Jetzt hat die Wissenschaft schon wieder was entdeckt. Genauer gesagt, die Paläoanthropologie, und das ausgerechnet in Bayern. Zwölf Millionen Jahre alte Knochen aus einer Tongrube bei dem Dörfchen Pforzen in der Nordost-Ecke des Allgäus lassen sich zu einer neuen Menschenaffenart zusammensetzen, die damals bereits und damit viel früher als andernorts und bislang angenommen aufrecht gegangen sein soll. Man gab ihr den Namen „Danuvius guggenmosi“, und eines der Individuenpuzzles heisst fortan „Udo“, weil am Tage der Entdeckung ein grosser Sanges-Künstler einen halbwegs runden Geburtstag feiern durfte. Dafür hat die Kreatur jetzt nicht einmal mehr ein Grab, darin zu rotieren ob so viel unverdienter Schmach. Der prompte Spott Restdeutschlands darüber, dass just in Bayern der aufrechte Gang erfunden und so die Wiege der Zivilisation grundgelegt worden sein soll, konnte so wenig überraschen wie dessen bescheidene Witzigkeit. Indessen perlt am bajuwarischen Selbstbewusstsein solches nicht nur ab, man zimmert flugs den Perlen Schatullen, und zwar grosse: Es herrscht Urzeit-touristische Gold- anstelle vormals schnöder Tongräberstimmung. Sogleich war der Ministerpräsident aus München zu Besuch, ein Museum wird geplant, natürlich mit Shop, Café, bestimmt denkt man an Hotels, archäologische Erlebnisparks, und die Spezln im Berliner Verkehrsministerium skizzieren schon mal den Autobahnanschluss.
Denn Urmensch boomt, und die Wissenschaft boomt voran. Dass die leitende Paläontologin vor Ort nicht zum ersten Mal mit einer überlauten Jubelmeldung massenmedial von sich reden macht, muss die Businesspläne der Fund-Anwohner nicht ins Wanken bringen. Solche Details stören. In Lascaux zahlte es sich aus, die Höhle nebenan in Beton und Plastik zu kopieren, um die Malereien zu bewahren; die Besuchermassen drängen ungebremst in den Abklatsch. Nicht erst seit dem „Englischen Patienten“ mit den Schwimmern in der Wüstenhöhle ist die Faszination, die Maler des 20. Jahrhunderts von einer ebenso ursprünglichen wie bereits vollkommenen Kunst sprechen liess (auch wenn das Zitat Picassos, nach Altamira sei alles Dekadenz, nur gut gefunden ist), auf dem Boulevard angekommen. Auf erdgeschichtliche Präzision kommt es dort so wenig an wie auf jene in der Sache. Am Ende stehen „Paläodiäten“ und die Erklärung postmoderner Verhaltensmuster von Grossstadtmenschen aus „prähistorischen“ Lebensumständen.
Doch woher kommt dieser Hype um die „Urzeit“, was immer damit gemeint sein soll? Er ist ja nicht nur in Hollywood oder am Bahnhofskiosk zu finden und ‚publish or perish‘-verformten Forscherrückgraten anzulasten. Ein kürzlich erschienener Sammelband fragt unter dem Titel „Höhlen“ nach der „Obsession der Vorgeschichte“, und natürlich sind darin die Verweise auf die „Höhlenausgänge“, das monumentale Werk Hans Blumenbergs, der 2020 übrigens einhundert Jahre alt geworden wäre, sehr zahlreich. Dessen Buch von 1996 hat eine der Geschichten am Fusse und zugleich auf dem Gipfel des ‚abendländischen‘ philosophischen Denkgebirges und seinem ‚Höhenkamm‘ zum Gegenstand, Platons Höhlengleichnis aus der Politeia, und zum Ziel, alle möglichen Zuschreibungen, Deutungen und Verwendungsweisen (teils auch die unmöglichen) des Gleichnisses auseinander zu sortieren und so zugleich dessen Rezeptionsgeschichte zu schreiben. Ganze 800 Seiten reichten Blumenberg dazu knapp nicht aus, und das liegt sowohl an dessen Spürnase noch für die abseitigste Quelle als auch an der Überfülle tradierten Materials. Auf das Werk wird sogleich zurückzukommen sein, doch greifen wir zunächst zu Platon selbst und machen an dessen Geschichte die Probe aufs geologische Exempel: ein, wenn nicht das philosophische Gleichnis also, gewiss, aber warum eigentlich partout eines der Höhle?
