Wie können wir uns von den Fesseln der Identität befreien und den permanenten Krieg der Identitäten beenden?

Solange wir solche Geschichten über uns glauben, fällt es uns schwer, uns selbst und die anderen als das zu sehen, was wir tatsächlich sind: einzigartige Individuen.

    Wie können wir uns von den Fesseln der Identität befreien und den permanenten Krieg der Identitäten beenden?

    Vor kurzem erschien ein Bericht über eine Krankenschwester in einer Notfallstation in den USA, die im Internet mitteilte, dass tatsächlich häufiger dunkelhäutige Menschen eingeliefert würden, aber für sie als Krankenschwester selbstverständlich nicht nur „black lives matter“, sondern „all lives matter“ gelte. Die Folge war ein enormer Shitstorm, der auch Drohungen enthielt.

    Wie ist es möglich, dass eine Krankenschwester, die es als ihre Aufgabe ansieht, jedes Menschenleben zu retten, eine solche Feindseligkeit erfährt?

     

    Der Staatsrechtler Carl Schmitt, dessen Weltbild auf einem Freund – Feind – Denken beruhte, definierte den Feind als denjenigen, der das „Wir“ in Frage stellt.[1] Welches „Wir“ wurde also durch die Äußerung der Krankenschwester in Frage gestellt, dass sie in jedem Eingelieferten einen Menschen erblickt, dem geholfen werden muss?

     

    Offenbar wird in diesem Fall das „Wir“ derjenigen in Frage gestellt, die sich als Schwarze oder Farbige bezeichnen. Denn jedes „Wir“ lebt von der Abgrenzung vom Anderen und daher auch von anderen Menschen. Wenn man aber wie die Krankenschwester alle als Menschen wahrnimmt und auch so bezeichnet, dann wäre eine solche Abgrenzung nicht mehr möglich und das „Wir“, das einem bisher ein Gemeinschaftsgefühl vermittelte, würde nicht mehr existieren. Dies ruft natürlich eine Riesenangst und entsprechende Hassgefühle gegenüber denjenigen hervor, die dieses „Wir“ dadurch zu bedrohen scheinen, dass sie in jedem einen Menschen sehen.

     

    In der heutigen Zeit ist viel von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede. Man beklagt sich, dass innerhalb unserer Gesellschaft sich immer mehr Gruppen voneinander abschotten und kaum mehr miteinander kommunizieren würden. Dabei findet die Spaltung doch schon in dem Moment statt, wo man sich selber bezeichnet. Mit jeder Bezeichnung – egal ob als Deutsche(r), Engländer(in), Schwarze(r), Weiße(r), Muslim(in), Jude/Jüdin, Christ(in) - schließt man andere Menschen aus, macht sie zu „den Anderen“ und sich zum Angehörigen eines „Wir“.

    Wenn man Gedanken ungeprüft für wahr hält, haben sie Einfluss auf unser Fühlen und Handeln. Wenn man sich als Angehöriger eines „Wir“ sieht, dann führt das dazu, dass in einem ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. Und da das „Wir“ in der Regel mit der Vorstellung eines höheren Rangs verbunden ist, erhöht man damit auch noch sein Selbstwertgefühl. Diese Gefühle, die allein durch die Vorstellung hervorgerufen werden, man sei der Angehörige eines Kollektivs, haben aber einen hohen Preis für einen selber wie die Mitmenschen.

     

    Wenn Menschen mit einem solchen Gemeinschaftsgefühl sich begegnen, dann sehen sie einander nur noch als Vertreter von Kollektiven, und dies bedeutet, dass man die Einzigartigkeit von sich und dem Anderen gar nicht mehr wahrnimmt. So beklagen sich viele dunkelhäutige Menschen zunehmend darüber, dass sie nicht mehr als Individuen, sondern nur noch als Schwarze oder Farbige wahrgenommen werden, bemerken aber offenbar gar nicht, dass sie ihrerseits hellhäutige Menschen pauschal als Weiße betrachten und auch so bezeichnen. Den Menschen, die zur Zeit um Anerkennung von „Diversität“ kämpfen, geht es auch nicht darum, dass man die Einzigartigkeit jedes Menschen wahrnimmt und anerkennt, sondern nur darum, dass die Gemeinschaft, als deren Stellvertreter sie sich betrachten, in der Öffentlichkeit sichtbar wird.

     

    Wenn man sich und andere als Vertreter von Kollektiven ansieht, dann neigt man dazu, die Vertreter des jeweils anderen Kollektivs für die Taten all derjenigen Menschen verantwortlich zu machen, die dieser Gemeinschaft zugerechnet werden. Wenn man zum Beispiel eine helle Haut hat und deshalb als Vertreter „der Weißen“ betrachtet wird, kann man für all die Gewalttaten haftbar gemacht werden, die hellhäutige Menschen begangen haben und noch begehen.

     

    Vor allem aber kommt es immer wieder zu Feindseligkeiten zwischen den Menschen, die sich als Vertreter gegensätzlicher Gemeinschaften betrachten. Wenn man sich die Nachrichten anschaut, dann scheinen hellhäutige Menschen dunkelhäutige sowohl mit Worten wie auch Taten anzugreifen, während bei dunkelhäutigen Menschen zurzeit noch die verbalen Angriffe auf hellhäutige überwiegen, diese aber an Schärfe zunehmen.

