Critical Thinking und Philosophie

Sie ist überall. Doch niemand spricht über sie (2).

     

    25 Jahre nach Inkrafttreten von MAR und Rahmenlehrplan ist Bewegung in die gymnasiale Bildung gekommen. Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife sind weiterhin breit akzeptierte Bildungsziele, doch unterschiedliche Entwicklungen legen mehr denn je nahe, Lernziele und -inhalte an Kompetenzen und Haltungen zu orientieren (z. B. Lehrplan 21, EVAMAR II). Dieser Beitrag möchte zeigen, dass wir unsere Bildungsziele nicht erreichen und die gymnasiale Bildung nicht weiterentwickeln können, ohne die Vermittlung argumentativer Fähigkeiten sicherzustellen.

     

    Argumentative Kompetenzen
    Adäquate argumentative Kompetenzen werden von beiden übergeordneten Bildungszielen vorausgesetzt. Erstens sind sie offensichtlich Teil der allgemeinen Studierfähigkeit, wie sie etwa Eberle im Bereich der erstsprachlichen Basiskompetenzen untersucht hat. Gemäss seinem Kurzbericht zuhanden der EDK werden diesen Fähigkeiten an den Universitäten grosses Gewicht verliehen (Eberle et al. 2015).

    Ebenso unumstritten unabdingbar sind solche Kompetenzen für unser zweites Bildungsziel. Was auch immer «vertiefte Gesellschaftsreife» genau bedeutet, und unabhängig davon, ob wir diesen Begriff eher gesellschaftsliberal («Autonomie») oder politisch verstehen («mündige Bürgerinnen und Bürger»), muss solche «Reife» die Haltung und Fähigkeit enthalten, sich kritisch zu informieren, Gründe abzuwägen und in Auseinandersetzung mit anderen rational und (selbst-)kritisch eigene Meinungen zu bilden.

    Sowohl in der Schweiz als auch international, wo dieses oder ein funktional ähnliches Bildungsziel fast überall akzeptiert ist (Eberle & Brüggenbrock 2013), werden diese Kompetenzen meist gefordert im Rahmen von Zielen, die mit dem Adjektiv «kritisch» charakterisiert sind: «kritisches Denken», «kritische Bürgerinnen und Bürger», «kritische Selbstreflexion» (vgl. Eberle & Brüggenbrock 2013, S. 27–28). Neuere sozialpsychologische Erkenntnisse in Bezug auf unsere Neigungen zu kognitiven Verzerrungen (z. B. Bestätigungs- und Konformitätsverzerrungen, post-hoc Selbstrechtfertigungen usw.) stützen diese Bestrebungen zusätzlich.

     

    Kritisches Denken
    Die traditionell längst anerkannte Bedeutung von kritischem Denken wird im Hinblick auf gegenwärtige und künftige mediale und gesellschaftliche Entwicklungen noch offenkundiger. Gemäss einer Studie von 2006 halten US-Arbeitgeber kritisches Denken für die wichtigste Haltung/Kompetenz potenzieller Angestellter, wichtiger als IT-Fähigkeiten – und 92% dieser Arbeitgeber beurteilen diese Fähigkeiten und Haltungen bei College-Abgängern als ungenügend (Davies & Barnett 2015a: 4).

    Diese Kompetenzen werden häufig mit dem Zustand öffentlicher Diskurse in Verbindung gebracht: Unsere Meinungsbildung scheint zunehmend geprägt von Polarisierung und Filterblasen, vermutlich verursacht oder verstärkt von sozialen Medien. «Wir hören uns die Argumente der Gegenseite nicht mal mehr an», wird dann etwa gesagt, «wir picken uns genehme Fake News wie Rosinen». Wenn Menschen sich radikalisieren, wenn wir auf unreflektierten Rassismus und Sexismus treffen, wenn emotional motivierte Impf- und Klimaskepsis weite Kreise ziehen können, dann sollten wir unsere Hoffnungen darauf setzen, dass wir an unseren Schulen sowohl die kritische und faire Auseinandersetzung mit Gegenpositionen als auch die kritische Selbstreflexion fördern können.

