Hochmotiviert studierte ich Tiermedizin, um eines Tages sagen zu können: Ich bin Tierärztin. Nach Abschluss des Studiums führte mich der Weg in das interdisziplinäre Forschungsfeld der empirisch informierten veterinärmedizinischen Ethik. Heute – ebenso hochmotiviert und begeistert – forsche ich in diesem Bereich. Mittels sozialwissenschaftlicher Methoden untersuche ich in Zusammenarbeit mit Forscherinnen und Forschern aus Philosophie, Soziologie und Tiermedizin ethische Konfliktfelder und Herausforderungen, die in der tiermedizinischen Praxis zutage treten. Erst kürzlich wurde ich zu meiner ‚Berufsbezeichnung‘ gefragt: Sind sie Tierethikerin? Oder doch Tierärztin? Eine klare Antwort – im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer Disziplin – fiel mir schwer. Somit sah ich mich mit den Fragen konfrontiert: Befinde ich mich in einer disziplinären ‚Identitätskrise‘? Oder, ist (m)ein Problem mit der klaren Zuordnung zu einer Disziplin doch viel mehr ein ‚Symptom‘ interdisziplinären Arbeitens?
Interdisziplinarität – Potenziale, Herausforderungen und Grenzen
In der akademischen Welt ist der Begriff der Interdisziplinarität in aller Munde. Meist positiv konnotiert und regelrecht en vogue, umfasst er eine Arbeitsweise, die sich unter Zusammenschluss mehrerer Disziplinen komplexen Problemfeldern widmet und nach umfassenden Lösungsansätzen sucht. Schon Karl Popper war der Ansicht, dass nicht die einzelnen Disziplinen beforscht werden, sondern ihre Probleme im Zentrum stehen, die „[w]eit über die Grenzen eines bestimmten Gegenstandsbereiches oder einer bestimmten Disziplin hinausgreifen“ (Popper, 200, 97). In den letzten Jahrzehnten institutionalisierte sich interdisziplinäres Arbeiten nicht nur in Form von Journalen, sondern auch in einschlägigen Forschungsinstitutionen, die sich der theoretischen, praktischen und methodischen Interdisziplinarität widmen. Die Etablierung dieser Forschungsinstitutionen brechen dabei die traditionellen Fakultätsunterscheidungen von Technik-, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften auf (Jungert et al., 2013, VI). Auch wenn Interdisziplinarität in heutigen Wissenschaftsdebatten häufig Verwendung findet und sich zu einer Schlüsselkompetenz entwickelt hat, bleibt die Begriffsbestimmung – vor allem in Abgrenzung zu Para-, Multi-, Trans- und Crossdisziplinarität (nähere Ausführungen siehe Jungert, 2013; Sukopp, 2013) – unscharf.
Wesentliche Gesichtspunkte zum Begriff der Interdisziplinarität wurden von Dürnberger und Sedmak (2004) im Rahmen einer Interviewstudie mit 31 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern herausgearbeitet. Anhand ihrer gewonnen Daten bestimmen sie Interdisziplinarität als eine „Form wissenschaftlichen Zusammenarbeitens, bei der Experten, auf Basis gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigen Vertrauens im Rahmen wissenschaftsorganisatorischer Voraussetzungen und nach Maßgabe vorhandener Ressourcen koordiniert und [sich] prinzipiell gleichrangig in Teams mit einem Problem beschäftigen […]“ (Dürnberger und Sedmak, 2004, 6).
Anhand dieser Begriffsbestimmung wird deutlich, welchen Anforderungen sich interdisziplinäres Arbeiten stellen muss. Der wichtigste Aspekt liegt in der Bereitschaft einer fachübergreifenden Zusammenarbeit, die insbesondere Zeit, Standfestigkeit in der eigenen Disziplin, Anerkennung gegenüber anderen Disziplinen, transparente Kommunikationsstrategien wie auch Wissenschaftskriterien erfordert.
Die Motive für Interdisziplinarität können hierbei wissenschaftsextern (z.B. aus Politik und Gesellschaft) oder wissenschaftsintern (z.B. Grenzen disziplinärer Theorien und Methoden) begründet sein (Jungert, 2013), wobei der Nutzen nicht nur in der Zusammenarbeit bei der Erarbeitung umfassender Lösungsansätze liegt, sondern Ergebnisse ebenso wieder in die einzelnen Disziplinen zurückfließen und kommuniziert werden sollten (Dürnberger und Sedmak, 2004). Damit Interdisziplinarität funktioniert und zu fruchtbaren Erkenntnisgewinnen führt, bedarf es neben dem Wissen von Expertinnen und Experten der einzelnen Disziplinen auch soziale und menschliche Kompetenzen. Mit Blick in die Literatur wird dieser Aspekt selten thematisiert, wobei das Gelingen interdisziplinären Arbeitens in direkter Abhängigkeit der involvierten Personen und dem sozialen Miteinander steht. Bereitschaft zur Kooperation, Neugierde und Interesse an Neuem/Fremden, Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Aufrichtigkeit sind als Kernkompetenzen zu erwähnen, die die Basis und Grundvoraussetzung erfolgreicher interdisziplinärer Arbeit darstellen (Dürnberger und Sedmak, 2004).