Betrachtet man verbreitete Veranschaulichungen, wie das Internet sie bietet, so erinnern sie an Standbilder aus Tierfilmen, in denen etwa der Bau eines Maulwurfs durch einen vertikalen Schnitt in der Erde einsehbar gemacht wurde. Und dem scheint ja auch der Platonische Versuchsaufbau zu entsprechen, er zeigt doch Wesen in ihrer spezifischen Situation untertage. Aber anstelle dem Drama zu folgen, dass sich aus dieser Situation durch den Eingriff unbenannter Höhlenbeherrscher ergibt, schauen wir lieber genauer auf die Regieanweisungen zur Szenerie. Bei Licht betrachtet gibt uns Platon nur drei, eher zweieinhalb Hinweise auf Lage und Gestalt der Höhle selbst, abgesehen von ihrer Einrichtung mit Feuer, Mauer und Schauspiel, die wir aber eben als bereits zur Handlung gehörend beiseite lassen wollen. Der erste steht gleich zu Beginn des Gleichnisses, ist der bei aller Knappheit ausführlichste und — provoziert mehr Fragen, als er beantwortet. Blumenberg übersetzt für seine „Höhlenausgänge“ den Anfang des Gleichnisses im siebten Buch der Politeia so: „Stelle dir vor: Da befinden sich Menschen in einem unterirdischen höhlenartigen Gehäuse. Nach oben zum Licht hin verläuft ein langer Gang an der Höhle entlang.“ Nun hat schon „Nach oben“ eingangs des dritten dieser drei Sätze im griechischen Text offenkundig keine Entsprechung. Dies festzustellen ist aber nicht spitzfindig, sondern führt ins Zentrum der Problematik. Blumenbergs Version steht nämlich, gerade indem sie eine anschaulich plausible Schilderung schafft, recht isoliert unter all den Varianten, die die etablierte Gräzistik sonst gefunden hat. Jean Grou, Victor Cousin, auch Benjamin Jowett und Paul Shorey, für sie und viele andere hat die Höhle nicht einen Gang an der ganzen Höhle entlang, vielmehr hat sie einen zum Licht hin offenen Eingang auf ihrer ganzen Länge! Schleiermacher hält die Sache im Undeutlichen, möchte man meinen, vielleicht hält er sich am strengsten an den Wortlaut: „Stelle dir nämlich Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Eingang habe“.
Die Frage ist, und sie ist in gewisser Weise eine auf Gedeih und Verderb der Geschichte: Wie muss, wie kann man sich das vorstellen? Sind höhlenartiges Gehäuse und Höhle eins, oder ist es eines in letzterer? Hat die Höhle einen langen Gang an ihr entlang (und wenn ja, wozu)? Oder wäre nicht eher anzunehmen, die Höhle hätte als unterirdisches Gehäuse einen langen Zugang, wobei dieser an seinem oberirdischen Ende dem Lichte zu orientiert liegt? Eben dies scheint aber nicht dazustehen, selbst Blumenberg übersetzt so nicht. Keineswegs will ich hier entscheiden, was die überzeugendste Edition, die griechische Grammatik und das platonische Idiom ermöglichen und ausschliessen. Aber der Sinn des Bühnenbilds dürfte klarstellen, welche Übersetzung der Sache nach falsch sein muss, und eben diese Einsicht wird wohl Blumenberg bewogen haben, zumindest eine bestimmte Vorstellung auf keinen Fall aufkommen zu lassen, gerade jene, die so viele Koryphäen vor ihm arglos herausgelesen haben: dass die ganze Höhle an einer ganzen Seite dem Licht zu offen sein könnte. Denn damit wäre das cineastische Erlebnis für die Gefesselten natürlich dahin; das Höhlenfeuer, die Projektorfunzel, könnte niemals gegen die Sonne anleuchten, das weiss nicht nur der common sense, das verbietet spätestens die Steigerungslogik der Platonischen Ontokosmologie.
