Sigmund Freuds berühmter Auflistung der Kränkungen folgend, die als Folge der wissenschaftlichen Entdeckungen das Weltbild des modernen Menschen zum Einsturz brachten, bezeichnete der US-Paläontologe Stephen Jay Gould die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit als “geologische Kränkung”. Die geologische Tiefenzeit ist eine vom Menschen kaum vorstellbare Zeitdimension – Millionen oder gar Milliarden von Jahren – in denen langsame evolutionäre Prozesse stattfinden.
Die Tiefenzeit der Erdgeschichte, in der Paläontologen sich bewegen, um Aussagen über unvorstellbar große Zeiträume zu tätigen, beeinflusst auch die Methodik der Paläontologie als biologische Wissenschaft. Der berühmte französische Naturkundler Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788), war einer der ersten, die die Tiefe der geologischen Zeit erforschten. Buffon war vom Ausmaß der zeitlichen Dimension fasziniert, die die Naturgeschichte weit über die menschliche Verständnisfähigkeit hinaus ausdehnte. Gleichzeitig betonte er jedoch die Ambivalenz von Zeit in der Naturgeschichte: Die weite zeitliche Dimension übe einen starken Reiz auf den Wissenschaftler aus, gleichzeitig werfe sie ihn in einen Abgrund des Nichtwissens, aus dem es unmöglich sei zu entkommen. Paläontologische Zeitlichkeit verändert die menschliche Perspektive auf Natur und macht die Unmöglichkeit deutlich, mit Sicherheit zu sagen, was in der entfernten Vergangenheit passierte. Darüber hinaus beeinflusst die Tiefenzeit den Status und die Merkmale der paläontologischen Daten: Die Fossilien. Es ist extrem selten, dass gut erhaltene Fossilien gefunden werden, die lebenden Organismen ähneln und ohne Weiteres ausgestellt und der Forschung zur Verfügung gestellt werden können. Denn die sogenannten taphonomischen1 Prozesse, welchen ein gestorbener Organismus unterworfen ist, zerstören und verändern seine Eigenschaften. Weichteile zerfallen fast immer und selbst harte Teile wie etwa Knochen sind nur selten vollständig erhalten. Was heute von vielen hunderten von Dinosauriern erhalten ist, beläuft sich letztendlich auf nur einige wenige Knochenfragmente. Paläontologen müssen insofern alle ausgegrabenen Teile klassifizieren und katalogisieren und die fehlenden Knochen ergänzen, um ein adäquates Bild dieser ausgestorbenen Tiere zu erhalten. Ferne geologische Zeit formt, verändert und zerstört den ursprünglichen Organismus. Dies führt dazu, dass der Fossilbericht immer unvollkommen und unvollständig ist.
Die Unvollkommenheit und Unvollständigkeit des paläontologischen Berichts wirft einige zentrale Fragen auf: Wie gelangt man von den gefundenen unvollständigen Daten der Fossilien zu den ausgestellten Organismen? Wie sind Paläontologen in der Lage, ausgestorbene Lebewesen zu erkennen und sie aus dem Gestein auszugraben?
Diese Fragen über die Bedingungen der Möglichkeit der Paläontologie als Wissenschaft wurden von Wissenschaftsphilosophen kaum gestellt. Gleichzeitig sind sie allerdings unverzichtbar, insbesondere angesichts des geologischen Zeitalters, in dem wir uns befinden. Definiert als Anthropozän, ist unser Zeitalter durch eine gründliche Zunahme der Anzahl und Intensität von durch den Menschen verursachten Massenaussterben gekennzeichnet. Nun kommt das Konzept des Massenausterbens aus der paläontologischen Forschung und macht ein Wissensfeld der Paläontologie aus. Eine philosophische Analyse der Prinzipien, nach denen Paläontologen die Tiefenzeit untersuchen können, ermöglicht es daher auch, den Grad der Gültigkeit wichtiger Konzepte und Praktiken in der heutigen Zeit zu untersuchen und nachzuvollziehen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Philosophie vor allem mit dem klassischen Problem der Über- und Unterbestimmung der historischen Daten, u.a. der Paläontologie, sowie mit dem Status und den Fragen ihrer kausalen Erklärungen beschäftigt. Die historische Rekonstruktion wurde im Hinblick auf ziemlich abstrakte Inferenzstrukturen betrachtet und die historische Wissensproduktion im Lichte breiterer metaphysischer Debatten analysiert, wie etwa der Debatte Realismus vs. Antirealismus oder über die Einheit oder Uneinheitlichkeit der Wissenschaft nachgedacht. Unter diesem Gesichtspunkt wurde die Technologie nur am Rande betrachtet. Sie wurde als bloßes Hilfsmittel gesehen.
