Keine Angst vor moralischen Tatsachen

    Wer von Objektivität in moralischen Fragen oder gar von moralischen Tatsachen spricht, setzt sich dem Verdacht aus, noch nicht in der Moderne angekommen zu sein. Die Zeiten, in denen die eigenen Werte und Verhaltensnormen noch wie selbstverständlich einen Objektivitätsanspruch erheben konnten, sind längst vergangen. Spätestens seit der Aufklärung, erst recht in hoch individualisierten, pluralistischen Gesellschaften erscheint es bestenfalls naiv, schlimmstenfalls als Ausdruck von nicht zuletzt auch politisch gefährlichem Dogmatismus, für eine inhaltlich bestimmte Moral Objektivität beanspruchen zu wollen.

    Vielleicht ist diese sich als aufgeklärt präsentierende Skepsis aber bloß Ausdruck von Denkfaulheit oder eine leicht durchschaubare Immunisierungsstrategie. Denn es ist klar, dass jemand, der von einem System wie die Sklaverei wirtschaftlich profitiert, sich nur ungern damit konfrontieren will, dass Sätze wie „Sklaverei ist grausam und gehört daher abgeschafft“ oder „alle Menschen sind gleichberechtigt“ wahr sein könnten. Wenn das so wäre, gäbe es nämlich einen starken Grund, diese Praxis aufzugeben. Niemand lässt aber gerne seine grundsätzlichen Wertorientierungen in Frage stellen, vor allem dann nicht, wenn sie mit Privilegien verbunden sind. Man kann diesen Gedanken auf die aktuell verstärkt (und zu Recht) bekämpften Formen von Diskriminierung übertragen; dann erscheint die Frage nach der Objektivität von Werturteilen plötzlich in einem ganz anderen, aufgeklärten Licht. Vielleicht lohnt es sich doch, darüber nachzudenken.

    Nun hat die Abwehr gegenüber dieser Möglichkeit auch Gründe in der Sache: „Objektiv“ wird oft im Sinne von „unparteilich“, „wertfrei“ und damit als Gegenbegriff zu „subjektiv“ verstanden. Da Wertungen klarerweise etwas mit menschlichen Gefühlen, Vorlieben und darauf beruhenden Reaktionen zu tun haben, sie also überhaupt nur relativ auf menschliche Praktiken und Lebensweisen verständlich sind, scheint der Anspruch auf Objektivität hier nicht zu passen. Es gehört daher zu den Gemeinplätzen neuzeitlicher Philosophie, den Bereich des Normativen von dem der Tatsachen strikt zu trennen. Diese Grenzziehung ist aber umstritten: beschreibt unser Satz über die Sklaverei eine Tatsache oder drückt er nur eine „subjektive“ Stellungnahme aus?

    Ein bis heute viel diskutiertes Argument gegen moralische Tatsachen, das so genannte Argument aus der Relativität, stammt vom australischen Philosophen John L. Mackie.1 Es knüpft an den bereits erwähnten Pluralismus voneinander widerstreitenden Wertorientierungen an. Meinungsverschiedenheiten in wissenschaftlichen Fragen lassen sich, so Mackies Überlegung, normalerweise gut damit erklären, dass wissenschaftliche Hypothesen oder Erklärungen manchmal auf unzulänglichen Datenmengen beruhen und daher die Wirklichkeit nicht adäquat abbilden. Meinungsverschiedenheiten in Wertfragen lassen sich dagegen nicht sinnvoll durch die Annahme erklären, es würden sich in ihnen misslungene Versuche ausdrücken, eine moralische Wirklichkeit richtig zu erfassen. Die bessere Erklärung ist nach Mackie einfach, dass solche Meinungsverschiedenheiten unterschiedliche Lebensweisen spiegeln. Die Hypothese einer objektiven, normativen Wirklichkeit ist nicht nötig, um Dissense in Wertfragen sinnvoll zu erklären.2 Mackie hat dieses Argument noch durch ein weiteres flankiert, das auf den absonderlichen Charakter vorgeblicher moralischer Tatsachen verweist (was für eine Art von Tatsachen sollen das sein?) und auf die erkenntnistheoretische Schwierigkeit, sie mit den uns gegebenen Erkenntnisvermögen (sinnliche Wahrnehmung und logische Ableitung) zu erkennen.3

    Mackies (indirektes) Argument überzeugt insofern, als man kaum bestreiten kann, dass Wertungen nur relativ auf menschliche Praktiken verständlich sind. Ohne diese Praktiken würde es keine Werte geben. Wenn es also so etwas wie moralische Tatsachen gibt, dann existieren sie nicht so wie Wasserstoffmoleküle, Viren, Pflanzen, menschliche und nicht-menschliche Tiere oder Häuser existieren. Es hängt also davon ab, wie man den Begriff einer moralischen Tatsache und ihre objektive Existenz, die auch Werturteile wahr machen könnte, erläutert. So käme man auch zu einer Antwort auf die vermeintliche „Absonderlichkeit“ moralischer Tatsachen.