Ergänzen wir noch rasch die beiden anderen dürftigen Hinweise auf die Höhlengestalt. Als einer der Bewohner losgebunden und ans Licht geschleift wird, geschieht dies über einen „unebenen steilen Aufgang“, so Blumenberg, und da gibt es quasi keine Uneinigkeit unter den Übersetzern. Die Beschreibung teilt bloss kein Element mit dem langen Gang oder Eingang von zuvor. Und schliesslich kehrt der Befreite aus dem Sonnenlicht zurück und setzt sich wieder an seinen Platz, das aber geschieht „plötzlich“ trotz des langen oder uneben-steilen Wegs (an Sturz ist nicht zu denken).
Was lernen wir daraus? Man ist versucht zu sagen: das „Höhlen“-Gleichnis ist gar keines. Platon bastelt sich eine je nach szenischem Bedürfnis variable Kulisse, die zwar die Einheit von Ort, Zeit und Handlung gewährt, nicht aber jene der Geometrie oder Vorstellung. Die Höhle ist Chiffre innerhalb einer chiffrierten Erzählung, Metapher für eine Metapher, entgegen ihrer vermeintlichen Anschaulichkeit. Die einschlägigen Zeichnungen und Animationen liessen sich deshalb alle entlang ihrer Abweichungen vom Text studieren; die aber sind nicht Fehler schludriger Leser oder Zeichnerinnen, sondern erzwungen von der kohärentistischen Logik gegenständlicher Bildlichkeit.
Was demnach von der „Höhle“ bleibt, ist nicht der Gegenstand oder sein Bild, sondern das Wort. Und dieses leistet konnotativ vor allem ein Versprechen: das auf Natur. Denn warum hat Platon sein Drama nicht gleich in einer Halle, einem Kerker oder Keller inszeniert? Schliesslich ist doch ohnehin die ganze Einrichtung schon höchst technisch, das ganze Modell das eines perfiden Arrangements. Oder warum hat er umgekehrt für das künstlich ins Werk gesetzte Schattenspiel nicht ein natürliches, selbsttätiges Geschehen erfunden, vielleicht Winde, die die Dinge vor einem vulkanischen Leuchten vorbeitreiben? Offenkundig bezieht das Gleichnis den einen Teil seiner epochalen Wirkmacht aus der Natürlichkeit seines Settings, die Höhle und Sonne ontologisch verbindet und die zweierlei mehr suggeriert als behauptet: einerseits ‚so ist es‘, so ist die Umgebung des Menschen an sich von Natur aus, und deshalb ist andererseits der Ausgang zum Licht und dessen Schau auch grundsätzlich menschenmöglich. Es gibt, jedenfalls in dieser Anlage, kein metaphysisches Hindernis, keinen Chorismos. Natürlich liefert die ‚Kultur‘ des Schattenspiels in der Höhle den anderen Teil, und beide zusammen und weitere Aspekte potenzieren sich in ihrer Spannung zum Antrieb für eine Jahrtausende überdauernde Reise der Geschichte in ewiger Jugend.
