Dieser Essay analysiert und erörtert das folgende Zitat von Theodor Adorno: «Wissenschaft als Ritual dispensiert vom Denken und von der Freiheit». Es soll gezeigt werden, dass Adornos These nur teilweise zutreffend ist, da eine bestimmte Form von Ritualisierung notwendig ist, um auf effektive und effiziente Weise zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen. Die radikale Ablehnung von rituellen Prozessen in der Wissenschaft würde also das Denken und besonders die Freiheit erheblich einschränken – nicht umgekehrt. In einem ersten Schritt soll das Zitat analysiert und dessen genaue Bedeutung ermittelt werden, in einem zweiten Schritt soll Stellung zu diesem genommen werden.
Um Adornos These präzise bewerten zu können, müssen erst einige zentrale Begrifflichkeiten geklärt werden. Wir wollen in diesem Essay «Wissenschaft» als die Gesamtheit aller empirischen Forschungsdisziplinen betrachten. Die empirischen Forschungsdisziplinen sind diejenigen Bereiche der Erkenntnisbeschaffung, die versuchen, aus Beobachtungen und gesammelten Daten auf analytische Weise Schlüsse zu ziehen – entweder über die natürliche, physische Welt (wie die Physik oder Biologie) oder die vom Menschen erschaffenen, geistigen, sozialen und kulturellen Konstrukte (wie die Geschichte oder die Geografie). Konkreter werden in diesem Essay also die modernen Natur – und Geisteswissenschaften betrachtet. Ein «Ritual» soll als ein von Menschen durchgeführter Prozess, der auf strengen, teilweise auch unbegründeten Regeln und Grundsätzen beruht, die von allen durchführenden Personen genauestens befolgt werden, definiert werden. Dieser Definition angehend kann argumentiert werden, dass auch die moderne, empirische wissenschaftliche Methode als Ritual, oder wenigstens als ritualähnlich, bzw. ritualisiert bezeichnet werden kann. Die wissenschaftliche Methode ist ein von Menschen durchgeführter Prozess, der auf strengen Regeln beruht, die von allen Wissenschaftler:innen der Welt aufs Genauste befolgt werden. Ob und inwiefern die wissenschaftliche Methode auch teilweise auf unbegründeten Grundsätzen beruht, soll später geklärt werden. An dieser Stelle kann jedoch festgehalten werden, dass die wissenschaftliche Methode zu einem bestimmten Grad als ritualisiert bezeichnet werden kann. In dieser Abhandlung soll der Begriff des «Denkens» als die Fähigkeit der eigenständigen Kognition definiert werden. Die «Freiheit» wollen wir als einen Zustand der Unbeinflusstheit und freien Entscheidungskraft definieren. Da im Kontext von Adornos These die Freiheit und das Denken in sehr enger Verbindung zueinander stehen, soll im Weiteren vom «freien Denken» die Rede sein, also der Kapazität der eigenständigen und unbeeinflussten Kognition.
Es soll nun als erstes gezeigt werden, dass eine ritualisierte Wissenschaft tatsächlich das freie Denken dispensiert oder dieses zumindest bis zu einem bestimmten Grad einschränkt. Hierzu wird zuerst erläutert, weshalb die wissenschaftliche Methode teilweise wirklich auf unbegründeten Grundsätzen beruht. Betrachtet man die moderne wissenschaftliche Methode in ihrer fundamentalsten Form (also bestehend aus dem Aufstellen von Hypothesen, dem Durchführen von Experimenten, der Auswertung von Daten und dem anschliessenden Ziehen von Schlüssen) so scheinen die Grundsätze, auf welchen sie beruht, rein logischer Natur zu sein. Zugegebenermassen gibt es logische Axiome, also auch hier unbegründete Grundsätze; diese sind jedoch dieselben, die auch das freie Denken in seinem innersten Kern bestimmen, und können so im Kontext dieser Diskussion nur schwer als tatsächlich unbegründet bezeichnet werden. Betrachtet man jedoch neben der allgemeinen wissenschaftlichen Methode die von den einzelnen Wissenschaften verwendeten Methoden - wir wollen diese «Paradigmen» nennen - so können einige unbegründete Grundsätze, die klar über die Axiome oder menschlichen Logik hinausgehen, erkannt werden. Beispielsweise können in der Psychologie die verwendete Forschungsmethode und die durchgeführten Experimente stark variieren, je nachdem ob ein behavioristisches Paradigma oder ein psychoanalytisches Paradigma verwendet wird. Betrachtet man diese Problematik zusätzlich aus sprachphilosophischer Perspektive, so können selbst die fundamentalsten Paradigmen der exaktesten Wissenschaften in Frage gestellt werden: Ist beispielsweise in der Physik nicht möglicherweise immer von Kräften die Rede, weil die allermeisten westlichen Sprachen stets einen Akteur, eine Handlung und ein Handlungsobjekt vorsehen? Da Wissenschaft zwangsläufig immer von menschlicher Sprache abhängig ist, ist es fraglich, ob es überhaupt Paradigmen frei von unbegründeten Grundsätzen geben kann.