    Was ist der Grund für diese Feindseligkeit? Ich denke, dass auch in diesem Fall derjenige als Feind angesehen wird, der das eigene „Wir“ in Frage stellt. Wieso aber sollten sich Menschen, die sich als Weiße bezeichnen, durch diejenigen in Frage gestellt sehen, die sie als Schwarze oder Farbige betrachten, und diese wiederum durch diejenigen, die in ihren Augen Weiße sind?

     

    Zunächst muss man feststellen, dass „schwarz“ und „weiß“ keine Beschreibungen von Hautfarben sind. Wenn die Hautfarbe tatsächlich der Grund dafür wäre, wie ein Mensch sich benennt, dann müssten alle Menschen sich Farbige nennen, weil die Haut jedes Menschen farbig ist. Es handelt sich vielmehr um Definitionen von sich und anderen, die – wie der Begriff Definition besagt – nur durch Abgrenzungen möglich sind.

     

    Heute spricht man statt von Schwarzen oder Farbigen von „People of Color“, abgekürzt PoC. PoC sollen all diejenigen sein, die keine „Weißen“ sind.[2] Entsprechend sollen „Weiße“ diejenigen sein, die keine „Farbigen“ sind. Das heißt aber auch: Um sich als Schwarzen oder Farbigen zu sehen und zu fühlen, braucht man unbedingt Weiße, und um sich als Weißen zu sehen und zu fühlen, unbedingt Farbige.

    Nun gibt es in der Wirklichkeit aber nur Menschen mit einer helleren oder dunkleren Haut. Wenn man Menschen mit einer hellen Haut als Weiße und solche mit einer dunklen Haut als Schwarze oder Farbige bezeichnet, dann meint man offenbar, man würde diese Menschen kennen. In Wahrheit verhält man sich aber wie jemand, der auf helle Behälter, deren Inhalt er nicht kennt, das Etikett „Weißer“ und auf dunkle Behälter, deren Inhalt ihm ebenfalls nicht bekannt ist, das Etikett „Schwarzer“ oder „Farbiger“ klebt und meint, die Etiketten seien Inhaltsangaben.

    Da all die Bezeichnungen, mit denen man andere Menschen versieht, nichts mit deren konkreter Wirklichkeit zu tun haben, wird damit das eigene „Wir“, das von der Etikettierung anderer Menschen abhängt, in Frage gestellt. Wenn Menschen diejenigen bedrohlich finden, die sie als „die Anderen“ betrachten, dann zeigt dies, dass sie im Grunde um die Abhängigkeit und Bedingtheit ihres „Wir“ wissen.

    „Mensch“ ist auch nur ein Etikett. Wenn alle sich nur noch als Menschen bezeichnen würden, hätte das aber den außerordentlichen Vorteil, dass Nationalismus, Rassismus, Islamismus und Antisemitismus nicht mehr möglich sind, die auf der Spaltung der Menschen in „Wir“ und „die Anderen“ beruhen. Allerdings lebt die Gemeinschaft der Menschen wiederum davon, dass sie die Umwelt als „das Andere“ betrachtet und sich gegenüber diesem „Anderen“ meist feindselig verhält.

    Am besten wäre es, wenn wir das dualistische „Wir – die Anderen“ - Denken ganz hinter uns ließen, das dauernde Kriege zwischen den Vertretern verschiedener „Wir“ zur Folge hat. Wie aber kann man ein solches Denken hinter sich lassen?

     

    Gedanken lassen einen dann los, wenn man sie in Frage stellt. Es gilt also, die Gedanken über sich und die anderen in Frage zu stellen, die man ungeprüft für wahr hält, insbesondere den Gedanken, den man als „meine Identität“ bezeichnet. Können Sätze der Form „Ich bin x“ (x = Deutsche(r), Engländer(in), Muslim(in) usw.) überhaupt auf Erfahrungen beruhen? Handelt es sich nicht vielmehr um Geschichten, die wir uns über uns selber erzählen und für wahr halten?

     

    Solange wir solche Geschichten über uns glauben, fällt es uns schwer, uns selbst und die anderen als das zu sehen, was wir tatsächlich sind: einzigartige Individuen. Wenn wir uns und die anderen ohne Etikettierungen und damit auch nicht mehr als angebliche Vertreter von unterschiedlichen Kollektiven wahrnehmen, dann zeigt sich, dass wir alle miteinander verbunden sind und schon immer eine wirkliche Gemeinschaft waren.




    [1] In seinen grundlegenden Werken wie „Der Begriff des Politischen“ von 1932, „Glossarium“ von 1949 und „Theorie des Partisanen“ von 1963 vertrat Carl Schmitt die Ansicht, dass ein „Wir“ überhaupt erst durch den Feind entsteht. Der Feind stellt das „Wir“ deshalb in Frage, weil es ohne ihn kein „Wir“ gäbe, sondern lediglich „ein Quantum von Individuen ohne jede innere, qualitative Einheit“.
    [2] Schaut man sich die augenblickliche Diskussion in den englischsprachigen Medien und im Internet an, so besteht zwar allgemeiner Konsens, dass PoC all diejenigen sein sollen, die keine „Weißen“ sind. Manche Menschen, die sich als „Schwarze“ betrachten, sind allerdings der Ansicht, dass sie in diesem allgemeinen Begriff verschwinden würden und man daher von BPoC, also „Black and People of Color“ sprechen müsse. Andere Diskussionsteilnehmer sind sogar der Ansicht, dass auch die Ureinwohner berücksichtigt werden müssten und daher nur BIPoC, also „Black, Indigenous and People of Color“ der angemessene Begriff sei.