellen. Wir erspüren die Welt nicht nur, wir sehen sie, wir bilden uns Begriffe, schaffen Symbole und tauschen uns über sie aus. Dafür bedürfen wir der Distanz, aus der wir erkennen können, was wir nicht mehr verstehen würden, wenn es uns zu nahekäme. Distanz und Verstehen gehören zusammen, weil uns erst die Distanz den Gegen-stand oder das Gegenüber-stehende als von uns getrenntes verstehen lässt. Damit wird der Akt der Trennung – die Distanznahme – zur Voraussetzung möglicher Bezugnahmen. Wohnen dem ethische Implikationen inne?

    Wenn wir der anerkennungstheoretischen Prämisse folgen, dass es der Unterschied ist, der es uns erlaubt, einander als freie und gleiche, jedoch immer auch als voneinander getrennte Individuen gegenüber zu treten, so ist Distanz die Voraussetzung dafür, dass wir selbständig und doch mit den Anderen als Anderen zusammen sein können; dass wir Individuen sein können und nicht nur Teil einer wie auch immer definierten Gruppe sind. Dies erlaubt uns aber zugleich auch, einen „Gemeinsinn“ auszubilden, der uns Urteile erlaubt, die nicht nur affektive Reaktionen sind, sondern die wir auf Basis eines Denkens entwickeln, das explizit andere Perspektiven als unsere eigenen miteinbezieht und abwägt. „Nur weil ich mit Anderen sprechen kann“, schreibt Hannah Arendt, „kann ich auch mit mir sprechen, d. h. denken.“ Dies können wir nur, wenn wir uns zugleich voneinander unterscheiden und als Unterschiedene anerkennen. Nur auf dieser Basis können wir solidarisch miteinander sein, dies verlangt uns aber auch Verantwortung ab – nicht nur die Verantwortung, für unser eigenes Tun und Lassen einzustehen, sondern auch die Verantwortung, die Grundlagen einer geteilten Welt, in der wir uns wechselseitig Eigenständigkeit zugestehen können, Sorge zu tragen. Aufgrund der Distanz, die wir zueinander herstellen, um einander als eigenständige Individuen zu begegnen können und müssen wir Verantwortung füreinander übernehmen. In den Worten von Emmanuel Lévinas: „Je mehr ich antworte, desto verantwortlicher bin ich; je mehr ich mich dem Nächsten nähere, für den ich zu sorgen habe, desto weiter finde ich mich entfernt.“

    Diese, optimistischen, Interpretationen setzen auf die (kultur-)anthropologische Notwendigkeit der Distanz und hoffen, sie zugleich in der Freiwilligkeit bürgerlichen Selbstverständnisses zu verankern. Wie so oft gibt es aber bei Metaphern, die ein grundlegendes, menschliches Weltverhältnis bezeichnen sollen, quasi anthropologische Aussagen treffen, eine optimistische und eine pessimistische Verwendung. Was geschieht also, wenn Distanz nicht freiwillig eingehalten, sondern erzwungen wird? In ihren Beobachtungen zu den Funktionsweisen totalitärer Herrschaft hat Hannah Arendt es als ein entscheidendes Charakteristikum beschrieben, dass diese sich nicht explizit dadurch auszeichnen, dass sie Freiheit negieren würden, (denn das tun Tyranneien auch), sondern dadurch, dass sie zu einer verbreiteten „Verlassenheit“ führen. Erst hier wird der Mensch des Menschen Wolf. Hier können sich die Individuen nicht mehr wechselseitig anerkennen, sie können nur noch funktionierender oder eben überflüssiger Teil einer Masse sein. Diese Masse schließt alle jene aus, die als Feinde definiert sind oder die als überflüssig erklärt werden. Was zählt ist die Bewegung des Ganzen, der sich jeder zu unterwerfen hat, der das kann und darf. Das Individuum geht so vollständig in der Masse auf und delegiert sich, seine Entscheidungen, sein Handeln und somit auch jede Verantwortungsübernahme an das Kollektiv. In diesem Aufgeben der Verantwortung, in der Weigerung, die Konsequenzen des eigenen Handelns für Andere zu bedenken oder zu berücksichtigen, in der Weigerung des Denkens sieht Arendt die deutlichsten Konsequenzen totalitärer Herrschaft auf bewusstseinsstruktureller Ebene. Hier zeigt sich für Arendt die „empörende Dummheit“ die totalitäre Herrschaft von den Individuen verlangt und zugleich in ihnen anrichtet.

    Dass die gegenwärtigen Maßnahmen zur Abstandswahrung etwas mit Totalitarismus zu tun haben, wird jedoch lieber von jenen im Munde geführt, die gegenwärtig gegen sie demonstrieren. Abstandsregelungen gelten ihnen als Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Unterordnung des Demonstrationsrechts unter das Infektionsschutzgesetz als Einschränkung der Redefreiheit. Ob dies schon den Tatbestand totalitärer Herrschaft erfüllt, lässt sich bezweifeln. Die Analogien zu Arendts Beschreibungen scheinen andernorts zu liegen. Denn in der Ablehnung weiterer Abstandsregelungen scheint zunehmend das Bedürfnis auf, wieder Masse sein zu dürfen. Und Masse zu sein, bedeutet für Arendt, die vermeintliche Freiheit, keine Verantwortung mehr übernehmen zu müssen. Besteht also die geforderte Freiheit, für die hier demonstriert wird, was unter totalitärer Herrschaft schwerlich möglich wäre, vielleicht vielmehr darin, die Zumutungen der Distanz nicht mehr tragen zu müssen? Die Widersprüche, aus denen auch wissenschaftliche Prozesse bestehen müssen, nicht mehr aushalten zu wollen? Ist die geforderte Freiheit die Freiheit davon, die Konsequenzen des eigenen Handelns mit zu bedenken? Was bleibt unter den Bedingungen solcher Freiheit? Die Masse, die nach Innen keine Distanz mehr, nach Außen nur noch Grenzen kennt. Und „empörende Dummheit“.