Auch wenn es schwer ist, deren genaues Ausmass einzuschätzen, so kann doch klar gesagt werden, dass die Paradigmen der einzelnen Wissenschaften und somit auch die wissenschaftliche Methode teilweise auf unbegründeten Grundsätzen beruhen, die über rein logische Axiome hinausgehen. Wissenschaft kann also, selbst in ihrer empirischen Form, so wie sie in der modernen Welt durchgeführt wird, als Ritual betrachtet werden. Dass dies zu einem bestimmten Grad das freie Denken einschränkt, ist offensichtlich: Das freie Denken sollte sich lediglich nach der Logik richten – macht es Gebrauch eines Systems, das über unbegründete Grundsätze verfügt, die über die Logik hinausgehen, so beschneidet es sich selbst. Dass die ritualisierte Wissenschaft das freie Denken behindert, wird daher auch am klarsten dadurch ersichtlich, dass wissenschaftlicher Fortschritt oftmals mit einer Änderung der verwendeten Methode, bzw. des verwendeten Paradigmas einhergeht. Beispielsweise können Historiker:innen zu genaueren Ergebnissen gelangen, wenn sie die vorhandenen Paradigmen zur Quellenanalyse ausbessern und verfeinern. Ist selbst die moderne Wissenschaft und deren wissenschaftliche Methode nicht sogar genau dadurch entstanden, dass aus der bestehenden Methode, dem bestehenden Ritual ausgebrochen wurde? Descartes war ein freier Denker, nicht weil er sich zu Konformität gegenüber dem zu seiner Zeit gängigen Ritual entschieden hat, sondern weil er sich entschloss, dieses gänzlich niederzureissen und ein neues Fundament aufzubauen! Es ist folglich klar ersichtlich, dass Wissenschaft als Ritual das freie Denken bis zu einem bestimmten Grad einschränkt.
Als zweites soll nun gezeigt werden, weshalb eine ritualisierte Wissenschaft trotz all der Einschränkungen, die sie dem freien Denken aufbindet, dieses gesamthaft um ein Wesentliches stärkt. Hierzu muss erst untersucht werden, wie Menschen denken und wie Menschen zu Wissen gelangen. Wenn auch einzelne in der Geschichte im Alleingang enorme Beiträge zur Wissenschaft geleistet und einige der grössten Fragen überhaupt in Einsamkeit beantwortet haben, so standen selbst sie auf den Schultern ihrer Vorgänger:innen, und beriefen sich auf das von diesen bereits erkannte. Jede Erkenntnis, besonders in den Wissenschaften, jedoch ebenso in der Philosophie, wird als Kollektiv, als Gesellschaft erarbeitet. Menschen haben eine begrenzte Lebenszeit und daher beschränkte Kapazitäten – um als einzelne oder einzelner wirkliches Wissen zu erarbeiten, ist der Bezug zu dem bereits bestehenden, von anderen Menschen produzierten Wissen unvermeidbar. Ohne Austausch oder Kommunikation mit anderen ist der Erkenntnishorizont - das Wissen, das in einer Lebenszeit erreicht werden kann - so beschränkt, dass kaum von einem freien Denken die Rede sein kann.
Der Austausch von Wissen mit anderen ist also essenziell, um zu Erkenntnis zu gelangen – und somit auch von zentraler Wichtigkeit in der Wissenschaft. Eine der wohl effektivsten Massnahmen, um einen solchen Austausch zu ermöglichen, ist das Verwenden einer einheitlichen wissenschaftlichen Methode, die von allen Wissenschaftler:innen befolgt wird. Wie bereits erwähnt, ist die moderne wissenschaftliche Methode ein Ritual – und besonders unter Betrachtung der zuvor aufgeführten sprachphilosophischen Argumentation ist es fraglich, ob es überhaupt eine wissenschaftliche Methode geben kann, die kein Ritual ist. Wird also eine einheitliche wissenschaftliche Methode verwendet, so wird die Wissenschaft zum Ritual gemacht – das freie Denken wird also klarerweise eingeschränkt. Die Alternative würde sich jedoch weitaus drastischer auf das freie Denken auswirken; gäbe es keine einheitliche wissenschaftliche Methode, keine einheitlichen Paradigmen, wie würde Wissenschaft dann aussehen? Wie könnte sich ein Physiker aus Schweden auf eine Physikerin aus China beziehen, wenn diese gänzlich andere Paradigmen verwendet – in ihrer Arbeit nicht von Kräften, sondern von etwas ganz anderem schreibt? Der Austausch zwischen den beiden wäre unmöglich. Das Verwenden gemeinsamer Paradigmen und einer gemeinsamen wissenschaftlichen Methode, die auf unbegründeten Grundsätzen beruhen, schränkt das freie Denken klarerweise ein. Doch das freie Denken würde bedeutend stärker eingeschränkt werden, wenn keine einheitliche Methode, kein Ritual vorhanden und ein Austausch somit unmöglich wäre; denn das, was ohne das bereits erarbeitete Wissen anderer überhaupt gedacht werden kann, ist unfassbar gering. Eine ritualisierte Wissenschaft kann also als Errungenschaft betrachtet werden, die den Menschen gesamthaft ein freieres Denken ermöglicht.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Theodor Adornos These, Wissenschaft als Ritual dispensiere vom Denken und der Freiheit, nur begrenzt zutreffend ist. Die Ritualisierung von Wissenschaft schränkt das Denken und die Freiheit tatsächlich ein, eine Ablehnung dieser Ritualisierung würde sich jedoch noch viel einschneidender auf das Denken und die Freiheit auswirken. Grund hierfür ist, dass Wissenschaft als Ritual den einfachen Austausch zwischen Menschen ermöglicht, der für das Erlangen von Erkenntnis essenziell ist.
Dennoch sollte eine möglichst rationale und auf Logik basierte Wissenschaft angestrebt werden – sie ermöglicht Kommunikation und liefert gleichzeitig die unverfälschtesten Resultate. Ob jedoch eine wissenschaftliche Methode, die Gebrauch keiner unbegründeten Fundamente macht, möglich ist, ist fraglich.