Neben der Befürwortung zur Interdisziplinarität finden sich auch kritische Stimmen in der Debatte rund um das Thema wieder, welche die Fragen der Notwendigkeit, Durchführbarkeit und Grenzen interdisziplinären Arbeitens in den Vordergrund stellen. Vollmer (2013) unterscheidet vier wichtige Problemfelder: erstens, der hohe Grad an Wissenserfordernis, zweitens, das Erfordernis an Vereinfachungen, die wiederum zu Verfälschungen führen können, drittens, das Problem der Verständnisschwierigkeit und daraus resultierende Missverständnisse, und viertens, das Problem der Selbstüberschätzung einer oder mehrerer Personen. Auch Dürnberger und Sedmak (2004) identifizieren anhand ihrer Interviewergebnisse Schwierigkeiten, die sich insbesondere aus dem Fehlen von Qualitätsstandards, Wissenschaftskriterien und Foren, die eine geeignete Infrastruktur für interdisziplinäres Arbeiten bieten, ergeben. Aufgrund der Kürze des Beitrages soll an dieser Stelle nicht näher auf die einzelnen Problemfelder eingegangen werden. Dennoch steht außer Frage, dass die kritischen Standpunkte eine wichtige Basis für weitere Reflexionen zur Interdisziplinarität darstellen – nicht nur für ihre Kritiker und Kritikerinnen, sondern auch für Forscherinnen und Forscher, die in der interdisziplinären Forschungslandschaft arbeiten.
Was hat es nun mit der disziplinären ‚Identitätskrise‘ auf sich?
Zweifelsohne stellt disziplinäres Wissen der einzelnen involvierten Personen einen wichtigen Ausgangspunkt für gewinnbringende Interdisziplinarität dar. Doch sollte man die Frage bezüglich Expertenwissens auch aus einer anderen Perspektive durchdenken, die eng mit der zunehmenden Etablierung interdisziplinären Arbeitens einhergeht. Nicht selten erweitern Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftler nach Abschluss ihres Studiums ihr Wissen und ihre Fähigkeiten nicht nur in einer Disziplin. Interdisziplinär angelegte Forschungsprojekte führen zu einer ‚interdisziplinären Sozialisierung‘ und folglich werden wissenschaftliche Neulinge von Beginn an mit unterschiedlichen disziplinären Denkweisen und Kulturen geprägt.
Nach fast sieben Jahren interdisziplinärer Forschungstätigkeit im Bereich der empirischen veterinärmedizinischen Ethik, kann ich zugegebenermaßen sagen: Ich bin Forscherin. Doch bei der Zugehörigkeit der Disziplin habe ich das Gefühl, dass ich manchmal ‚zwischen den Stühlen bzw. Disziplinen stehe‘: Es bedarf ethischen Theorien, tiermedizinischen Fachwissens und einen sicheren Umgang mit sozialwissenschaftlichen Methoden in diesem Forschungsfeld.
Zweifelsohne bietet die Zugehörigkeit zu einer Disziplin Orientierung, welche das wissenschaftliche Selbstverständnis bestärkt. Jedoch denke ich, dass zukünftig mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Abschluss ihres Studiums zunehmend interdisziplinär in die akademische Welt hineinsozialisiert werden, was nicht selten zu selbstkritischen Fragen hinsichtlich ihrer (inter-)disziplinären Identität und akademischen Existenz führt. Fragen zur disziplinären Identität können anstrengend sein. Doch diese Fragen sind wichtig, und daher sollte in Zukunft mehr Raum zur Reflektion allzu rigider disziplinärer Grenzziehungen geboten werden. Dies fördert und stärkt meines Erachtens wiederum interdisziplinäres Arbeiten.
Referenzen
Dürnberger, M., Sedmak, C. (2004): Erfahrungen mit Interdisziplinarität. Working Papers theories & commitments. Zugriff online: https://www.uni-salzburg.at/fileadmin/multimedia/Zentrum_fuer_Ethik_und_Armutsforschung/documents/Working_Papers/Theories_And_Commitments/D%C3%BCrnbergerUA-Interdisziplinarit%C3%A4t.pdf.
Jungert, M. (2013): Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen zur Interdisziplinarität. In: Jungert, M., Romfeld, E., Sukopp, T. Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität – Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 1–12.
Jungert, M., Romfeld, E., Sukopp, T. Voigt, U. (2013): Interdisziplinarität – Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Popper, K. (2000; 1963): Vermutungen und Wiederlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Tübingen: Mohr Siebeck.
Sukopp, T. (2013): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte. In: Jungert, M., Romfeld, E., Sukopp, T. Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität – Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 13–30.
Vollmer, G. (2013): Interdisziplinarität – unerlässlich, aber leider unmöglich? In: Jungert, M., Romfeld, E., Sukopp, T. Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität – Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 61–7.