Dass, nebenbei bemerkt, eben diese Natürlichkeit eigentlich alle anthropologisch-erkenntnistheoretischen Deutungsoptionen zerstört, weil die naturgegebene Barrierefreiheit der Aufklärung unerklärlich macht, warum diese nicht ebenso natürlich und stets geschehen, ja je schon geschehen sein sollte (die Ketten, nicht der Weg, verhindern das selbsttätige Erkennen, die Inszenierung bräuchte sie sonst nicht; mit anderen Worten: ohne Chorismos funktioniert idealistische Erkenntnistheorie so wenig wie mit); bzw. dass das Gleichnis somit alle Defizite realen, menschlichen Erkennens ausschliesslich den ungenannten Gauklern als einen kulturindustriellen ‚Blendungszusammenhang‘ anlastet, aber gerade keine metaphysische ‚Ideenlehre‘ veranschaulichen kann, gehört zu der Beobachtung, die Blumenberg auf den Seiten seines Buches mit wachsender Verblüffung immer wieder konstatiert, nämlich dass die fehlende Vorgeschichte, wie eigentlich die Menschen in die Höhle hineingekommen sein sollen, oder, im Terminus der platonischen Ontoepistemologie, dass von Anamnesis keine Rede ist, ihrerseits schon kein Erkennen der Schatten an der Wand noch gar irgendeinen Erkenntniszuwachs auf dem Weg zum Licht gestattet. In den Köpfen der Höhlenbewohner herrscht Tabula rasa, und bei der, entgegen allem empiristischen Wunschdenken, bleibt es bekanntlich auch —; Tabula rasa aber nicht als Geburtsgebrechen, sondern Misshandlungsergebnis, weshalb Blumenberg sehr zurecht Kaspar Hauser in die Höhlen-Traditionslinie einbezieht.
So gesehen ginge es in Platons Gleichnis also tatsächlich nur um das, was der Titel des Buches, in das es sich eingebettet findet, ankündigt: um Politik. Der Einfall Jacob Burckhardts, den Blumenberg erwähnt, dass dem historistisch-entmystifizierenden Impuls entsprechend als Vorbild für die Höhlenbewohner am ehesten die Sklaven in den attischen Minen in Frage kommen könnten, hätte sein fundamentum in re demnach weniger in deren Aufenthalt untertage als in ihren Ketten, in denen sie tatsächlich permanent lagen, solange sie nicht ihre Fron zu leisten hatten. Indessen käme er womöglich der Sache näher als die Versuche anderer Kommentatoren, reale Höhlen, etwa jene, auch „Pan-Grotte“ genannte bei Vari nahe Athen als Platons Urhöhle in Erwägung zu ziehen.
Noch erhellender wirkt der Feldversuch. Besucht man heute eine Höhle in unserer Nähe, zum Beispiel das Kesslerloch bei Thayngen/SH, in der Hoffnung, damit dem Rätsel des Gleichnisses näher zu kommen, eröffnen sich wenig speläologische und noch viel weniger metaphysische, dafür aber fruchtbare Einblicke in eine andere Richtung. Das Kesslerloch gehört zu den bedeutendsten Fundstätten jungsteinzeitlicher Artefakte in der Schweiz; das Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen bewahrt und zeigt sie, teils im Original. Dort also an der Klus zwischen Bärg und Wippel, durch die sich damals ein Fluss zwängte und heutzutage nur noch ein halbes Dutzend Verkehrswege, scheint Höhlenleben realiter stattgefunden zu haben, sowohl als profane Praktiken zu dessen elementarer Erhaltung wie auch als Erschaffen grossartiger Kunst. Allein, die naive Erwartung, die Höhle habe vor allem Unterschlupf, Schutz, ja Wohnung gewährt, stösst sich sowohl an der wenig gemütlichen Realität des felsig-zugigen Unterstands, den das Kesslerloch tatsächlich darstellt, als auch an den Erkenntnissen der Forschung. Niemand war sesshaft dort, jedenfalls nicht vor 13 000 Jahren; jene Menschen lebten nomadisch. Wer vorbeikam, führte Zelte mit und nutzte das Felsdach allenfalls nebenbei. Ausgezeichnet als Fundstätte wurde die Höhle einerseits von der auslöschenden Gewalt der Witterung, der im Freien nichts widersteht, andererseits waren es eben solche, naiv-spätromantische Höhlenvorstellungen, die im Urzeit-Entdeckerrausch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Blick von Privatgelehrten und Hobbyforschern in Felskammern lenkten, auf dem Fusse zu oft gefolgt von grobem Grabgerät und gern auch Fälscherhandwerk.
