Der Nutzen der höchsten Würde des Menschen

Siegeressay Philosophie-Olympiade 22/23


    “Das Denken ist zwar die höchste Würde des Menschen; aber es ist eine leere, nur scheinbare Tätigkeit, wenn es nicht seinen Gegenstand erfasst, der nur die Welt sein kann.” - Simone Weil, Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung

     

    Vor rund zweihundert Jahren beschäftigten sich Mathematiker wir Lorentz und Riemann mit topologischen Objekten namens Mannigfaltigkeiten, Christoffel und Ricci mit der Tensor-Algebra, und alle dieser Mathematiker erzielten signifikante Fortschritte in ihren Gebieten. Doch die Behandlung solcher abstrakten Objekte, welche keinerlei Bezug zur Realität haben, kann niemals zur Verbesserung der Welt führen und somit sind diese Tätigkeiten nichts als Zeitverschwendung. Solch eine Meinung müsste man zumindest von Simone Weil erwarten, wenn man ihr Zitat: ”Das Denken ist zwar die höchste Würde des Menschen; aber es ist eine leere, nur scheinbare Tätigkeit, wenn es nicht seinen Gegenstand erfasst, der nur die Welt sein kann“, betrachtet. Denn was bringt es, wenn man seine Gedanken einem Thema widmet, welches keinerlei Nutzen für die Welt oder die Menschen hat? Die Antwort auf diese Frage liefert das Ende unserer kleinen Geschichte. Circa hundert Jahre nach den Fortschritten der Mathematik in den genannten Gebieten tauchte ein Mann auf, der sich vorstellte, wie es wohl wäre auf einem Lichtstrahl zu reiten. Auf dem Patentamt arbeitend kam ihm dann der Geistesblitz, und so eine der revolutionärsten Theorien der Physikgeschichte: die Relativitätstheorie. Dieser Mann hieß Albert Einstein und er wollte – um den berühmten Doktor zu zitieren – ”erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Einstein strebte die Geheimnisse des Universums zu erforschen und im Zuge seiner Überlegungen stellte er eine neue Theorie der Gravitation auf, welche unsere Welt grundlegend veränderte. (Man denke nur an die Unmöglichkeit, ohne die Erkenntnisse Einsteins ein GPS-System zu errichten.) Der große Physiker hatte jedoch ein Problem: Er musste seine Theorie, seine Überlegungen in die Sprache der Mathematik umwandeln, damit sie tatsächlich in der Welt angewandt werden könnten. Also sprach er seinen Freund, den Mathematiker Grassmann, der ihn dann auf die Arbeit Riemanns und Lorentz’, Riccis und Christoffels rund hundert Jahre zuvor verwies.

    Das Fazit der Geschichte ist, dass auch das Nachdenken ̈uber abstrakte Sachverhalte, die sich in keiner Weise auf die Welt beziehen – und die Intention dieser Mathematiker war es keinesfalls, die Physik, oder Ingenieurswissenschaften, oder aber auch die Welt per se zu f ̈ordern oder verbessern –, immer noch zum Fortschritt der Technik, zur Verbesserung der Welt führen können. In diesem Sinne hat Simone Weil unrecht, denn sie postuliert, dass das Denken nur dann sinnvoll ist, wenn es sich direkt auf die Welt bezieht.

    Nach dieser ersten Kritik soll das Zitat etwas umfänglicher betrachtet werden. Man bemerke, dass es im Wesentlichen drei Behauptungen enthält. Die Erste ist, dass das Denken die höchste Würde des Menschen ist; die Zweite, dass das Denken eine leere Tätigkeit ist, wenn es nicht seinen Gegenstand erfasst; und die Dritte, dass der Gegenstand des Denkens nur die Welt sein kann. Vorab soll angemerkt werden, dass die erste Behauptung durchaus anzuzweifeln ist. So könnte man beispielsweise argumentieren, dass das moralische Handeln die höchste Würde des Menschen sei, oder vielleicht sei es die Fähigkeit zu lieben. In diesem Essay soll die erste Aussage jedoch nicht behandelt werden. Folgend soll erforscht werden, was es bedeutet den Gegenstand des Denkens zu sein, ob das Denken sinnlos ist, wenn es diesen Gegenstand nicht erfasst, und ob es überhaupt möglich ist, mit dem Denken etwas zu erfassen, dass nicht dessen Gegenstand ist. Danach wird die dritte Behauptung, dass dieser Gegenstand nur die Welt sein könne, unter die Lupe genommen, wobei verschiedene Definition der Welt eingeführt werden, um die Frage präzise zu beantworten.

     

    Was ist der Gegenstand des Denkens? Ist es alles, was durch das Denken erfasst werden kann? Alles, was zu denken in einem gewissen Maße sinnvoll ist? Was heißt es denn, sinnvoll zu sein? Nach Weil müsste der Gegenstand des Denkens nicht einfach alles sein, das gedacht werden kann, denn die Aussage, das Denken sei eine leere Tätigkeit, wenn es nicht seinen Gegenstand erfasse, impliziert, dass auch anderes als der Gegenstand des Denkens kraft dessen erfassbar ist. Dies bedeutet, dass es in einem gewissen Maße sinnvoll ist, den Gegenstand des Denkens zu erfassen und sinnlos, über anderes nachzudenken. So soll der Gegenstand des Denkens als alles, worüber nachzudenken, sinnvoll ist, definiert werden. Wird dies getan, gilt die Aussage, dass es eine leere, nur scheinbare Tätigkeit sei, über etwas anderes nachzudenken, trivialerweise, jedoch ist noch nicht klar, was genau dieser Gegenstand des Denkens ist, oder sein muss.