    Der englische Philosoph David Wiggins hat dazu einen Vorschlag entwickelt. Er macht darauf aufmerksam, dass der Gegenbegriff zu „objektiv“ nicht unbedingt „subjektiv“ ist. Das wird klar, wenn man einen Gegenstand als „objektiv“ bezeichnet, wenn er als wahr oder falsch beurteilt werden kann.4 „Subjektiv“ wäre ein Gegenstand dagegen, wenn seine Beurteilung von Standards abhängt, die mit den Reaktionen von bewussten Subjekten zu tun haben.5 Der Gegenbegriff zu „subjektiv“ wäre dann „nicht-subjektiv“ und der zu „objektiv“ wäre „nicht-objektiv.“ Nach dieser Begriffsbestimmung ist es denkbar, dass ein Gegenstand nicht-objektiv ist, ohne deshalb schon subjektiv zu sein. Die Behauptung, dass Werte subjektiv, also abhängig von menschlichen Praktiken sind, schließt begrifflich nicht aus, dass Werturteile objektiv, nämlich wahr oder falsch sein können. Die Wahrheit dieser Urteile hängt dann freilich von Standards ab, die mit den Reaktionen von Subjekten zu tun haben.

    Diese Differenzierung reicht aber noch nicht aus, denn auch Mackie bestreitet ja nicht, dass der Moraldiskurs objektivistisch und damit auch wahrheitskonditional funktioniert. Er behauptet nur, dass der damit einhergehende Glaube an normative Tatsachen auf einem Irrtum beruht.6 Hier kommt es nun darauf an, den Wahrheitsbegriff richtig zu erläutern. Auch dazu macht Wiggins einige originelle Vorschläge: Der Wahrheitsbegriff lässt sich nicht definieren, er kann aber über wesentliche Merkmale erläutert werden. Eines dieser Merkmale ist nach Wiggins, dass die Wahrheit einer Aussage eine Untersuchung voraussetzt, die es möglich macht, über diese Aussage eine Übereinstimmung zu erzielen, welche ihrerseits die beste Erklärung für die Wahrheit dieser Aussage ist.7 Festzuhalten ist daran, dass Wiggins die Wahrheit von Aussagen begrifflich an geeignete Praktiken der Untersuchung und der Urteilsfindung bindet. Was wir als Tatsachen feststellen, hängt davon ab. Solche Untersuchungen sind auch für Wertfragen oder bei Dissensen über solche Fragen grundsätzlich möglich. Nach Wiggins besteht also eine Kontinuität zwischen unseren Praktiken und Methoden der Wahrheitssuche und Tatsachenfeststellung in verschiedenen Gebieten der Erkenntnis. Die Suche nach moralischen Wahrheiten ist dann lediglich ein besonderer Fall von Methoden der Wahrheitssuche zum Beispiel in den Wissenschaften. Damit unterläuft Wiggins auch die strikte Trennung von Tatsachen und Werten: Zwischen diesen Bereichen besteht eine Kontinuität, die durch unsere Fähigkeit garantiert wird, unsere als wahr oder falsch beanspruchten Urteile im Kontext von Untersuchungen zu rechtfertigen.

    Eine Frage bleibt allerdings offen: Was folgt aus der Einsicht in die Wahrheit eines Werturteils für unser Handeln? Diese wichtige Frage der praktischen Wirksamkeit moralischen Wissens diskutiert Wiggins nicht, da er sich, wie Mackie für die erkenntnistheoretischen und ontologischen Aspekte des Themas interessiert. Seine ebenso subtilen wie originellen Argumente sollten uns allerdings misstrauisch gegen kurzatmige Verweise auf gelebten Pluralismus und die „Subjektivität“ von Werten machen, und uns ermuntern, auf unsere Fähigkeit zu vertrauen, die Wahrheit zu finden und im Lichte unserer besten Argumente zu rechtfertigen.


    Literatur

    Zum Thema Objektivität:

    Gaukroger, Stephen (2017), Objektivität. Ein Problem und seine Karriere, Stuttgart (Reclam).

    Das Buch enthält auch ein interessantes Kapitel zum Thema Objektivität in der Moral, das allerdings eine andere Perspektive als die hier vorgestellte verfolgt.

    Mackies Verteidigung des moralischen Subjektivismus findet sich vor allem im ersten Kapitel seines Buchs:

    Mackie, John L. (1983), Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart (Reclam).

    David Wiggins‘ Argumente gegen den Subjektivismus finden sich im dritten, metaethischen Teil seiner Vorlesungen zur Moralphilosophie:

    Wiggins, David (2006), Ethics. Twelve Lectures on the Philosophy of Morality. London (Penguin Books).

    Zur Vertiefung seiner Position kann auch eine in dritter Auflage 2010 erschienene Aufsatzsammlung empfohlen werden:

    Wiggins, David (2010), Needs, Values, Truth, Oxford (Clarendon Press).


    1 Mackie 1983, 40ff.

    2 Ebd., 42.

    3 Ebd., 43ff.

    4 Wiggins 2006, 358.

    5 Ebd., 370.

    6 Mackie 1983, 39f.

    7 Wiggins 2006, 360.