    In Bezug auf diese beiden Funktionen ist es wichtig, dass wir durch die traditionelle anti-dogmatische, aufklärerische Betonung der Kritik nicht vergessen, dass selbstständiges Denken und Handeln nicht nur darin besteht, Informationen kompetent zu filtern (also aus rationalen Gründen bestimmte Dinge nicht zu glauben), sondern auch darin, Meinungen rational zu bilden, orientiert an den Methoden und Inhalten der Wissenschaften und an begründeten Werten. Wir benötigen eine Menge Wissen, um konstruktiv zu zweifeln.

     

    Die Vermittlung von Kompetenzen und Haltungen
    Argumentative Kompetenzen (engl. abilities, skills) allein reichen letztlich aber nicht aus, um unsere Bildungsziele zu erreichen. Damit unsere Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, zu erkennen, unter welchen Umständen diese Kompetenzen angewandt werden können, und damit sie motiviert und fähig sind, diese wirklich anzuwenden – auch in alltäglichen, praktischen, politischen Kontexten, auch mit dem Abstand von einigen Monaten oder Jahren, auch entgegen ihren eigenen psychologischen Verzerrungen – müssen sie zusätzlich Haltungen (engl. dispositions, attitudes) erwerben.

    Für die Vermittlung von argumentativen Kompetenzen und Haltungen stehen grundsätzlich zwei Ansätze zur Verfügung: Gemäss dem «immersiven Zugang» (engl. infusion oder immersion approach) kann die kompetente Auseinandersetzung mit fachspezifischem Stoff auf andere Fachbereiche übertragen werden. Beim «allgemeinen Zugang» (engl. general approach) werden Fähigkeiten vermittelt, indem sie auch in allgemeiner Weise als solche benannt, erläutert und auf Beispiele aus dem lebensweltlichen, medialen und politischen Alltag angewendet und geübt werden (Ennis 1989). Diesen Ansatz finden wir etwa in Critical Thinking-Modulen, wie sie an angelsächsischen Colleges und zunehmend auch an unseren Universitäten verbreitet sind, im „Theory of Knowledge“ (TOK) Modul des International Baccalaureate und in einem argumentationstheoretisch ausgerichteten Philosophieunterricht.

     

    Didaktische und institutionelle Konsequenzen
    Nicht zuletzt deshalb, weil Haltungen schwer messbar sind, ist die aktuelle Datenlage zur Effektivität von institutionellen und didaktischen Umsetzungen unübersichtlich. Metaanalysen belegen zumindest, dass es im Vergleich zu rein immersiven Zugängen effektiver ist, bestimmte Lerneinheiten allgemein auf diese Kompetenzen auszurichten, mit Lehrpersonen, die für die Vermittlung der relevanten Kompetenzen ausgebildet sind und die explizite Bezüge zu argumentations- und wissenschaftstheoretischen Diskussionen herstellen (Abrami et al. 2008). Wir sollten also die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Fächer mit explizit argumentationstheoretisch und wissenschaftspropädeutisch ausgerichteten Modulen ergänzen, in denen nicht nur argumentiert, sondern das Argumentieren auch thematisiert und ausserhalb des jeweiligen Fachbereichs (lebensweltlich, politisch, ethisch) geübt und kritisch diskutiert wird.

    Hier ist die philosophische Argumentationstheorie mit ihrem Vokabular und ihren spezifischen Erklärungen und Begründungen gefragt (z. B. Brun & Hirsch Hadorn 2017; Pfister 2013). Mit ein wenig Distanz ist ja auch nicht einzusehen, warum eine Gymnasiastin über den grammatischen Begriff eines Indefinitpronomens verfügen muss, über den argumentationstheoretischen Begriff der deduktiven Gültigkeit aber nicht. Wenn also die Kompetenzen und Haltungen, die kritisches Denken, Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife ermöglichen, am Gymnasium effektiv vermittelt werden sollen, sollten das auch, aber nicht nur, argumentationstheoretisch ausgebildete Lehrpersonen in darauf ausgerichteten Lerneinheiten machen.