Der archäologische Befund also erdet die metaphysische Spekulation, und zugleich schärft und weitet er den Blick für die Analyse seiner rhetorischen Optionen. Kehren wir deshalb solcherart instruiert noch einmal zurück zur Natur und ihrer Tauglichkeit für Gleichnisse. Ihr Allgemeinheits- und Ursprünglichkeitsversprechen, von dem Platons Geschichte sowohl ihre Plausibilität als auch ein grosses Stück ihrer epochenüberdauernden Wirkmacht bezieht, ist ja auch, was Urgeschichtsforschung und ihren Resultaten Faszination verleiht. Echt, wissenschaftlich, wahr, und zugleich Wurzel unser aller Dasein — das sind die Attribute, mit denen sich Publizität und Kasse machen lassen. Und daran ist im Prinzip ja gar nichts falsch, im Gegenteil (solange die Kasse keine Mittellosen von der Bildung ausschliesst). Nur muss man den Nimbus der prähistorischen Natur und auch der Kultur, die sich am fernen zeitlichen Horizont darunter mengt, nur ernst genug nehmen und darf ihn nicht kulturindustriell entwerten. Man darf sie auch allegorisieren, wenn die Geschichte denn dem modernen Reflexivitätsanspruch stand hält und die Zwecke ehrbar sind.
So kommt auch Hans Blumenberg am Ende seiner Rekonstruktionen interpretatorischer Höhlen-Nachbauten auf die Frage, wie denn ein für Gegenwart und Zukunft brauchbares „Höhlen“-Bild konstruktiv hervorgebracht werden könnte. Ist die lange und bunte Geschichte ihrer Umdeutungen und Neubesetzungen erst erzählt, ruft sie ja geradezu danach, die historisierende Brille gegen jene des Laboranten und der Ingenieurin zu vertauschen. Wie müsste man eine Höhle bauen, sodass sie Herberge einer zukünftigen Metaphysik sein könnte? Ob wir sie brauchen, ist nicht ausgemacht; vielleicht bleibt sie ja auch einfach leer und Metaphysik aus den verschiedensten Gründen für immer in ihrer Gruft. Aber danach sieht es nicht aus, zu lebendig erscheint das Transzendenzbedürfnis. Schädlich wäre wohl auf keinen Fall, sie in der Reserve zu haben; plötzlich könnte ihre traditionsgesättigte Überzeugungskraft hilfreich sein. Und der Plan dazu liegt ja ganz nahe und ist sehr simpel: man muss die Höhle nur wie einen Handschuh auf die schöne, richtige Seite wenden; lange genug haben wir die innere mit ihren unebenen Nähten und losen Fäden skrupulös analysiert, ausgeforscht und zu glätten gesucht.
Erzählen wir also eine neue Geschichte von Menschen in einer Höhle. Die ist nun aber nicht mehr von Fels umgeben, es ist genau umgekehrt. Die Lebenssphäre der Menschen umfasst die Erde an allen Orten in derselben Weise, und durch ihr Gestein hindurch gibt es keinen Weg zu einem Draussen; jeder Schacht führte nur immer wieder in die Hülle, die den Planeten umgibt, zurück. Auch nach ‚oben‘ ist der Weg versperrt. Einige wenige waren menschheitsgeschichtlich jüngst gleichsam ‚vor der Tür‘, noch viel weniger Exemplare hatten es sogar zur nächsten Nachbarhöhle geschafft. Aber der Aufwand dafür ist riesig und die Lebensbedingungen draussen und woanders, soweit ein anderer Ort überhaupt erreichbar ist, sind unvergleichlich unwirtlicher als hier und keine nennenswerte Alternative. Wozu auch immer die Suche nach Exoplaneten gut sein mag; Reiseziele findet sie nicht, nach allem, was wir über das Wesen der Wirklichkeit und die in ihr absehbar menschenmöglichen Bewegungen wissen. Gleichwohl waren die Ausflüge nach Draussen von philosophisch unersetzbarem Wert, haben sie doch die kosmologische Grundfrage nach dem Wo, Woher und Wohin des Menschen — wiederum nach allem, was wir über die Struktur dieses Kosmos bislang gelernt haben und uns realistischerweise vorstellen können — ein für alle Mal in konkretester Anschaulichkeit geklärt (oder wovon könnte nach der Wende weg vom geozentrischen das heliozentrische Weltbild mit all seinen astronomischen Implikationen noch abgelöst werden?). Vielleicht wird man eines Tages die rasende Reiserei innerhalb der Atmosphäre drastisch reduzieren, wenn nicht einstellen müssen, aber auf regelmässige Weltraumfahrt für eine planetarisch ausgeloste Gruppe von Homines sapientes zu humanistisch-anthropologischen Bildungszwecken gerade nicht verzichten können. Die seither stets geschilderte Macht des Eindrucks, den man dort offenbar gewinnt, und dessen Verbreitung unter der Weltbevölkerung könnte für alle globale ‚Nachhaltigkeitspolitik‘ und ihren Erfolg unersetzlich sein.