Meine Herangehensweise fordert jedoch genau das Gegenteil: Wir sollten unsere Analyse auf einen anderen Bereich verlagern und die Bedingungen untersuchen, unter denen historisches wissenschaftliches Wissen produziert wurde, um eine technische Kontrolle und Darstellung der untersuchten Phänomene zu erreichen. Kurz, Paläontologie sollte als Technowissenschaft betrachtet werden.
Der amerikanische Paläontologe David Raup leistete in den 1960er Jahren Pionierarbeit in dem von mir hier definierten technowissenschaftlichen Ansatz für die Tiefenzeit. Nachdem er vier Parameter identifiziert hatte, die für gewundene Gastropodenschalen verantwortlich sind, präsentierte er dann eine hypothetische Schneckenform, die nach den vier zuvor identifizierten Parametern am Computer simuliert wurde.
Aufgrund dieser ersten Untersuchung der Konstruktionsprinzipien von Schalen entwickelte er den Begriff von Morphospace. Ein Morphospace ist eine virtuelle Darstellung der möglichen Form oder Struktur eines Organismus. Jede Achse des Morphospaces entspricht einer Variablen, die einen Charakter des Organismus beschreibt. Jeder Punkt in der Morphospace repräsentiert einen einzelnen Organismus.
Demnach bieten diese am Computer technologisch vermittelten Szenarien den Paläontologen den Hauptzugang zur Tiefenzeit. Auf der Grundlage dieses technologischen Ansatzes sind Paläontologen in der Lage, eine Reihe weiter gefasster Fragen zu stellen, z.B. warum einige Bereiche des Konfigurationsraums des Morphospaces leer sind oder welche Mechanismen hinter der Evolution und Evolvierbarkeit stehen.
Abbildung 1: Dreidimensionale Blockdarstellung des Spektrums möglicher Muschelformen. Aus: Raup 1967.
Paläontologen kontrollierten und präsentierten deshalb das, was aus dem Abgrund der Tiefenzeit, d.h. aus einer fernen und geheimnisvollen zeitlichen Dimension, erscheinen konnte. Ihr Hauptziel ist nicht die korrekte Darstellung dessen, was tatsächlich war, sondern vielmehr die technische Beherrschung, das Experimentieren, die Visualisierung, die Produktion und die effiziente Arbeit mit den naturhistorischen Phänomenen, um deren Verständnis sie kämpften.
Der von mir vorgeschlagene Schwerpunkt auf der Technik betont die ko-partizipative Rolle der Technik bei der Gestaltung der modalen Räume, in denen Phänomene explizit erscheinen können, und ermöglicht so naturhistorische Forschung.
Was ich hier vorschlage, ist der sehr hohe Anspruch, mit dem die Technik die Darstellung und Kontrolle historischer Erklärungen ermöglicht, so wie sie beispielsweise an der Darstellung chemischer oder nanotechnologischer Phänomene mitwirkt. Die Paläontologie ist meiner Meinung nach als eine Disziplin zu betrachten, die notwendigerweise verschiedene technologische Geräte einsetzen muss, um unvollkommene und unvollständige historische Daten zu verarbeiten, zu präsentieren und schließlich zu erklären.
Wie ist zum Beispiel die Beziehung zwischen der Produktion von technischem Wissen und biologischer Erklärung? Wie könnten Phänomene, die in einem technisch-wissenschaftlichen Umfeld erzeugt werden, übersetzt und als zuverlässige Daten in einem anderen wissenschaftlichen Kontext verwendet werden? Und ganz allgemein: Welche Rolle hat die Technologie bei der Überbrückung der Kluft zwischen historischen und theoretischen Wissenschaften gespielt?
Literaturhinweise
Currie, Adrian (2018) Rock, Bone, and Ruin: An Optimist's Guide to the Historical Sciences. MIT Press, Cambridge
Gould, S.J. (2002) The Structure of Evolutionary Theory. Harvard University Press,
Raup, David M. 1967. Geometric analysis of shell coiling: General problems. Journal of Paleontology 40:1178–1190.
Tamborini, Marco (2020) Technoscientific Approaches to Deep Time. Studies in History and Philosophy of Science Part A 79 (1):57-67
Turner, Derek (2011) Paleontology a Philosophical Introduction. Cambridge University Press, Cambridge; New York
1 1940 eingeführt, beschreibt der Begriff Taphonomie (aus dem Griechischen τάφος (Grab) und νόμος (Gesetz)) die Gesetze der Entstehung von Fossilien.