Philosophieren mit Kindern und Erwachsenen

Was ist normal? Die Macht der Gewohnheit

    Pippi lebt in ihrem eigenen Haus. Sie lebt zusammen mit einem Pferd und einem Äffchen. Sie trägt viel zu grosse Schuhe und schläft mit den Füssen auf dem Kopfkissen. Am Morgen bleibt sie so lange im Bett, wie sie Lust hat, und geht nicht zur Schule. Tommy und Annika finden das seltsam. «Pippi», sagen sie, «das ist doch nicht normal, wie du lebst.» «Aber sicher ist das normal», entgegnet Pippi, «ich lebe doch immer so.» Ihre Freunde sind nicht einverstanden: «Normale Kinder ziehen sich ordentlich an und stehen rechtzeitig auf. Sie gehen zur Schule und machen, was die Erwachsenen sagen. Du solltest das auch so machen und ein normales Kind werden.» Darauf antwortet Pippi: «Ihr habt Recht! Ich sollte ein normales Kind werden. Und ich weiss auch, wie man das macht: Alle Kinder sollen sich von nun an so benehmen wie ich. Und wenn sich alle Kinder so benehmen wie ich, dann bin ich ein ganz normales Kind!»

     

    Was heisst «normal»?

    Normal ist, was der Norm entspricht. Anormal ist, was von der Norm abweicht. Was als normal gilt, wird durch Normen bestimmt. Normen sind verwandt mit Vorschriften, Regeln und Gesetzen. Sie sagen, wie etwas sein soll oder wie wir uns verhalten sollen. Normen sind auch der Massstab oder das Richtmass, nach dem wir Dinge und Verhaltensweisen beurteilen.

    Es gibt Normen in sehr unterschiedlichen Bereichen: soziale Normen, moralische Normen, Verhaltensnormen, Leistungsnormen, sprachliche Normen, Industrienormen, Lebensmittelnormen, technische Normen usw. Normen regulieren diese unterschiedlichen Bereiche, indem sie bestimmen, was als normal gilt. Wir sprechen sogar in Bezug auf die Natur von Normalität: Es gibt normales Wachstum, einen normalen Winter, normalen Blutdruck usw.

    Wie die Normen aussehen, hängt davon ab, welche Ziele und Interessen wir haben. Einen normalen Blutdruck wollen wir, weil wir gesund sein wollen; einen normalen Stecker wollen wir, weil er in die Steckdose passen soll; eine normale (normierte) Sprache wollen wir, weil wir uns verständigen wollen usw. Diese Ziele und Interessen machen den Sinn von Normen aus. Deshalb kann man fragen, ob bestimmte Normen sinnvoll sind.

     

    Alles normal

    Normal ist, was einer Norm entspricht. Nahezu alle Dinge, die wir im Alltag benutzen, entsprechen irgendwelchen Normen. Auch unser Verhalten im Alltag richtet sich fast durchwegs nach Normen, z.B. Arbeitszeiten, Fahrplänen, Kleidervorschriften, Lehrplänen, Benutzungsregeln, Abmachungen usw. Unser Alltag ist von Normen bestimmt und unser Alltag ist normal, soweit er von Normen bestimmt ist.

    Normen haben einen Zweck: Indem sie unseren Alltag regeln, machen sie das Leben wesentlich einfacher. Sie sorgen dafür, dass die Dinge zusammenpassen, dass alles reibungslos funktioniert, dass wir uns darauf verlassen können, dass alles so funktioniert, wie wir es möchten. Normen erzeugen Normalität, und Normalität sorgt dafür, dass die Dinge unseren Erwartungen entsprechen.

    Das gilt nicht nur für Dinge, sondern auch für unser Verhalten in der Gesellschaft. Unser Verhalten wird von vielerlei Normen bestimmt, sozialen, kulturellen, religiösen und moralischen. Wie beim Umgang mit Dingen wird dadurch unser Leben einfacher: Wenn wir uns alle nach Normen richten, wissen wir, was wir voneinander erwarten können, wir können uns aufeinander verlassen und wir müssen unser Handeln nicht immer wieder von Neuem untereinander abstimmen. Normen erzeugen also auch im Umgang miteinander Normalität. Diese Normalität macht das Zusammenleben einfacher, reibungsloser und konfliktfreier, einfach dadurch, dass wir bestimmte Dinge alle auf die gleiche Weise tun.