Damit wären die Rahmenbedingungen für die condition humaine geklärt, sie sind planetarisch unverrückbar; zugleich behindert uns nichts und niemand bei der Möblierung unserer Höhle. Es gibt hier keine anonymen, quasi allmächtigen Schattenspieler, das ist alles Ideologie und deren Ausleuchtung muss eigentlich Gegenstand der allegorischen Deutung sein. Das neue Gleichnis verspricht keinen Ausgang mehr immer weiter nach ‚oben‘ oder ‚draussen‘; aus diesem Loch pfeift der Sturm, der Benjamins Engel der Geschichte treibt. Vielmehr lenkt es das menschliche Erkennen auf einen zirkumferenten, homöostatischen Pfad, den zu erforschen um nichts weniger faszinierend und ergiebig ist. Es liegt allein an uns, uns allen, haben wir nur endlich die „Gebrauchsanweisung für das Raumschiff Erde“ (Richard Buckminster Fuller) begriffen, uns in der Biosphäre so wohnlich einzurichten, wie nur immer möglich und gewünscht. Und im Gegensatz zu Felslöchern sind die Voraussetzungen, die sie dafür bietet, eigentlich ja schlicht paradiesisch.
Ich danke Nina Scherrer für wichtige Beiträge; alle Fehler sind meine.
Hinweise:
Deutschlandfunk: „Sensationsfund in Bayern? Urmensch "Udo" begeistert das Dorf Pforzen“ aus der Sendung „Deutschland heute“ vom 18.11.2019. Autor: Watzke, Michael.
https://www.deutschlandfunk.de/sensationsfund-in-bayern-urmensch-udo-begeistert-das-dorf-pforzen-dlf-c1ca2b5e-100.html Dauer: 05:02:00, Hören bis: 19.01.2038 04:14
Deutschlandfunk: „Evolutionsgeschichte: Ursachen für die Sensationsgier in der Paläoanthropologie“ aus der Sendung „Forschung aktuell“ vom 13.12.2019. Autor: Stang, Michael.
Verfügbar auf: https://www.deutschlandfunk.de/dlf-audio-archiv.2386.de.html?drau:broadcast_id=117&drau:page=13 Dauer: 04:40:00, Hören bis: 19.01.2038 04:14
Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt/Main: suhrkamp 1996 (stw 1300)
Markus Messling (Hg.), Marcel Lepper (Hg.), Jean-Louis Georget (Hg.): Höhlen. Obsession der Vorgeschichte. Berlin: Matthes & Seitz 2019 (Fröhliche Wissenschaft Bd. 148)
Richard Buckminster Fuller: Operating Manual for Spaceship Earth. Carbondale, Southern Illinois University Press, 1968 (dt: Richard Buckminster Fuller: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Reinbek: Rowohlt1973)
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlass – Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19. Hrsg. von Gérard Raulet. Berlin: Suhrkamp 2010