     

    Das Beispiel der Klimakrise
    In Bezug auf den anthropogenen Klimawandel sollten Schülerinnen zunächst Daten und Modelle kennenlernen, die Beziehung zwischen Daten und Modellen verstehen und die Modelle in Bezug auf ihren erklärenden oder vorhersagenden Nutzen bewerten können. Natürlich reicht Auswendiglernen nicht – nötig ist ein allgemeines, über Klimawissenschaft hinausgehendes Verständnis dessen, was eine systematische, glaubwürdige empirische Theorie ist und wie sie in Beziehung steht zu unserem Alltagsverständnis (z. B. von Wetter und Klima). Weil dies alles komplex ist, benötigen wir zusätzlich ein Bewusstsein dafür, wer die Expertinnen sind, warum wir ihnen in Bezug worauf trauen sollen, und was (finanzielle, ideologische) Motive für Klimaskepsis sind – gerade dann, wenn auch diese in wissenschaftlichem Gewand daherkommt.

    Darüber hinaus setzt eine reflektierte Position zur Klimakrise aber ein grundlegendes Verständnis des Verhältnisses zwischen der ökonomischen und politischen Sphäre voraus, zwischen Markt und Demokratie, wie auch eine Sensibilität für den Unterschied zwischen Begründungen deskriptiver und normativer Thesen («Sein-Sollen-Fehlschlüsse»): Selbst wenn wir (deskriptiv) verstanden haben, wie wir in dem Schlamassel landen konnten, wo wir jetzt sind – auf der Basis welcher Werte und Normen entscheiden wir, wie wir da rauskommen? Wir müssen den Unterschied zwischen rational und ethisch begründeten Entscheidungen kennen und uns bewusst sein, dass beide theoretisch abgestützt sein müssen. So ist es keine Übertreibung, zu sagen, dass alle diese Überlegungen im Spiel sind, wenn wir eine reflektierte, faktisch informierte und normativ abgestützte Antwort auf die Frage geben wollen, ob etwa gesetzliche Einschränkungen unseres Flugverhaltens gerechtfertigt wären.


    Bibliographie:


    Abrami P.C. et al. 2008. Instructional Interventions Affecting Critical Thinking Skills and Dispositions: A Stage 1 Meta-Analysis. Review of Educational Research 78 (4): 1102–1134.

    Brun, G., Hirsch Hadorn, G. 2017. Textanalyse in den Wissenschaften. Zürich: vdf.

    Davies, M., Barnett, R. 2015a. Introduction. In Davies/Barnett 2015b, 1–25.

    Davies, M., Barnett, R. (Hg.) 2015b. The Palgrave Handbook of Critical Thinking in Higher Education. New York: Palgrave McMillan.

    Eberle, F., Brüggenbrock, Ch. 2013. Bildung am Gymnasium. EDK Studien und Berichte 35A.

    Eberle, F., Brüggenbrock, Ch., Rüede, C., Weber, C., Albrecht, U. 2015 Basale fachliche Kompetenzen für allgemeine Studierfähigkeit in Mathematik und Erstsprache, Kurzbericht zuhanden der EDK, rev.

    Ennis, R.H. 1989. Critical Thinking and Subject Specificity: Clarification and Needed Research. Educational Researcher 18, 4–10.

    Hitchcock, D. 2015. The Effectiveness of Instruction in Critical Thinking. In Davies/Barnett 2015b, 283–294.

    Pfister, Jonas. 2013. Werkzeuge des Philosophierens. Stuttgart: Reclam.