    Für Pippi spielt das keine Rolle, da sie in ihrem eigenen Haus lebt, einen Koffer voll Goldstücken hat und von der restlichen Gesellschaft fast unabhängig ist. Deshalb kann sie es sich leisten, ihre eigene individuelle Lebensweise als normal zu betrachten. Für ihre Freunde geht das nicht: Sie leben in einer Familie und gehen in die Schule. Deshalb müssen sie sich nach den Normen richten, die in diesen Kontexten gelten und die ein reibungsloses Zusammenleben ermöglichen. Individuelles und abweichendes Verhalten hat hier wenig Platz, da es schnell als störend, das Zusammenleben behindernd wahrgenommen würde.

     

    Alles normal?

    Normen sind Vorgaben, nach denen wir unser Verhalten ausrichten sollen, und gleichzeitig Massstäbe, nach denen unser Verhalten beurteilt wird. Das bedeutet aber, dass das Normale als das Richtige erscheint, das Abweichende als das Falsche. Anders gesagt: Alles, was nicht der Norm entspricht, wird als störend betrachtet und deshalb negativ beurteilt. Das ist manchmal auch sinnvoll: Stecker, die nicht in die Steckdose passen, sind nutzlos; Autofahrer:innen die sich nicht an die Vortrittsregeln halten, gefährden Fussgänger:innen; wer beim Kartenspiel dauernd betrügt, macht das Spiel kaputt. Wer von der Norm abweicht, gefährdet das reibungslose Zusammenleben. Deshalb wird abweichendes Verhalten mit negativen Folgen (Busse, Ausschluss vom Spiel) bestraft.

    Diese negativen Folgen sind manchmal gerechtfertigt, oft aber auch nicht. Ob sie gerechtfertigt sind, hängt vom Sinn der Normen ab. Unsere Normen und Vorstellungen von Normalität sind aber nicht immer sinnvoll. So haben wir eine Vorstellung von einer «normalen Familie» (Mann + Frau + Kinder), aber es gibt keinen Grund, dieses Familienmodell zur Norm zu erklären und abweichende Familienmodelle negativ zu behandeln. Auch ist es immer noch üblich, dass Frauen sich mehr um Familie und Haushalt kümmern und Männer berufstätig sind. Aber es darf nicht etwas zur Norm erklärt werden, nur weil es üblich ist. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist hellhäutig. Das ist aber keine Rechtfertigung dafür, Hellhäutigkeit zur Norm zu erklären und deshalb die dunkelhäutige Minderheit zu diskriminieren. Das heisst: Weitverbreitete Ansichten, übliche Verhaltensweisen oder bestehende Unterschiede können keine Normen rechtfertigen. Normen müssen durch ihren Sinn gerechtfertigt werden. Nur dann ist es auch gerechtfertigt, einen Unterschied zwischen normal und abweichend, richtig und falsch zu machen. Darum geht es, wenn Ausschluss und Diskriminierung vermieden werden soll: den Sinn von Normen sowie Vorstellungen von Normalität kritisch zu hinterfragen und auf ihre Rechtfertigung hin zu prüfen.

    Wie das geht, kann man ausprobieren, indem man das Gedankenspiel etwas weiterspielt: Was passiert, wenn Pippi in die Schule geht? Wie reagieren die Mitschüler:innen und die Lehrperson auf ihr Aussehen und ihr Verhalten? Wird sie ausgelacht und ausgeschlossen oder akzeptiert und integriert? Wie sehr darf sie mit ihrem individuellen Verhalten von der Normalität abweichen? Darf sie übergrosse Schuhe tragen? Darf sie ihr Äffchen mitbringen? Darf sie ein Pferd auf den Boden malen? Darf sie auf den Bänken herumspringen? Darf sie gehen, wenn sie keine Lust mehr hat? Und was passiert, wenn sich plötzlich alle Kinder wie Pippi verhalten? Ist das dann normal?