    Weil behauptet, dass der Gegenstand des Denkens die Welt ist und nichts anderes es sein könnte. Hier stellen sich sofort drei Fragen: Was ist die Welt? Wieso ist diese der Gegenstand des Denkens? Wieso kann es nicht anders sein? Zur ersten Frage müssten die Skeptiker sagen, dass wir keinesfalls mit Sicherheit wissen können, was die Welt ist, die Idealisten würden sagen, dass die Welt per se nicht erfasst werden kann, sondern nur ein Abbild derer, nur Erscheinungen, oder sogar, dass es die materielle Welt nicht einmal gibt. Soll nun gegeben sein, dass wir wissen können, was die Welt ist. Was ist dann im Zitat gemeint? Ist es die materielle Welt? Oder muss hier ein Dualismus angenommen werden? Nimmt man an, dass bloß die materielle Welt gemeint ist, dann zeigt das Beispiel des Anfangs eindeutig, dass die Behauptung, die Welt sei der Gegenstand des Denkens, nicht allgemeingültig sein kann. Des Weiteren lassen sich viele solcher Beispiele finden, man denke an die komplexen Zahlen und die Quantenmechanik; die Knotentheorie und String Theory. Betrachtet man die Ideenlehre Platons, so könnte man sich fragen, ob die Welt das gleiche wie der Gegenstand des Denkens ist, falls man unter dem Begriff der Welt nicht bloß die materielle, sondern auch die Ideenwelt versteht. Mit der Ideenwelt soll eine nicht-materielle Welt gemeint sein, in der die Ideen an sich existieren, unabhängig von den Menschen. Diese Ideen sind Abstraktionen der Welt, wie beispielsweise die Idee eines Pferdes in einem gewissen Sinne die Pferd-Heit eines Pferdes erfasst und das Erkennen der Idee eines Pferdes es ermöglicht, Pferde in der Welt zu identifizieren und von anderen Tieren und Objekten zu unterscheiden. Das Erkennen solcher Ideen erfolgt durch das Zugreifen des Menschen auf diese Ideenwelt, was kraft des Verstandes, kraft des Denkens möglich ist. Die Mathematik würde gewiss unter diesen Begriff der Welt fallen und somit wären die durch das Anfangsbeispiel erzeugten Probleme gelöst. Das Nachdenken mit dem Zweck der Erkenntnis, mit dem Zweck des Zugreifens auf die Ideenwelt könnte als erfassen des Gegenstandes des Denkens, der Welt – und somit auch der Ideenwelt –, angesehen werden. Mit einer solchen Definition könnte man die Aussage Simone Weils verteidigen. Jedoch könnte man die Existenz der platonischen Ideenwelt anzweifeln.

    Einen Hinweis darauf, wie der Begriff der Welt verstanden werden muss, gibt der Titel des Werks, aus dem das Zitat stammt: ”Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung“. Dieser Titel lässt erraten, dass es sich hier um eine sehr realitätsnahe und praxisbezogene Abhandlung hält, was eine mögliche Paraphrase des Zitates in folgender Weise erlaubt: Das Denken ist zwar die höchste Würde des Menschen; aber es ist eine Verschwendung der Denkfähigkeit, wenn sie nicht für das Lösen realer Probleme genutzt wird. Doch auch dieser Ansatz wird vom Anfangsbeispiel zunichte gemacht, denn die Entwicklung der Mathematik dient keinesfalls dem Lösen realer Probleme, sondern nur dem Erweitern des mathematischen Verständnisses, und trotzdem ist die Mathematik unverzichtbar für die Naturwissenschaften, welche eine reale Verbesserung der Welt zum Ziele haben.

     

    Abschließend lässt sich also sagen, dass das Zitat grundsätzlich dreiteilig ist und somit drei Schwachpunkte aufweist, welche angefochten werden können. Um eine präzise Analyse durchzuführen müssen einzelne Begrifflichkeiten, wie ”Welt“ und ”Gegenstand des Denkens“ definiert werden. Wird die Welt als materiell angesehen, dann ist das Zitat nicht allgemeingültig. Bedient man sich einer platonischeren Sicht, so ist es möglich, das Zitat als allgemeingültig durchgehen zu lassen, jedoch muss die platonische Sichtweise verteidigt werden. Wird die Welt so aufgefasst, wie sie wahrscheinlich gemeint war, in einem pragmatischeren, praktischeren Sinne, dann weist diese Definition dieselbe Schwachstelle wie die materialistische Sicht auf. Diese Schwachstelle ist die wichtige Erkenntnis, dass das Nachdenken, das Erforschen abstrakter, völlig realitätsfremder Gedanken, Ideen und Konzepten, nicht mit der Hoffnung, dass sie je Anwendung finden, sondern nur aus dem Grund, dass sie Bewunderung verursachen, aus dem Grund, dass sie wunderschön sind, aus dem Grund – um Edmund Hillary zu paraphrasieren –, dass sie da sind, trotzdem auf indirektem Weg zur Verbesserung der Welt und der Leben der Menschen führen kann, und, dass es unzählige Beispiele gibt, in denen genau dies passiert ist. Der Nutzen der höchsten Würde des Menschen ist also nicht nur das Nachdenken über die Welt per se, sondern die Förderung aller geistigen Disziplinen, egal wie abstrakt und realitätsfremd sie denn sein mögen, da auch diese über lange Umwege zur Verbesserung der Leben der Mensch führen können